Nachhaltigkeit: Wahrheit oder Mythos?
Nachhaltig zu wirtschaften ist irgendwie gut für alle - so viel haben wir verstanden. Was aber verbirgt sich hinter diesem oft gehörten Begriff genau? Experten geben Auskunft über die zehn häufigsten Missverständnisse.
Die Begriffe "Bio" oder "Öko" machen es vor: Ist ein Ausdruck mit einem Mal in aller Munde, dürfte er in den meisten Fällen zur bloßen Worthülse verkommen sein. Doch wie steht es um das Wort "Nachhaltigkeit"? Auf den ersten Blick beschwört es kaum mehr herauf als die vage Vorstellung einer Sache, die "irgendwie gut für die Umwelt" ist. In Wirklichkeit ist dieser Begriff aber von so zentraler Bedeutung für unsere Zukunft, dass seine Allgegenwart gerechtfertigt ist. Auch wenn vom Automobilbau über Landwirtschaft bis hin zur Wirtschaft praktisch alles mit diesem Prädikat versehen werden kann – es ändert nichts daran: Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist schlicht und ergreifend so fundamental, dass es in all diesen Feldern mit Recht angewendet wird.
Doch so simpel die Idee der Nachhaltigkeit auch sein mag, oft mangelt es an einem tiefer gehenden Verständnis, wie Experten auf diesem Gebiet beklagen. Welche zehn Irrtümer ihnen am häufigsten begegnen, haben wir im Folgenden für Sie zusammengefasst. Der erste der weit verbreiteten Mythen steckte bereits in dieser Einleitung:
Mythos 1: "Kein Mensch weiß, was 'Nachhaltigkeit' eigentlich bedeuten soll."
In diesem Mythos steckt ausnahmsweise kein Körnchen Wahrheit. Das Wort "Nachhaltigkeit" selbst tauchte im 18. Jahrhundert zunächst in der Forstwirtschaft auf, seine Verbreitung in neuester Zeit verdankt es allerdings dem Report "Unsere gemeinsame Zukunft" der World Commision on Environment and Development der Vereinten Nationen. Nach der damaligen Kommissionsvorsitzenden, der Norwegerin Gro Harlem Brundtland, wird er auch als "Brundtland-Bericht" bezeichnet. Darin wird definiert: "Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Anders gesagt: Nimm nicht mehr, als dir zusteht!
Auch wenn man "Nachhaltigkeit" oder "sustainability", wie es im Englischen heißt, hauptsächlich aus dem Mund von Umweltschützern hört – der Umweltschutz selbst ist nicht Teil der Definition. Was wiederum direkt zu Punkt 2 führt. Richtig oder falsch: "Bei Nachhaltigkeit geht es hauptsächlich um die Umwelt"?
Mythos 2: "Bei Nachhaltigkeit geht es hauptsächlich um die Umwelt."
Der Brundtland-Bericht, auf den nicht nur das Wort selbst, sondern auch die gesamte moderne Nachhaltigkeitsbewegung zurückgeht, beschäftigte sich ursprünglich mit der Frage, wie ärmeren Ländern dabei geholfen werden kann,
Letzten Endes stammen natürlich all diese "Rohstoffe" in der einen oder anderen Form aus der Natur. Um es mit den Worten von Anthony Cortese zu sagen, dem Gründer und Präsident der Bildungsorganisation Second Nature, die sich der Förderung von Nachhaltigkeitsdenken verschrieben hat: "Die Wirtschaft ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Biosphäre: Die Biosphäre sorgt für alles, was zum Leben nötig ist. Sie nimmt unseren Abfall auf und bringt ihn wieder in eine Form, die wir nutzen können."
Wenn Ressourcen ineffizient genutzt werden oder so viel Müll produziert wird, dass die Umwelt mit ihrem eigenen Recycling nicht mehr hinterherkommt, werden die kommenden Generationen ihre Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können. Der Autor und Unternehmer Paul Hawken, der sich als einer der Ersten für mehr Nachhaltigkeit eingesetzt hat, macht einen ähnlichen Vergleich: "Wir stehlen die Zukunft, verkaufen sie in der Gegenwart und nennen das Ganze dann 'Bruttosozialprodukt'. So funktioniert unsere Wirtschaft."
