Islamwissenschaften: Wahrheit und Fiktion
Auf der Suche nach dem historischen Mohammed: Philologen und Theologen zwischen historischen Quellen und religiöser Überlieferung.
Im Juli 2010 wies das Rektorat der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster einem ihrer Gelehrten ein neues Aufgabengebiet zu. Sven Kalisch, vormals Professor für die Religion des Islam am Centrum für Religiöse Studien (CRS), erhielt auf eigenen Wunsch und mit dem Einverständnis des Fachbereichs Philologie stattdessen eine Professur für "Geistesgeschichte im Vorderen Orient in nachantiker Zeit".
Da die Apostasie, also der Abfall vom Glauben, nach Auffassung mancher Muslime mit dem Tod zu bestrafen sei, fürchtete man schon bald um die Sicherheit des Wissenschaftlers. Nicht zuletzt deshalb, aber auch wegen des Modellcharakters dieser Professur – bislang gab es ähnliche Fälle nur in den christlichen Theologien etwa nach Kirchenaustritten von Professoren – wurde der Fall von den Medien begierig aufgegriffen. Politiker mögen sich nun fragen, ob man im Interesse der Gesellschaft historisch gewachsene und im geltenden Recht verankerte Privilegien wie etwa die Lehrerausbildung an staatlichen Schulen durch Kirchenbeauftragte auf andere Glaubensgemeinschaften übertragen oder aber insgesamt reduzieren sollte. Muslimische Verantwortliche müssen entscheiden: Soll man Zweifel an der Existenz Mohammeds bei einem Hochschullehrer tolerieren oder aber missbilligen? Und auch die Öffentlichkeit ist sensibilisiert – schließlich müssen hier zu Lande immer öfter unterschiedliche Werte wie das friedliche Zusammenleben, die Achtung religiös begründeter Empfindlichkeiten, die freie Meinungsäußerung und die Unabhängigkeit der Forschung in Einklang gebracht werden.
Für Historiker sind die Debatten um Kalischs Professur aus zweierlei Gründen interessant. Zum einen: Wie steht es tatsächlich um die Geschichtlichkeit Mohammeds? Zum anderen: Wieso wird die Frage nach der historischen Realität des Propheten gerade jetzt als brisantes Problem empfunden?
Dass neue Entdeckungen vermeintliche Gewissheiten in Frage stellen und unser Bild der Religionsgeschichte grundlegend ändern, kam in den vergangenen 100 Jahren immer wieder vor. Man denke nur an die Entdeckung antiker gnostischer Texte in Zentralasien (Turfan) und Oberägypten (Nag Hammadi), der bronzezeitlichen kanaanäischen Texte von Ras Schamra (Ugarit), der Schriftrollen von Qumran, der hethitischen Archive in Kleinasien (Bogazköy) oder der griechischen Linear-B-Tafeln von Kreta, Tyrins und Mykene. Neue Überlegungen der Islam- und Religionshistoriker zur Geschichtlichkeit Mohammeds beruhen jedoch nicht auf irgendwelchen spektakulären Funden, sondern vielmehr auf neuen Einschätzungen längst bekannter Quellen, genauer gesagt: auf Zweifeln an ihrem historischen Wert.
Die Quersumme aus all diesen Quellen ergibt Lebensdaten, die schnell aufgezählt sind: Mohammed kam um 570 als Angehöriger des Stammes der Quraisch in dem Verkehrs- und Handelsknotenpunkt Mekka zur Welt. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er zunächst bei seinem Großvater, dann bei einem Onkel auf und erlernte den Kaufmannsberuf. Mit 25 Jahren heiratete er seine Arbeitgeberin, die 15 Jahre ältere, vermögende Witwe Chadidscha; sie hatten eine Tochter namens Fatima.
Nach Andachtsübungen auf dem Berg Hira nordöstlich von Mekka erfuhr Mohammed um 610 seine Berufung zum Gesandten Gottes. Sein Auftrag lautete, den ursprünglichen Monotheismus Abrahams wiederherzustellen und seine Landsleute mit dem Hinweis auf das bevorstehende Gericht Gottes zu sozial verantwortlichem Handeln zu ermahnen. Als die polytheistischen Mekkaner die neue Lehre ablehnten, siedelte Mohammed 622 in die rund 350 Kilometer nördlich von Mekka gelegene Oasenstadt Medina über. Dort wurde er zum religiösen und politischen Führer der muslimischen Gemeinde, der Umma.
