Schutz von Walen: Viel Nutzen mit nur wenig Aufwand
An Glasfronten, Windrädern, Stromleitungen und entlang von Straßen: Überall auf der Erde sterben Wildtiere infolge von Kollisionen mit Strukturen, die es in der Natur nicht gibt. Doch während an vielen Autobahnen immerhin Wildschutzzäune stehen und bei Leitungen und Glasfassaden zumindest versucht wird, sie für Tiere deutlicher erkennbar zu machen, sind in den größten Ökosystemen dieses Planeten bisher keine derartigen Maßnahmen in Sicht: den Weltmeeren. Eine neue Studie verdeutlicht, wie schwer es heute für Wale ist, unbeschadet durch das immer dichter werdende Netz des internationalen Schiffsverkehrs zu kommen. Die Untersuchung zeigt aber auch Lösungen auf – und die sind überraschend einfach.
Tausende Wale werden in jedem Jahr verletzt oder getötet, weil sie von Schiffen gerammt werden. Besonders gefährlich sind Kollisionen mit den großen Containerschiffen, die den Löwenanteil des globalen Warenverkehrs über die Ozeane transportieren. Zusammenstöße mit Schiffen sind, nachdem der Walfang eingeschränkt worden ist, mittlerweile die Todesursache Nummer eins für die Meeressäuger. Ein internationales Forschungsteam hat nun erstmals für vier weit verbreitete Walarten das Kollisionsrisiko auf den Weltmeeren quantifiziert: für Blau-, Finn-, Buckel- und Pottwale.
Im Fachjournal »Science« berichtet die Gruppe, dass fast alle globalen Schifffahrtsrouten durch wichtige Lebensräume von Walen verlaufen. Die Handelswege überschneiden sich demnach zu 92 Prozent mit den Habitaten dieser Tiere. »Die Flotte der Handelsschiffe legt in jedem Jahr eine Gesamtdistanz innerhalb von Wal-Lebensräumen zurück, die mehreren tausend Mal der Entfernung zwischen Erde und Mond entspricht«, erläutert die Hauptautorin der Studie, Briana Abrahms, in einer Pressemitteilung. Das macht es für die Tiere schwer, unbeschadet zwischen den Ozeanriesen zu navigieren. Der Schiffsverkehr in den Wal-Lebensräumen werde mit der Zunahme des globalen Handels in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich weiter wachsen, sagt die Assistenzprofessorin für Biologie an der University of Washington.
Kollisionen zwischen Walen und Schiffen wurden bisher meist nur auf regionaler Ebene untersucht – etwa an der Ost- und Westküste der USA. Die neue Studie versucht nun erstmals, das Kollisionsrisiko weltweit zu bewerten. Das Forschungsteam betrachtete hierfür alle von den Meeressäugern im Jahresverlauf genutzten Lebensräume. Dazu zählen Brut- und Aufzuchtgebiete, Durchzugskorridore und Überwinterungsregionen. Die Datengrundlage bildeten staatliche Monitoringprogramme ebenso wie Sichtungen von Privatpersonen und Naturschutzorganisationen. Auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Markierungsstudien unter Einsatz von Sendern und die Daten aus den Walfangstatistiken flossen in die Modellierung ein. Insgesamt wurden rund 435 000 einzelne Walsichtungen berücksichtigt und mit den Routen von 176 000 Frachtschiffen verglichen, die zwischen 2017 und 2022 auf den Ozeanen unterwegs waren.