Es müssen nicht zwangsläufig nur die Rohstoffquellen sein, die wir unseren Nachfahren wegnehmen. Wenn wir weiterhin CO2 freisetzen, haben unsere Folgegenerationen auf dem Umweg über den Klimawandel die Zeche zu zahlen. Gleiches gilt für alle anderen Giftstoffe, die bei der Herstellung von Produkten anfallen und dabei in die natürlichen Stoffkreisläufe gelangen.
Manche Beweggründe für nachhaltiges Wirtschaften sind allerdings weniger greif- und messbar, so zum Beispiel der Wert und die Schönheit unberührter Natur. Warum Menschen den Kontakt zur Natur brauchen und wie viel davon, ist einer wissenschaftlichen Untersuchung nur schwer zugänglich. "In den westlichen Gesellschaften sind Depression und Isolation auf dem Vormarsch. Die Rückbesinnung auf die Natur wird der wichtigste Weg sein, um wieder ein grundlegendes Maß an Lebensfreude herzustellen", sagt Nancy Gabriel vom Sustainability Institute in Hartland.
Der nächste Mythos klingt ähnlich, meint aber nicht ganz dasselbe: "Ist 'nachhaltig' nicht einfach ein anderes Wort für 'ökologisch'?"
Mythos 3: "Ist 'nachhaltig' nicht einfach ein anderes Wort für 'ökologisch'?"
Obwohl es freilich viele Überlappungen zwischen beiden Begriffen gibt, impliziert "ökologisch" in der Regel eine Bevorzugung des Natürlichen vor dem Künstlichen. Doch bei einer Weltbevölkerung von geschätzten neun Milliarden Menschen Mitte dieses Jahrhunderts werden wir einen einigermaßen hohen Lebensstandard für alle nur über den umfangreichen Einsatz von Technologie gewährleisten können. Elektroautos, Windkrafträder und Solarzellen haben nichts "Natürliches" an sich, könnten es aber dennoch eines Tages erlauben, dass eine große Anzahl von Menschen umweltfreundlich ihre Häuser heizt und Essen kocht.
Noch schwieriger wird es bei der Frage nach der Nachhaltigkeit der Atomkraft: Lange Zeit galt ihre Befürwortung unter Naturschützern als regelrechte Todsünde, insbesondere auf Grund des radioaktiven Mülls, der bei ihrem Einsatz anfällt. Doch Atomkraft kann auch eine hocheffiziente Energiequelle sein. Sie stößt kaum Treibhausgase aus, und neuartige Meiler erzeugen deutlich weniger Abfall. Aus diesem Grund rührt mittlerweile sogar Patrick Moore, einstiger Mitbegründer von Greenpeace, die Werbetrommel für Atomstrom, und andere Umweltschützer sind, nicht selten zähneknirschend, auf seinen Kurs eingeschwenkt. Atomkraft ist definitiv nicht "öko", über ihre Nachhaltigkeit lässt sich jedoch streiten.
Mythos 4: "Alles dreht sich ums Recycling."
"Das bekomme ich oft zu hören", sagt Shana Weber von der Princeton University. "Die Umweltschutzbewegung der frühen 1970er Jahre hat es geschafft, die Notwendigkeit von Recycling tief im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern."
Dennoch ist Recycling nur ein einziger Puzzlestein. "Als Nachhaltigkeitsbeauftragte der Universität arbeite ich natürlich auch mit den Verantwortlichen für das Recycling-Programm zusammen", sagt Weber, "genauso wie mit dem Einkauf, den Mensabetreibern und dem Reinigungspersonal. Die wichtigsten Bereiche, in denen es auf Nachhaltigkeit ankommt, sind Energie und Transport." Wer glaubt, nachhaltig zu leben, weil er Müll trennt, dem rät sie, noch einmal nachzudenken.
Mythos 5: "Eine nachhaltige Wirtschaftsweise ist zu teuer."
Wenn das Konzept der Nachhaltigkeit wirklich einen entscheidenden Knackpunkt hat, dann verbirgt er sich hinter diesem Mythos. Denn er ist, wie Nancy Gabriel vom Sustainability Institute zugibt, "zumindest teilweise wahr". Aber eben nur teilweise. "Für kurzfristige Investitionen mag das gelten", findet auch Second-Nature-Präsident Cortese, "nicht aber auf lange Sicht." Das Problem entstehe dadurch, dass die Mehrzahl der bestehenden Systeme nicht auf Nachhaltigkeit ausgelegt sei. Wer seine Produktionsanlagen oder die eigene Zentralheizung umstellen will, muss in Vorlage gehen.