Nach jahrelangen Kämpfen erkannten ihn schließlich auch die Bewohner Mekkas als Propheten Gottes an. Allerdings erkrankte Mohammed bereits zwei Jahre später unerwartet an einem Fieber und starb am 8. Juni 632. Um den Fortbestand des noch jungen muslimischen Gemeinwesens zu sichern, einigten sich seine Mitstreiter auf einen Nachfolger (Kalif): Abu Bakr. Er verpflichtete die arabischen Stämme erneut auf die Lehren Mohammeds und bestand die ersten Kämpfe gegen das Oströmische und das Perserreich.
Doch in den 1970er Jahren äußerte der in London lehrende US-amerikanische Historiker John Edward Wansbrough Zweifel an Nöldekes Auffassung. Er glaubte, die heilige Schrift der Muslime gehe gar nicht auf Zeitgenossen des Propheten zurück, und verwies darauf, dass aus dieser Periode keine Koranhandschriften überliefert sind. Die außerkoranischen Überlieferungen über das Leben Mohammeds verwarf er vollständig als späte Fiktion. Vielmehr wurzele der Islam in der Arabisierung jüdischer und christlicher Vorstellungen aus dem 8. und 9. Jahrhundert und sei von seinen Anhängern durch eine weit gehend erfundene Entstehungsgeschichte nachträglich verklärt worden.
Zweifel am Wahrheitsgehalt
In eine ähnliche Richtung zielte fast zeitgleich der englische Islamwissenschaftler Michael A. Cook zusammen mit seiner dänischen Kollegin Patricia Crone. Sie wandten sich sowohl gegen die traditionelle historische Deutung des Korans als auch gegen die unreflektierte Übernahme von Aussagen muslimischer Historiker. Ihre Begründung: Diese stützten sich fast ausschließlich auf mündliche Überlieferungen, die oftmals erst lange nach den geschilderten Ereignissen schriftlich fixiert worden waren. Zwei Tatsachen bestärkten ihre Zweifel. Erstens fehlen zeitnahe, offizielle muslimische Dokumente, und zweitens gibt es nur sehr wenige zeitgenössische nichtmuslimische Quellen über die Geschichte Arabiens zur Zeit des Propheten. Das machte die Überprüfung vieler Einzelheiten im Leben Mohammeds letztlich unmöglich.
Rückblickend erscheint dieser Neuaufbruch in den 1970er Jahren als Reaktion auf eine gewisse Einseitigkeit in der – aus heutiger Sicht – vielleicht allzu vertrauensvollen Benutzung des Korans als historische Quelle für das Leben Mohammeds. Die Konzentration auf die Biografie des Propheten und sein unmittelbares arabisches Umfeld in den Jahren zuvor kann man wiederum als eine Abkehr von älteren Tendenzen verstehen. Denn im 19. und frühen 20. Jahrhundert gingen die meisten Islam- und Religionswissenschaftler ganz selbstverständlich davon aus, dass Europa den islamisch geprägten Kulturen des Vorderen Orients politisch, wirtschaftlich und kulturell schon immer überlegen gewesen sei. Viele christliche Theologen waren von einer Anerkennung nichtchristlicher Religionen weit entfernt.
Diese Vorgehensweise galt nach 1945 in der Forschung weit gehend als überholt. Zum einen erkannten viele Wissenschaftler die Fragwürdigkeit mancher nur vermeintlich gesicherter Parallelen, zum anderen wollte man dem Koran und seiner Botschaft gerecht werden und betrachtete ihn als ein in sich bedeutungsvolles Ganzes – und nicht nur als Sammelsurium höchst unterschiedlicher älterer jüdischer und christlicher Ideen.
So hinterfragten Islamwissenschaftler in den 1980er Jahren lange akzeptierte Hypothesen und positionierten den Koran im Umfeld der spätantiken Religionsgeschichte neu. Doch dabei konnten sie nicht einfach nahtlos an ältere Forschungen auf diesem Gebiet anknüpfen. Zwischenzeitlich war die Zahl der Schriftquellen durch neue Ausgaben und Übersetzungen bis dahin unveröffentlichter aramäischer (syrischer) Texte aus dem Umfeld des frühen Islams stark angestiegen. Außerdem hatten Archäologen mittlerweile ihrerseits einen wichtigen, eigenständigen Beitrag zur Erkundung der Umwelt des Korans geleistet. Münzen, bildliche Darstellungen und Texte erweiterten nicht nur das Verständnis der religiösen Vorstellungen im Umfeld des Korans, sondern zeigten auch, dass damals bereits weit reichende Kulturkontakte bestanden, die Forscher anhand von Handelswegen und -stationen rekonstruierten. So konnte man etwa eine besondere Nähe der frühen Theologie Mohammeds zu asketischen Formen des Christentums plausibel machen. Damit ergaben sich freilich neue Fragen und Unsicherheiten, denn während man fremde Einflüsse auf die materielle Kultur oftmals direkt am Fundspektrum ablesen konnte, gab es für die Übernahme religiöser Vorstellungen und Ideen natürlich keine derart greifbaren Spuren.