Kaum Rücksicht auf die Meeressäuger
Die Forscher fanden heraus, dass in nur sieben Prozent jener Gebiete mit dem höchsten Risiko für Wal-Schiff-Kollisionen entsprechende Schutzvorkehrungen bestehen. Dazu zählen verpflichtende oder freiwillige Vorgaben, die Geschwindigkeit beim Durchqueren von Wanderkorridoren oder Nahrungsgebieten zu drosseln. »So Besorgnis erregend unsere Ergebnisse sind, sie zeigen auch große Chancen auf«, betont Abrahms. »Zum Beispiel würde die Umsetzung von Schutzmaßnahmen auf weiteren nur 2,6 Prozent der Meeresoberfläche alle von uns identifizierten Hochrisiko-Hotspots abdecken.« Der Kompromiss zwischen den ökonomischen Interessen einer Branche und den Belangen des Naturschutzes sei selten mit so wenig Aufwand zu erreichen, bestätigt Koautorin Heather Welch von der US-Ozeanbehörde NOAA. Häufig müssten industrielle Aktivitäten viel stärker eingeschränkt werden, um Schutzziele einzuhalten. »Hier könnten wir dagegen einen großen Nutzen für den Schutz der Wale erreichen, ohne der Schifffahrtsindustrie hohe Kosten aufzuerlegen.«
Die Gebiete mit dem höchsten Gefahrenpotenzial liegen für alle vier untersuchten Walarten entlang der Pazifikküste Nordamerikas, an einigen Abschnitten vor Panama, im Arabischen Meer, rund um die Kanarischen Inseln und die Azoren sowie im küstennahen Mittelmeer.
Die Forscher kritisieren, dass es selbst in den Hauptverbreitungsgebieten der Wale kaum rechtlich verbindliche Auflagen gibt, um Kollisionen zwischen Schiffen und den Meeressäugern zu vermeiden oder zumindest seltener zu machen. Bei allen Arten galten Auflagen in weniger als fünf Promille ihrer wichtigsten Rückzugsgebiete. Bezüglich Finn- und Pottwale gab es in keinem einzigen der für ihr Überleben besonders wichtigen Regionen verbindliche Beschränkungen für die Schifffahrt. Obwohl viele Kollisionsschwerpunkte in Meeresschutzgebieten liegen, fehlen auch dort fast immer Tempolimits für Schiffe, kritisieren die Forscher.
Das größte Risiko für Wale lauert an den Küsten
Für alle vier Walarten sind die küstennahen Regionen besonders gefährlich, weil der Schiffsverkehr wegen der nahen Häfen dort besonders dicht ist. Die Forscher sehen darin aber zugleich eine Chance. Denn innerhalb ihrer ausschließlichen Wirtschaftszonen können Regierungen der jeweiligen Länder eigene Schutzmaßnahmen vorschreiben. Bei den wenigen Maßnahmen, die derzeit in Kraft sind, handelt es sich überwiegend um solche an der Pazifikküste Nordamerikas und im Mittelmeer. Neben Tempolimits sind das beispielsweise Sperrgebiete, um Walhabitate zu umgehen, oder Kollisionswarnsysteme.
Als mit Abstand wichtigste Einzelmaßnahme zum Schutz der Meeressäuger sehen die Forscher Geschwindigkeitsbegrenzungen an. Deren Erfolg habe sich vielfach erwiesen, und langsamere Schiffe leisteten auch einen Beitrag zum Klimaschutz und zur Reduzierung der Luftverschmutzung.
Die Studie könnte zudem helfen, bei der anstehenden Ausweisung neuer Schutzgebiete in den Weltmeeren voranzukommen. Erst vor wenigen Wochen hatten die Staaten der Erde beim UN-Naturgipfel COP19 in Cali ihr Ziel bekräftigt, im Kampf gegen das Artensterben und den Klimawandel bis zum Jahr 2030 jeweils 30 Prozent der Land- und Meeresfläche der Erde unter einen wirksamen Naturschutz zu stellen. Gleichzeitig legte das Umweltprogramm der Vereinten Nationen bei dem Treffen aktuelle Zahlen vor, nach denen bisher nur etwas mehr als acht Prozent der Ozeane in irgendeiner Form geschützt sind. Um das Ziel in den verbleibenden fünf Jahren noch zu erreichen, müssten jeden Tag etwa 10 000 Quadratkilometer neue Schutzgebiete hinzukommen.
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