Diesen ersten Schritt zu machen, fällt zahlungskräftigen Unternehmen oder auch staatlichen Einrichtungen naturgemäß leichter als Einzelpersonen. Doch die Investitionen zahlen sich aus: "Der Chemiekonzern DuPont hat im Verlauf der letzten sieben Jahre in Anlagen investiert, mit denen er seinen Ausstoß an Treibhausgasen verglichen mit 1990 um 72 Prozent verringern konnte. Letztendlich brachte ihm das eine Ersparnis von zwei Milliarden Dollar ein", sagt Cortese.
Mythos 6: "Nachhaltigkeit bedeutet einen niedrigeren Lebensstandard."
Nicht einmal annähernd wahr ist dieser Mythos. Zwar stimme es, wie Vordenker Hawken sagt, dass "aus weniger mehr" gemacht werden müsse. "Aber sobald wir die grundlegende Neuausrichtung geschafft haben und unsere Technologie vor diesem Hintergrund weiterentwickeln, werden wir immer wieder außergewöhnliche Durchbrüche erzielen. Im Endeffekt wird die Produktivität steigen und dabei für Wohlstand, Nahrung, Kleidung und Sicherheit sorgen." Nicht nur Hawken sieht in den notwendigen Innovationen einen bedeutenden Antrieb für die Wirtschaft: "Klimaschutz ist der größte Jobmotor, den wir derzeit haben."
Mythos 7: "Nur das Verhalten der Kunden an der Ladentheke kann schnell und effektiv einen Wandel herbeiführen."
Aktionen von Umweltaktivisten und anderen engagierten Privatleuten sind hilfreich und letztendlich unverzichtbar. Geht es allerdings um Bereiche wie die Verringerung des CO2-Ausstoßes, kann es nur Fortschritte geben, wenn Behörden aktiv werden – etwa indem sie die entscheidenden Schritte für eine Besteuerung einleiten oder neue Vorschriften und Umweltstandards entwickeln.
Vielen Befürwortern eines sich selbst regulierenden Marktes sind solche Forderungen ein Dorn im Auge. Doch nicht selten steht hinter ihrer Einstellung auch die stillschweigende Annahme, dass für die Schäden, die durch Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung entstehen, niemand zur Kasse gebeten werden wird – zumindest jedenfalls nicht sie selbst.
Um nur ein Beispiel zu geben: Sogar bei optimistischen Schätzungen sind Umweltzerstörungen infolge des Klimawandels in naher Zukunft nicht mehr abwendbar – Veränderungen in der jährlichen Niederschlagsmenge werden beispielsweise die Landwirtschaft behindern, dicht besiedelte Küstengebiete werden einem ansteigenden Meeresspiegel zum Opfer fallen.
Zwar mag eine Steuer auf jede Tonne Kohlendioxid unpopulär sein, nur so würden jedoch die tatsächlich anfallenden Kosten berücksichtigt. Was derzeit noch für "Verschmutzungsrechte" zu bezahlen ist, deckt diese Folgekosten bei Weitem nicht ab.
Gegen Eingriffe in einen freien Markt wird oft das Argument vorgebracht, Konsumenten würden auf steigende Preise zwangsläufig mit einer verantwortungsvolleren Nutzung von Ressourcen reagieren. Doch wenn es einmal so weit ist, kann die plötzliche Umstellung alle teuer zu stehen kommen: So durchlebt die Automobilbau-Branche in letzter Zeit heftige Turbulenzen, weil lange versäumt wurde, Sprit sparende Modelle auf den Markt zu bringen. Als dann der Erdölpreis in die Höhe schoss, brachen in gleichem Maße die Verkaufszahlen ein. Die Verbraucher haben also ihr Verhalten geändert, die Folgen für einen der größten Industriezweige der Welt waren desaströs.
Unbestreitbar ist allerdings, dass der Anstieg der Energiepreise in den vergangenen Jahren Forschung und Entwicklung im Bereich Alternativer Energien angefeuert hat. Liegt die Antwort also immer in neuer Technologie? Mythos 8: "Nur neue Technologie kann uns retten."