So wurde die Erforschung der Umwelt des Korans und der Biografie Mohammeds zu einem immer anspruchsvolleren Spezialgebiet. Nur noch wenige, philologisch besonders gut geschulte Wissenschaftler konnten sich auf diesem Feld bewähren – und entsprechend wenige Kollegen waren in der Lage, deren Ergebnisse zu bestätigen oder zu widerlegen.
Neue Schärfe gewann die Debatte nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center im September 2001. Sie verengten nicht nur die außermuslimische Wahrnehmung des Islams, sondern beeinflussten auch die akademische Welt: Auf einmal spielten gesellschaftliche Entwicklungen sowie politische Aspekte des Islams in Lehrveranstaltungen oder Stellenausschreibungen eine immer größere Rolle, und auch der Koran selbst interessierte viele weniger als ein Zeugnis der spätantiken Religionsgeschichte denn als Blaupause gegenwärtiger politisch-gesellschaftlicher Entwürfe und Utopien. Wie kaum anders zu erwarten, hatten dabei sowohl Vorwürfe einer Instrumentalisierung der wissenschaftlichen Forschung als auch umgekehrt die Instrumentalisierung eben dieser Vorwürfe Hochkonjunktur.
Für die öffentliche Wahrnehmung des Korans als historische Quelle über das Leben Mohammeds war das folgenreich, denn nun konnten plakative Thesen mit sehr viel größerem Medieninteresse rechnen als komplizierte philologische Detailuntersuchungen, die ohne eine genaue Kenntnis des Arabischen und einiger verwandter Sprachen oft gar nicht nachvollziehbar waren. Verstärkte Aufmerksamkeit erfuhr so auch eine der radikalsten Thesen. Erstmals publik wurde sie bereits im Jahr 2000 in dem Buch "Die syro-aramäische Lesart des Korans". Es erschien unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg. War John Wansbrough mehr als 30 Jahre zuvor noch davon überzeugt gewesen, die heutige Fassung des Korans habe ihren Ursprung im 9. Jahrhundert, so akzeptierte Luxenberg zwar die traditionelle Datierung ins 7. Jahrhundert, bestritt aber rundweg die Richtigkeit des traditionellen Textverständnisses und der muslimischen Nachrichten zur Überlieferung des Korans.
Falsche Deutungen
Zur Begründung verwies er auf die besondere Schwierigkeit einiger schwer verständlicher Worte und Wendungen, die außerhalb der heiligen Schrift der Muslime so nicht vorkommen. Traditionell deuten Forscher diese als Überbleibsel der altarabischen Dichtung aus vorislamischer Zeit. Luxenberg aber führt sie auf eine in Mekka geläufige Mischsprache mit starkem aramäischem Einschlag zurück. Die Kenntnis dieser Sprache, so Luxenberg, sei jedoch bereits in den ersten Jahrhunderten der muslimischen Geschichte verloren gegangen. Da man den Koran nicht mündlich, sondern nur in einer höchst mehrdeutigen und vollständig vokallosen Vorform der heutigen arabischen Schrift überliefert habe, sei es zu gravierenden Missverständnissen gekommen: In der irrigen Annahme, den nunmehr unverständlichen Konsonantenzeichen läge ein in klassischem Arabisch geschriebener Wortlaut zu Grunde, hätten muslimische Philologen den eigentlichen Wortlaut des Korans in vielen Fällen falsch verstanden. So sei beispielsweise bei den Schilderungen des Paradieses ursprünglich gar nicht von Paradiesjungfrauen (Huris), sondern nur von Trauben die Rede gewesen.
Mit weiteren Mutmaßungen verlieh Luxenberg seinen Thesen zusätzliche Brisanz: Durch neue Deutungen des koranischen Wortlauts mit Hilfe des Aramäischen könne man zahlreiche christliche Einflüsse nachweisen, die erst durch die Fehldeutungen der späteren Überlieferung verdunkelt worden seien. In diesem Punkt berührt sich "Die syro-aramäische Lesart des Korans" mit den Werken des Islamwissenschaftlers Günter Lüling, der behauptete, im Koran könnte man noch ursprünglich christliche und erst sekundär muslimisch überarbeitete christliche Hymnen erkennen. So etwa in der 97. Sure, die die Herabsendung des Korans in der "Nacht der Bestimmung" oder "Nacht der Macht" schildert – für Lüling eine muslimische Umdeutung des Weihnachtsgeschehens.
Tatsächlich kann man im Koran sehr deutlich eine Entwicklung mancher religiöser Ideen – etwa des Fastens – ablesen, die bei einer sehr viel späteren Rückspiegelung kaum verständlich wären. Außerdem zeigen die überlieferten Texte die Entwicklung und allmähliche Ausgestaltung einer Tradition, die schon im 7. Jahrhundert begonnen haben muss. Aber auch Luxenbergs These einer Vielzahl eklatanter sprachlicher Missverständnisse scheitert letztlich an dem methodischen Problem, dass die von ihm postulierte syrisch-arabische Mischsprache nirgendwo sonst bezeugt ist und ihre Existenz somit letztlich auf reiner Spekulation beruht.
Blickt man heute, 100 Jahre später, auf diese Diskussionen zurück, fällt eine Art Pendelbewegung auf: Anfangs wurden die bahnbrechend neuen Einsichten gewaltig überschätzt und dann auf ein realistisches Maß zurückgeschraubt. Letztlich bleibt die Frage: Prägt das Studium von Koran und Bibel das allgemeine Verständnis der heiligen Schriften, oder prägt das allgemeine Verständnis ihr Studium? "Studieren", schrieb Wellhausen schon vor über 100 Jahren seinem schottischen Kollegen Robertson Smith, "kann man nur sehr einfache Dinge, Griechisch, Mathematik und dergleichen. Das andere muss wachsen, kann nicht forciert werden."
Zuvor war Professor Kalisch bereits von der Ausbildung angehender Lehrer für islamischen Religionsunterricht entbunden worden. Der Grund: Der Koordinationsrat der Muslime in Deutschland hatte seine Eignung in Abrede gestellt, und auch Studierende hatten seine Ablösung gefordert. Auslöser des Konflikts waren Kalischs Zweifel an der Existenz des Propheten Mohammed gewesen.
Da die Apostasie, also der Abfall vom Glauben, nach Auffassung mancher Muslime mit dem Tod zu bestrafen sei, fürchtete man schon bald um die Sicherheit des Wissenschaftlers. Nicht zuletzt deshalb, aber auch wegen des Modellcharakters dieser Professur – bislang gab es ähnliche Fälle nur in den christlichen Theologien etwa nach Kirchenaustritten von Professoren – wurde der Fall von den Medien begierig aufgegriffen. Politiker mögen sich nun fragen, ob man im Interesse der Gesellschaft historisch gewachsene und im geltenden Recht verankerte Privilegien wie etwa die Lehrerausbildung an staatlichen Schulen durch Kirchenbeauftragte auf andere Glaubensgemeinschaften übertragen oder aber insgesamt reduzieren sollte. Muslimische Verantwortliche müssen entscheiden: Soll man Zweifel an der Existenz Mohammeds bei einem Hochschullehrer tolerieren oder aber missbilligen? Und auch die Öffentlichkeit ist sensibilisiert – schließlich müssen hier zu Lande immer öfter unterschiedliche Werte wie das friedliche Zusammenleben, die Achtung religiös begründeter Empfindlichkeiten, die freie Meinungsäußerung und die Unabhängigkeit der Forschung in Einklang gebracht werden.
Für Historiker sind die Debatten um Kalischs Professur aus zweierlei Gründen interessant. Zum einen: Wie steht es tatsächlich um die Geschichtlichkeit Mohammeds? Zum anderen: Wieso wird die Frage nach der historischen Realität des Propheten gerade jetzt als brisantes Problem empfunden?