Dieser Mythos ist ebenfalls nur teilweise wahr. Als Barack Obama im Wahlkampf darauf hinwies, dass sich mit richtig eingestelltem Reifendruck am Auto mehrere Millionen Liter Benzin sparen ließen, machten sich die Republikaner über seinen vermeintlich allzu simplen Vorschlag lustig. Gleiches erlebte auch Jimmy Carter, der zu Zeiten der Ölkrise Ende der 1970er Jahre zu einem Interview demonstrativ im Pullover erschien. Doch sowohl Carter als auch Obama hatten Recht. Inzwischen hat auch der republikanische Gouverneur Arnold Schwarzenegger seinen Landsleuten geraten, auf ihren Reifendruck zu achten.
Anders gesagt: Manchmal reicht es auch, bestehende Technologie überlegt einzusetzen. Der israelische Unternehmer Shai Agassi versucht, die Reichweite von Elektroautos zu steigern, ohne dafür gleich eine neue Superbatterie zu erfinden. Weil es derzeit noch viel länger dauert, eine Batterie aufzuladen, als etwa Benzin zu tanken, schlägt er ein Netz aus Batteriewechselstationen vor. Dort werden die leer gefahrenen Akkus einfach durch volle ersetzt. Israel und Dänemark starten nun ein Pilotprojekt, das die Umsetzbarkeit von Agassis Vorschlag überprüfen soll.
Mythos 9: "Würde man endlich den weltweiten Bevölkerungszuwachs stoppen, wäre Nachhaltigkeit überhaupt kein Thema mehr."
Natürlich ist an diesem Mythos etwas Wahres dran: Jedes Umweltproblem hängt letzten Endes mit der Bevölkerungsgröße zusammen. Gäbe es nur ein paar Millionen Menschen auf der Erde, müssten wir uns sehr anstrengen, um die Kreisläufe und Reparaturmechanismen der Natur aus dem Tritt zu bringen. Doch eine sinnvolle Alternative zur Nachhaltigkeit verbirgt sich hinter dieser Erkenntnis nicht.
Verzichtet man auf Radikalmaßnahmen wie die chinesische Ein-Kind-Politik, wird sich das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern nur verlangsamen lassen, wenn genügend für die Bildung von Frauen getan und gleichzeitig der Lebensstandard erhöht wird. In einem überschaubaren Zeitraum dürften solche Programme allerdings keinen merklichen Einfluss haben. Bereits jetzt, bei einer Bevölkerungszahl von sechseinhalb Milliarden Menschen, verbrauchen wir Ressourcen in einem Maß, das uns in Zukunft Probleme bereiten wird. Mythos 10: "Wenn man erst einmal verstanden hat, worum es bei der Nachhaltigkeit geht, läuft der Rest wie von selbst."
Leider entpuppt sich manche gut gemeinte Lösung als Schuss, der nach hinten losgeht. Bestes Beispiel ist der anhaltende Trend zu Biokraftstoffen. Mais etwa ist ein nachwachsender Rohstoff und setzt bei seiner Verbrennung nur die Menge an Kohlenstoff frei, die er während seines Wachstums aufgenommen hat. Behörden, die die massenhafte Verarbeitung von Mais zu Ethanol förderten, um den Kraftstoff herkömmlichem Benzin beizumischen, waren aber letztendlich schlecht beraten. In Ländern wie Mexiko schossen die Lebensmittelpreise auf Grund gestiegener Maisnachfrage in die Höhe, und andernorts wurde Regenwald zu Gunsten neuer Ackerflächen abgeholzt, die vergleichsweise mehr Treibhausgase freisetzen. Zwar mag die Einsparung an CO2, die der Biotreibstoff bringt, den Verlust an Biomasse wettmachen – bis es allerdings so weit ist, dürfte es bereits zu spät sein.
Kein neues Verfahren verdient das Prädikat "nachhaltig", solange nicht seine Kosten und Nutzen für Mensch, Natur und Klima bis ins Detail kalkuliert wurden. Und selbst dann noch können uns bis dato unvorhergesehene Folgeerscheinungen einen Strich durch die Rechnung machen. Nur wer bereit ist, permanent nach den Folgen seines Handelns zu fragen, kann wirklich nachhaltig leben.