Dass neue Entdeckungen vermeintliche Gewissheiten in Frage stellen und unser Bild der Religionsgeschichte grundlegend ändern, kam in den vergangenen 100 Jahren immer wieder vor. Man denke nur an die Entdeckung antiker gnostischer Texte in Zentralasien (Turfan) und Oberägypten (Nag Hammadi), der bronzezeitlichen kanaanäischen Texte von Ras Schamra (Ugarit), der Schriftrollen von Qumran, der hethitischen Archive in Kleinasien (Bogazköy) oder der griechischen Linear-B-Tafeln von Kreta, Tyrins und Mykene. Neue Überlegungen der Islam- und Religionshistoriker zur Geschichtlichkeit Mohammeds beruhen jedoch nicht auf irgendwelchen spektakulären Funden, sondern vielmehr auf neuen Einschätzungen längst bekannter Quellen, genauer gesagt: auf Zweifeln an ihrem historischen Wert.
An erster Stelle steht hier der Koran, den auch Nichtmuslime lange Zeit als wichtigstes Zeugnis vom Leben des Propheten nutzten. Nun lässt sich den Suren aber keineswegs eine fortlaufende Biografie Mohammeds entnehmen. Vielmehr handelt es sich dabei um Botschaften an die Zeitgenossen des Propheten, die ihren Landsmann bereits seit Langem kannten. Die Lebensgeschichte Mohammeds lässt sich daher aus dem Koran nur indirekt erschließen. Eine wichtige Rolle spielten deshalb von jeher außerkoranische Überlieferungen über die Aussprüche des Propheten (Hadith) und seine Gewohnheiten (Sunna) sowie die Forschungen muslimischer Historiker zur Entstehung und zur ältesten Geschichte des muslimischen Gemeinwesens.
Die Quersumme aus all diesen Quellen ergibt Lebensdaten, die schnell aufgezählt sind: Mohammed kam um 570 als Angehöriger des Stammes der Quraisch in dem Verkehrs- und Handelsknotenpunkt Mekka zur Welt. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er zunächst bei seinem Großvater, dann bei einem Onkel auf und erlernte den Kaufmannsberuf. Mit 25 Jahren heiratete er seine Arbeitgeberin, die 15 Jahre ältere, vermögende Witwe Chadidscha; sie hatten eine Tochter namens Fatima.
Nach Andachtsübungen auf dem Berg Hira nordöstlich von Mekka erfuhr Mohammed um 610 seine Berufung zum Gesandten Gottes. Sein Auftrag lautete, den ursprünglichen Monotheismus Abrahams wiederherzustellen und seine Landsleute mit dem Hinweis auf das bevorstehende Gericht Gottes zu sozial verantwortlichem Handeln zu ermahnen. Als die polytheistischen Mekkaner die neue Lehre ablehnten, siedelte Mohammed 622 in die rund 350 Kilometer nördlich von Mekka gelegene Oasenstadt Medina über. Dort wurde er zum religiösen und politischen Führer der muslimischen Gemeinde, der Umma.
Nach jahrelangen Kämpfen erkannten ihn schließlich auch die Bewohner Mekkas als Propheten Gottes an. Allerdings erkrankte Mohammed bereits zwei Jahre später unerwartet an einem Fieber und starb am 8. Juni 632. Um den Fortbestand des noch jungen muslimischen Gemeinwesens zu sichern, einigten sich seine Mitstreiter auf einen Nachfolger (Kalif): Abu Bakr. Er verpflichtete die arabischen Stämme erneut auf die Lehren Mohammeds und bestand die ersten Kämpfe gegen das Oströmische und das Perserreich.
Bis vor wenigen Jahrzehnten hielten die meisten europäischen Religions- und Islamwissenschaftler diese Rekonstruktion für zuverlässig. Sie sahen keinen Grund, eine spätere Entstehung der betreffenden Koransuren anzunehmen, hatten eine relativ feste Vorstellung von ihrer zeitlichen Abfolge (zwischen 610 und 632) und glaubten die Bedeutung der Texte – trotz mancher Unklarheiten im Detail – insgesamt recht genau zu verstehen. Grundlegend für diese Sicht auf den Koran war dabei das Buch "Geschichte des Qorans" des Orientalisten Theodor Nöldeke, das seit seiner Veröffentlichung 1860 immer wieder überarbeitet, erweitert und 2004 erstmals ins Arabische übersetzt wurde.