Der Originalartikel erschien in Scientific American Earth 3.0, März 2009
Deutsche Bearbeitung: Jan Dönges
Doch so simpel die Idee der Nachhaltigkeit auch sein mag, oft mangelt es an einem tiefer gehenden Verständnis, wie Experten auf diesem Gebiet beklagen. Welche zehn Irrtümer ihnen am häufigsten begegnen, haben wir im Folgenden für Sie zusammengefasst. Der erste der weit verbreiteten Mythen steckte bereits in dieser Einleitung:
Mythos 1: "Kein Mensch weiß, was 'Nachhaltigkeit' eigentlich bedeuten soll."
In diesem Mythos steckt ausnahmsweise kein Körnchen Wahrheit. Das Wort "Nachhaltigkeit" selbst tauchte im 18. Jahrhundert zunächst in der Forstwirtschaft auf, seine Verbreitung in neuester Zeit verdankt es allerdings dem Report "Unsere gemeinsame Zukunft" der World Commision on Environment and Development der Vereinten Nationen. Nach der damaligen Kommissionsvorsitzenden, der Norwegerin Gro Harlem Brundtland, wird er auch als "Brundtland-Bericht" bezeichnet. Darin wird definiert: "Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können." Anders gesagt: Nimm nicht mehr, als dir zusteht!
Auch wenn man "Nachhaltigkeit" oder "sustainability", wie es im Englischen heißt, hauptsächlich aus dem Mund von Umweltschützern hört – der Umweltschutz selbst ist nicht Teil der Definition. Was wiederum direkt zu Punkt 2 führt. Richtig oder falsch: "Bei Nachhaltigkeit geht es hauptsächlich um die Umwelt"?
Mythos 2: "Bei Nachhaltigkeit geht es hauptsächlich um die Umwelt."
Der Brundtland-Bericht, auf den nicht nur das Wort selbst, sondern auch die gesamte moderne Nachhaltigkeitsbewegung zurückgeht, beschäftigte sich ursprünglich mit der Frage, wie ärmeren Ländern dabei geholfen werden kann,
"Wir stehlen die Zukunft, verkaufen sie in der Gegenwart und nennen das Ganze dann 'Bruttosozialprodukt'."
Paul Hawken
in puncto Lebensstandard mit den reicheren gleichzuziehen. Dabei wurde das Ziel formuliert, benachteiligten Nationen den Zugang zu Bodenschätzen und anderen natürlichen Ressourcen wie Wasser, Energie und Nahrung zu erleichtern. Paul Hawken
Letzten Endes stammen natürlich all diese "Rohstoffe" in der einen oder anderen Form aus der Natur. Um es mit den Worten von Anthony Cortese zu sagen, dem Gründer und Präsident der Bildungsorganisation Second Nature, die sich der Förderung von Nachhaltigkeitsdenken verschrieben hat: "Die Wirtschaft ist eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Biosphäre: Die Biosphäre sorgt für alles, was zum Leben nötig ist. Sie nimmt unseren Abfall auf und bringt ihn wieder in eine Form, die wir nutzen können."
Wenn Ressourcen ineffizient genutzt werden oder so viel Müll produziert wird, dass die Umwelt mit ihrem eigenen Recycling nicht mehr hinterherkommt, werden die kommenden Generationen ihre Bedürfnisse nicht mehr befriedigen können. Der Autor und Unternehmer Paul Hawken, der sich als einer der Ersten für mehr Nachhaltigkeit eingesetzt hat, macht einen ähnlichen Vergleich: "Wir stehlen die Zukunft, verkaufen sie in der Gegenwart und nennen das Ganze dann 'Bruttosozialprodukt'. So funktioniert unsere Wirtschaft."
Es müssen nicht zwangsläufig nur die Rohstoffquellen sein, die wir unseren Nachfahren wegnehmen. Wenn wir weiterhin CO2 freisetzen, haben unsere Folgegenerationen auf dem Umweg über den Klimawandel die Zeche zu zahlen. Gleiches gilt für alle anderen Giftstoffe, die bei der Herstellung von Produkten anfallen und dabei in die natürlichen Stoffkreisläufe gelangen.