Doch in den 1970er Jahren äußerte der in London lehrende US-amerikanische Historiker John Edward Wansbrough Zweifel an Nöldekes Auffassung. Er glaubte, die heilige Schrift der Muslime gehe gar nicht auf Zeitgenossen des Propheten zurück, und verwies darauf, dass aus dieser Periode keine Koranhandschriften überliefert sind. Die außerkoranischen Überlieferungen über das Leben Mohammeds verwarf er vollständig als späte Fiktion. Vielmehr wurzele der Islam in der Arabisierung jüdischer und christlicher Vorstellungen aus dem 8. und 9. Jahrhundert und sei von seinen Anhängern durch eine weit gehend erfundene Entstehungsgeschichte nachträglich verklärt worden.
Zweifel am Wahrheitsgehalt
In eine ähnliche Richtung zielte fast zeitgleich der englische Islamwissenschaftler Michael A. Cook zusammen mit seiner dänischen Kollegin Patricia Crone. Sie wandten sich sowohl gegen die traditionelle historische Deutung des Korans als auch gegen die unreflektierte Übernahme von Aussagen muslimischer Historiker. Ihre Begründung: Diese stützten sich fast ausschließlich auf mündliche Überlieferungen, die oftmals erst lange nach den geschilderten Ereignissen schriftlich fixiert worden waren. Zwei Tatsachen bestärkten ihre Zweifel. Erstens fehlen zeitnahe, offizielle muslimische Dokumente, und zweitens gibt es nur sehr wenige zeitgenössische nichtmuslimische Quellen über die Geschichte Arabiens zur Zeit des Propheten. Das machte die Überprüfung vieler Einzelheiten im Leben Mohammeds letztlich unmöglich.
Rückblickend erscheint dieser Neuaufbruch in den 1970er Jahren als Reaktion auf eine gewisse Einseitigkeit in der – aus heutiger Sicht – vielleicht allzu vertrauensvollen Benutzung des Korans als historische Quelle für das Leben Mohammeds. Die Konzentration auf die Biografie des Propheten und sein unmittelbares arabisches Umfeld in den Jahren zuvor kann man wiederum als eine Abkehr von älteren Tendenzen verstehen. Denn im 19. und frühen 20. Jahrhundert gingen die meisten Islam- und Religionswissenschaftler ganz selbstverständlich davon aus, dass Europa den islamisch geprägten Kulturen des Vorderen Orients politisch, wirtschaftlich und kulturell schon immer überlegen gewesen sei. Viele christliche Theologen waren von einer Anerkennung nichtchristlicher Religionen weit entfernt.
Um das zu belegen, suchten Koranforscher vor allem nach Hinweisen für die Abhängigkeit islamischen Gedankenguts von älteren jüdischen und christlichen Quellen. Die tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Belege dafür sollten dann die fehlende Originalität des Propheten und damit letztlich die Überlegenheit der abendländisch-christlichen Weltsicht unter Beweis stellen.
Diese Vorgehensweise galt nach 1945 in der Forschung weit gehend als überholt. Zum einen erkannten viele Wissenschaftler die Fragwürdigkeit mancher nur vermeintlich gesicherter Parallelen, zum anderen wollte man dem Koran und seiner Botschaft gerecht werden und betrachtete ihn als ein in sich bedeutungsvolles Ganzes – und nicht nur als Sammelsurium höchst unterschiedlicher älterer jüdischer und christlicher Ideen.
So hinterfragten Islamwissenschaftler in den 1980er Jahren lange akzeptierte Hypothesen und positionierten den Koran im Umfeld der spätantiken Religionsgeschichte neu. Doch dabei konnten sie nicht einfach nahtlos an ältere Forschungen auf diesem Gebiet anknüpfen. Zwischenzeitlich war die Zahl der Schriftquellen durch neue Ausgaben und Übersetzungen bis dahin unveröffentlichter aramäischer (syrischer) Texte aus dem Umfeld des frühen Islams stark angestiegen. Außerdem hatten Archäologen mittlerweile ihrerseits einen wichtigen, eigenständigen Beitrag zur Erkundung der Umwelt des Korans geleistet. Münzen, bildliche Darstellungen und Texte erweiterten nicht nur das Verständnis der religiösen Vorstellungen im Umfeld des Korans, sondern zeigten auch, dass damals bereits weit reichende Kulturkontakte bestanden, die Forscher anhand von Handelswegen und -stationen rekonstruierten. So konnte man etwa eine besondere Nähe der frühen Theologie Mohammeds zu asketischen Formen des Christentums plausibel machen. Damit ergaben sich freilich neue Fragen und Unsicherheiten, denn während man fremde Einflüsse auf die materielle Kultur oftmals direkt am Fundspektrum ablesen konnte, gab es für die Übernahme religiöser Vorstellungen und Ideen natürlich keine derart greifbaren Spuren.
So wurde die Erforschung der Umwelt des Korans und der Biografie Mohammeds zu einem immer anspruchsvolleren Spezialgebiet. Nur noch wenige, philologisch besonders gut geschulte Wissenschaftler konnten sich auf diesem Feld bewähren – und entsprechend wenige Kollegen waren in der Lage, deren Ergebnisse zu bestätigen oder zu widerlegen.
Aber auch die öffentliche Wahrnehmung der Koranforschung änderte sich. Bereits 1978 hatte der US-amerikanische Literaturkritiker Edward Said erklärt, die europäische Orientalistik sei von jeher ein Instrument des Imperialismus und Kolonialismus gewesen, das im Wesentlichen ein höchst unhistorisches und undifferenziertes Zerrbild der Realität propagiert habe. Nun wurde Saids Darstellung zwar selbst schon bald als Zerrbild entlarvt, doch hatte seine Kritik offenkundig den Nerv der Zeit getroffen. So führte die breite öffentliche Resonanz auf seine Thesen zu einer bis heute lebhaft geführten Debatte über die gesellschaftlichen und weltanschaulichen Voraussetzungen der Orientalistik, ihre Instrumentalisierung im Dienste politischer und wirtschaftlicher Interessen und die Gefahren einer fehlenden wissenschaftlichen Selbstreflexion in diesen Fächern.
Neue Schärfe gewann die Debatte nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center im September 2001. Sie verengten nicht nur die außermuslimische Wahrnehmung des Islams, sondern beeinflussten auch die akademische Welt: Auf einmal spielten gesellschaftliche Entwicklungen sowie politische Aspekte des Islams in Lehrveranstaltungen oder Stellenausschreibungen eine immer größere Rolle, und auch der Koran selbst interessierte viele weniger als ein Zeugnis der spätantiken Religionsgeschichte denn als Blaupause gegenwärtiger politisch-gesellschaftlicher Entwürfe und Utopien. Wie kaum anders zu erwarten, hatten dabei sowohl Vorwürfe einer Instrumentalisierung der wissenschaftlichen Forschung als auch umgekehrt die Instrumentalisierung eben dieser Vorwürfe Hochkonjunktur.
Für die öffentliche Wahrnehmung des Korans als historische Quelle über das Leben Mohammeds war das folgenreich, denn nun konnten plakative Thesen mit sehr viel größerem Medieninteresse rechnen als komplizierte philologische Detailuntersuchungen, die ohne eine genaue Kenntnis des Arabischen und einiger verwandter Sprachen oft gar nicht nachvollziehbar waren. Verstärkte Aufmerksamkeit erfuhr so auch eine der radikalsten Thesen. Erstmals publik wurde sie bereits im Jahr 2000 in dem Buch "Die syro-aramäische Lesart des Korans". Es erschien unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg. War John Wansbrough mehr als 30 Jahre zuvor noch davon überzeugt gewesen, die heutige Fassung des Korans habe ihren Ursprung im 9. Jahrhundert, so akzeptierte Luxenberg zwar die traditionelle Datierung ins 7. Jahrhundert, bestritt aber rundweg die Richtigkeit des traditionellen Textverständnisses und der muslimischen Nachrichten zur Überlieferung des Korans.
Falsche Deutungen
Zur Begründung verwies er auf die besondere Schwierigkeit einiger schwer verständlicher Worte und Wendungen, die außerhalb der heiligen Schrift der Muslime so nicht vorkommen. Traditionell deuten Forscher diese als Überbleibsel der altarabischen Dichtung aus vorislamischer Zeit. Luxenberg aber führt sie auf eine in Mekka geläufige Mischsprache mit starkem aramäischem Einschlag zurück. Die Kenntnis dieser Sprache, so Luxenberg, sei jedoch bereits in den ersten Jahrhunderten der muslimischen Geschichte verloren gegangen. Da man den Koran nicht mündlich, sondern nur in einer höchst mehrdeutigen und vollständig vokallosen Vorform der heutigen arabischen Schrift überliefert habe, sei es zu gravierenden Missverständnissen gekommen: In der irrigen Annahme, den nunmehr unverständlichen Konsonantenzeichen läge ein in klassischem Arabisch geschriebener Wortlaut zu Grunde, hätten muslimische Philologen den eigentlichen Wortlaut des Korans in vielen Fällen falsch verstanden. So sei beispielsweise bei den Schilderungen des Paradieses ursprünglich gar nicht von Paradiesjungfrauen (Huris), sondern nur von Trauben die Rede gewesen.