Manche Beweggründe für nachhaltiges Wirtschaften sind allerdings weniger greif- und messbar, so zum Beispiel der Wert und die Schönheit unberührter Natur. Warum Menschen den Kontakt zur Natur brauchen und wie viel davon, ist einer wissenschaftlichen Untersuchung nur schwer zugänglich. "In den westlichen Gesellschaften sind Depression und Isolation auf dem Vormarsch. Die Rückbesinnung auf die Natur wird der wichtigste Weg sein, um wieder ein grundlegendes Maß an Lebensfreude herzustellen", sagt Nancy Gabriel vom Sustainability Institute in Hartland.
Der nächste Mythos klingt ähnlich, meint aber nicht ganz dasselbe: "Ist 'nachhaltig' nicht einfach ein anderes Wort für 'ökologisch'?"
Mythos 3: "Ist 'nachhaltig' nicht einfach ein anderes Wort für 'ökologisch'?"
Obwohl es freilich viele Überlappungen zwischen beiden Begriffen gibt, impliziert "ökologisch" in der Regel eine Bevorzugung des Natürlichen vor dem Künstlichen. Doch bei einer Weltbevölkerung von geschätzten neun Milliarden Menschen Mitte dieses Jahrhunderts werden wir einen einigermaßen hohen Lebensstandard für alle nur über den umfangreichen Einsatz von Technologie gewährleisten können. Elektroautos, Windkrafträder und Solarzellen haben nichts "Natürliches" an sich, könnten es aber dennoch eines Tages erlauben, dass eine große Anzahl von Menschen umweltfreundlich ihre Häuser heizt und Essen kocht.
Noch schwieriger wird es bei der Frage nach der Nachhaltigkeit der Atomkraft: Lange Zeit galt ihre Befürwortung unter Naturschützern als regelrechte Todsünde, insbesondere auf Grund des radioaktiven Mülls, der bei ihrem Einsatz anfällt. Doch Atomkraft kann auch eine hocheffiziente Energiequelle sein. Sie stößt kaum Treibhausgase aus, und neuartige Meiler erzeugen deutlich weniger Abfall. Aus diesem Grund rührt mittlerweile sogar Patrick Moore, einstiger Mitbegründer von Greenpeace, die Werbetrommel für Atomstrom, und andere Umweltschützer sind, nicht selten zähneknirschend, auf seinen Kurs eingeschwenkt. Atomkraft ist definitiv nicht "öko", über ihre Nachhaltigkeit lässt sich jedoch streiten.
Mythos 4: "Alles dreht sich ums Recycling."
"Das bekomme ich oft zu hören", sagt Shana Weber von der Princeton University. "Die Umweltschutzbewegung der frühen 1970er Jahre hat es geschafft, die Notwendigkeit von Recycling tief im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern."
"Wer glaubt, nachhaltig zu leben, weil er seinen Müll trennt, sollte noch einmal nachdenken."
Shana Weber
Und natürlich sei es wichtig, Materialen wiederzuverwenden, um die Belastungen für natürliche Rohstoffquellen so niedrig wie möglich zu halten. Shana Weber
Dennoch ist Recycling nur ein einziger Puzzlestein. "Als Nachhaltigkeitsbeauftragte der Universität arbeite ich natürlich auch mit den Verantwortlichen für das Recycling-Programm zusammen", sagt Weber, "genauso wie mit dem Einkauf, den Mensabetreibern und dem Reinigungspersonal. Die wichtigsten Bereiche, in denen es auf Nachhaltigkeit ankommt, sind Energie und Transport." Wer glaubt, nachhaltig zu leben, weil er Müll trennt, dem rät sie, noch einmal nachzudenken.
Mythos 5: "Eine nachhaltige Wirtschaftsweise ist zu teuer."
Wenn das Konzept der Nachhaltigkeit wirklich einen entscheidenden Knackpunkt hat, dann verbirgt er sich hinter diesem Mythos. Denn er ist, wie Nancy Gabriel vom Sustainability Institute zugibt, "zumindest teilweise wahr". Aber eben nur teilweise. "Für kurzfristige Investitionen mag das gelten", findet auch Second-Nature-Präsident Cortese, "nicht aber auf lange Sicht." Das Problem entstehe dadurch, dass die Mehrzahl der bestehenden Systeme nicht auf Nachhaltigkeit ausgelegt sei. Wer seine Produktionsanlagen oder die eigene Zentralheizung umstellen will, muss in Vorlage gehen.
Diesen ersten Schritt zu machen, fällt zahlungskräftigen Unternehmen oder auch staatlichen Einrichtungen naturgemäß leichter als Einzelpersonen. Doch die Investitionen zahlen sich aus: "Der Chemiekonzern DuPont hat im Verlauf der letzten sieben Jahre in Anlagen investiert, mit denen er seinen Ausstoß an Treibhausgasen verglichen mit 1990 um 72 Prozent verringern konnte. Letztendlich brachte ihm das eine Ersparnis von zwei Milliarden Dollar ein", sagt Cortese.
Mythos 6: "Nachhaltigkeit bedeutet einen niedrigeren Lebensstandard."
Nicht einmal annähernd wahr ist dieser Mythos. Zwar stimme es, wie Vordenker Hawken sagt, dass "aus weniger mehr" gemacht werden müsse. "Aber sobald wir die grundlegende Neuausrichtung geschafft haben und unsere Technologie vor diesem Hintergrund weiterentwickeln, werden wir immer wieder außergewöhnliche Durchbrüche erzielen. Im Endeffekt wird die Produktivität steigen und dabei für Wohlstand, Nahrung, Kleidung und Sicherheit sorgen." Nicht nur Hawken sieht in den notwendigen Innovationen einen bedeutenden Antrieb für die Wirtschaft: "Klimaschutz ist der größte Jobmotor, den wir derzeit haben."
Mythos 7: "Nur das Verhalten der Kunden an der Ladentheke kann schnell und effektiv einen Wandel herbeiführen."
Aktionen von Umweltaktivisten und anderen engagierten Privatleuten sind hilfreich und letztendlich unverzichtbar. Geht es allerdings um Bereiche wie die Verringerung des CO2-Ausstoßes, kann es nur Fortschritte geben, wenn Behörden aktiv werden – etwa indem sie die entscheidenden Schritte für eine Besteuerung einleiten oder neue Vorschriften und Umweltstandards entwickeln.
Vielen Befürwortern eines sich selbst regulierenden Marktes sind solche Forderungen ein Dorn im Auge. Doch nicht selten steht hinter ihrer Einstellung auch die stillschweigende Annahme, dass für die Schäden, die durch Ressourcenverschwendung und Umweltbelastung entstehen, niemand zur Kasse gebeten werden wird – zumindest jedenfalls nicht sie selbst.
Um nur ein Beispiel zu geben: Sogar bei optimistischen Schätzungen sind Umweltzerstörungen infolge des Klimawandels in naher Zukunft nicht mehr abwendbar – Veränderungen in der jährlichen Niederschlagsmenge werden beispielsweise die Landwirtschaft behindern, dicht besiedelte Küstengebiete werden einem ansteigenden Meeresspiegel zum Opfer fallen.
Zwar mag eine Steuer auf jede Tonne Kohlendioxid unpopulär sein, nur so würden jedoch die tatsächlich anfallenden Kosten berücksichtigt. Was derzeit noch für "Verschmutzungsrechte" zu bezahlen ist, deckt diese Folgekosten bei Weitem nicht ab.
Gegen Eingriffe in einen freien Markt wird oft das Argument vorgebracht, Konsumenten würden auf steigende Preise zwangsläufig mit einer verantwortungsvolleren Nutzung von Ressourcen reagieren. Doch wenn es einmal so weit ist, kann die plötzliche Umstellung alle teuer zu stehen kommen: So durchlebt die Automobilbau-Branche in letzter Zeit heftige Turbulenzen, weil lange versäumt wurde, Sprit sparende Modelle auf den Markt zu bringen. Als dann der Erdölpreis in die Höhe schoss, brachen in gleichem Maße die Verkaufszahlen ein. Die Verbraucher haben also ihr Verhalten geändert, die Folgen für einen der größten Industriezweige der Welt waren desaströs.
Unbestreitbar ist allerdings, dass der Anstieg der Energiepreise in den vergangenen Jahren Forschung und Entwicklung im Bereich Alternativer Energien angefeuert hat. Liegt die Antwort also immer in neuer Technologie? Mythos 8: "Nur neue Technologie kann uns retten."