Mit weiteren Mutmaßungen verlieh Luxenberg seinen Thesen zusätzliche Brisanz: Durch neue Deutungen des koranischen Wortlauts mit Hilfe des Aramäischen könne man zahlreiche christliche Einflüsse nachweisen, die erst durch die Fehldeutungen der späteren Überlieferung verdunkelt worden seien. In diesem Punkt berührt sich "Die syro-aramäische Lesart des Korans" mit den Werken des Islamwissenschaftlers Günter Lüling, der behauptete, im Koran könnte man noch ursprünglich christliche und erst sekundär muslimisch überarbeitete christliche Hymnen erkennen. So etwa in der 97. Sure, die die Herabsendung des Korans in der "Nacht der Bestimmung" oder "Nacht der Macht" schildert – für Lüling eine muslimische Umdeutung des Weihnachtsgeschehens.
Hätten diese Forscher Recht, käme der Koran in der Tat nicht als historische Quelle für die Biografie Mohammeds in Frage. Bei nüchterner Abwägung des Für und Wider dürfte die Geschichtlichkeit des Propheten aber letztlich nicht zu bestreiten sein. Das vielleicht schlagendste Argument ist der Koran selbst, der ungeachtet aller Deutungs- und Verständnisschwierigkeiten eben doch auch die bemerkenswerte religiöse Lebensgeschichte einer Persönlichkeit des 6. und 7. Jahrhunderts und ihre Umwelt widerspiegelt. Wäre ein solcher Text tatsächlich erst im 8. oder 9. Jahrhundert im Zuge der muslimischen Expansion entstanden, um die Verhältnisse der Gegenwart mit Ereignissen aus einer fernen Vergangenheit zu legitimieren, dann würde man in der Tat etwas ganz anderes erwarten.
Tatsächlich kann man im Koran sehr deutlich eine Entwicklung mancher religiöser Ideen – etwa des Fastens – ablesen, die bei einer sehr viel späteren Rückspiegelung kaum verständlich wären. Außerdem zeigen die überlieferten Texte die Entwicklung und allmähliche Ausgestaltung einer Tradition, die schon im 7. Jahrhundert begonnen haben muss. Aber auch Luxenbergs These einer Vielzahl eklatanter sprachlicher Missverständnisse scheitert letztlich an dem methodischen Problem, dass die von ihm postulierte syrisch-arabische Mischsprache nirgendwo sonst bezeugt ist und ihre Existenz somit letztlich auf reiner Spekulation beruht.
Stellt man die Debatte um die Geschichtlichkeit Mohammeds abschließend in eine historische Perspektive, so sind die Parallelen zur weit verbreiteten Bibelkritik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unübersehbar. Als der Alttestamentler Julius Wellhausen 1878 das Alte Testament in seiner "Geschichte Israels" ohne Rücksicht auf christliche Empfindlichkeiten als ein Stück antiker Literatur untersuchte und daraufhin eine radikal neue Sicht auf die Entstehung der Mosebücher propagierte, wurde sein Werk von einigen Theologen ebenso enthusiastisch begrüßt wie von anderen erbittert bekämpft. Die Begeisterung über die neue Bibelkritik führte dazu, dass viele Forscher bereits wenige Jahrzehnte später nicht nur die traditionellen Vorstellungen von der Abfassung der Evangelien, sondern – in kaum mehr plausibler Weise – die Geschichtlichkeit Jesu überhaupt in Zweifel zogen.
Blickt man heute, 100 Jahre später, auf diese Diskussionen zurück, fällt eine Art Pendelbewegung auf: Anfangs wurden die bahnbrechend neuen Einsichten gewaltig überschätzt und dann auf ein realistisches Maß zurückgeschraubt. Letztlich bleibt die Frage: Prägt das Studium von Koran und Bibel das allgemeine Verständnis der heiligen Schriften, oder prägt das allgemeine Verständnis ihr Studium? "Studieren", schrieb Wellhausen schon vor über 100 Jahren seinem schottischen Kollegen Robertson Smith, "kann man nur sehr einfache Dinge, Griechisch, Mathematik und dergleichen. Das andere muss wachsen, kann nicht forciert werden."
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