Dieser Mythos ist ebenfalls nur teilweise wahr. Als Barack Obama im Wahlkampf darauf hinwies, dass sich mit richtig eingestelltem Reifendruck am Auto mehrere Millionen Liter Benzin sparen ließen, machten sich die Republikaner über seinen vermeintlich allzu simplen Vorschlag lustig. Gleiches erlebte auch Jimmy Carter, der zu Zeiten der Ölkrise Ende der 1970er Jahre zu einem Interview demonstrativ im Pullover erschien. Doch sowohl Carter als auch Obama hatten Recht. Inzwischen hat auch der republikanische Gouverneur Arnold Schwarzenegger seinen Landsleuten geraten, auf ihren Reifendruck zu achten.
Anders gesagt: Manchmal reicht es auch, bestehende Technologie überlegt einzusetzen. Der israelische Unternehmer Shai Agassi versucht, die Reichweite von Elektroautos zu steigern, ohne dafür gleich eine neue Superbatterie zu erfinden. Weil es derzeit noch viel länger dauert, eine Batterie aufzuladen, als etwa Benzin zu tanken, schlägt er ein Netz aus Batteriewechselstationen vor. Dort werden die leer gefahrenen Akkus einfach durch volle ersetzt. Israel und Dänemark starten nun ein Pilotprojekt, das die Umsetzbarkeit von Agassis Vorschlag überprüfen soll.
Mythos 9: "Würde man endlich den weltweiten Bevölkerungszuwachs stoppen, wäre Nachhaltigkeit überhaupt kein Thema mehr."
Natürlich ist an diesem Mythos etwas Wahres dran: Jedes Umweltproblem hängt letzten Endes mit der Bevölkerungsgröße zusammen. Gäbe es nur ein paar Millionen Menschen auf der Erde, müssten wir uns sehr anstrengen, um die Kreisläufe und Reparaturmechanismen der Natur aus dem Tritt zu bringen. Doch eine sinnvolle Alternative zur Nachhaltigkeit verbirgt sich hinter dieser Erkenntnis nicht.
Verzichtet man auf Radikalmaßnahmen wie die chinesische Ein-Kind-Politik, wird sich das Bevölkerungswachstum in Entwicklungsländern nur verlangsamen lassen, wenn genügend für die Bildung von Frauen getan und gleichzeitig der Lebensstandard erhöht wird. In einem überschaubaren Zeitraum dürften solche Programme allerdings keinen merklichen Einfluss haben. Bereits jetzt, bei einer Bevölkerungszahl von sechseinhalb Milliarden Menschen, verbrauchen wir Ressourcen in einem Maß, das uns in Zukunft Probleme bereiten wird. Mythos 10: "Wenn man erst einmal verstanden hat, worum es bei der Nachhaltigkeit geht, läuft der Rest wie von selbst."
Leider entpuppt sich manche gut gemeinte Lösung als Schuss, der nach hinten losgeht. Bestes Beispiel ist der anhaltende Trend zu Biokraftstoffen. Mais etwa ist ein nachwachsender Rohstoff und setzt bei seiner Verbrennung nur die Menge an Kohlenstoff frei, die er während seines Wachstums aufgenommen hat. Behörden, die die massenhafte Verarbeitung von Mais zu Ethanol förderten, um den Kraftstoff herkömmlichem Benzin beizumischen, waren aber letztendlich schlecht beraten. In Ländern wie Mexiko schossen die Lebensmittelpreise auf Grund gestiegener Maisnachfrage in die Höhe, und andernorts wurde Regenwald zu Gunsten neuer Ackerflächen abgeholzt, die vergleichsweise mehr Treibhausgase freisetzen. Zwar mag die Einsparung an CO2, die der Biotreibstoff bringt, den Verlust an Biomasse wettmachen – bis es allerdings so weit ist, dürfte es bereits zu spät sein.
Kein neues Verfahren verdient das Prädikat "nachhaltig", solange nicht seine Kosten und Nutzen für Mensch, Natur und Klima bis ins Detail kalkuliert wurden. Und selbst dann noch können uns bis dato unvorhergesehene Folgeerscheinungen einen Strich durch die Rechnung machen. Nur wer bereit ist, permanent nach den Folgen seines Handelns zu fragen, kann wirklich nachhaltig leben.
Der Originalartikel erschien in Scientific American Earth 3.0, März 2009
Deutsche Bearbeitung: Jan Dönges
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