Spektrum intern: Wanderer zwischen zwei Kulturen
Ab 1.September 2010 ist Carsten Könneker neben Reinhard Breuer neuer Chefredakteur von Spektrum der Wissenschaft. Zeitgleich übernimmt er von Richard Zinken die Leitung der Onlineredaktion. Damit sich die spektrumdirekt-Leser einen Eindruck vom "Neuen" machen können, führte Richard Zinken mit seinem Nachfolger ein Interview.
spektrumdirekt: Carsten, du hast Physik und Literatur studiert und bewegst dich immer gerne zwischen den zwei Welten Natur- und Geisteswissenschaft. Gilt das "gerne" jetzt auch für die Welten Online und Print?
Carsten Könneker: Nicht erst jetzt – schon lange. Es sind die Inhalte, die für mich zählen. Mediengrenzen zwischen Zeitschrift, Web, Handy, mobilen Readern und so weiter verwischen zusehends. Natürlich gibt es bei jedem Einzelnen Vorlieben, wo er wie worüber informiert werden will. Wir Redakteure müssen jedenfalls die Möglichkeiten der jeweiligen Medien zum Glänzen bringen. Das redaktionelle Konzept eines Monatsmagazins ist jedoch selbstverständlich ein anderes als das einer tagesaktuellen Onlinepublikation.
Am Prinzip der Zeitschrift, dass ausgewählte Wissenschaftler aktuelle Überblicke über ihre Forschungsfelder geben, ändern wir nichts. Sehr wohl aber legen wir unser Augenmerk auf Themenmix, Sprache und Bebilderung. So wird es mit Sicherheit am Layout und an den Kleintexten Korrekturen geben. Unsere Leserinnen und Leser bekommen das freilich erst in einigen Monaten zu Gesicht. Auch am hervorragenden wissenschaftsjournalistischen Angebot von spektrumdirekt rütteln wir grundsätzlich nicht. Wir planen aber einen Relaunch für das Frühjahr 2011, der eine intensivere Vernetzung der beiden Medien mit sich bringen wird. Im Moment läuft die konzeptionelle Vorarbeit, eingebettet in eine redaktionelle Gesamtstrategie des Verlags, welche Print und Online umfasst.
Wenn du dir noch nicht genauer in die Karten schauen lassen willst – mal anders gefragt: Wie wird man Spektrum-Chefredakteur?
Da gibt es natürlich kaum ein Rezept. In meinem Fall wurde ich im Jahr 2000 nach der Promotion von der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck angestellt und sollte dort zunächst eine Karriere als Verlagsmanager einschlagen. Als mich später der Verlag Spektrum der Wissenschaft, der zu Holtzbrinck gehört, übernahm, geriet ich aber sehr schnell auf die redaktionelle Schiene. Das passte auch prima, denn es sind die Inhalte und Produkte, die ich gestalten möchte.
Du hast 2007 die SciLogs initiiert und bloggst selbst mit. Wirst du noch dazu kommen, wenn du nun zusätzlich neben Gehirn&Geist sowie epoc die Redaktionen von Spektrum der Wissenschaft und spektrumdirekt leitest?
Die Zeit fürs Bloggen wurde bereits knapper und wird in den nächsten Monaten knapp bleiben, trotzdem gebe ich es nicht auf. Zum Beispiel möchte ich wieder mehr Gäste zum Thema der "2 Kulturen" in die "Gute Stube" einladen.
Vor den SciLogs hast du bereits die Zeitschrift Gehirn&Geist mit aus der Taufe gehoben, mittlerweile eine feste Institution, wenn es um Berichte aus Psychologie, Hirnforschung und angrenzende Gebiete geht.
Gehirn&Geist und ebenso epoc – unser Archäologie- und Geschichtsmagazin – sind wunderbare Publikationen. Gehirn&Geist zeichnet beispielsweise der interdisziplinäre Ansatz aus: Wir spießen ein Thema auf und fragen, was die Experten aus den verschiedenen relevanten Fachgebieten dazu zu sagen haben: Psychologen, Neuroforscher, Pädagogen, Mediziner, Therapieforscher und so weiter. Bei epoc faszinieren mich persönlich vor allem Artikel zu den naturwissenschaftlichen Methoden, die heute die Archäologie bereichern.
Nein, auch wenn das im Nachhinein vielleicht so aussieht. Ich belegte auf dem Gymnasium die beiden Leistungskurse Mathematik und Sozialwissenschaften und fand den Spagat reizvoll. Als ich an der RWTH Aachen zu studieren begann, schrieb ich mich einfach doppelt ein. Nach Bologna ist so etwas heute vermutlich nicht mehr möglich.
Am Ende hast du in Köln in Germanistik promoviert, aber reichlich Physik in deine Doktorarbeit eingestreut. Sie betrachtet die öffentliche, vor allem die literarische und politische Auseinandersetzung mit der modernen Physik – ein Thema, das die Medien und Spektrum der Wissenschaft auch heute noch beschäftigt.
Ich untersuchte die Rezeption der modernen Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts außerhalb des wissenschaftlichen Fachdiskurses. Dabei stellte sich heraus, dass vor allem die Relativitätstheorie – in Ansätzen auch die Quantenmechanik – speziell in den Jahren der Weimarer Republik überraschend präsent war: in der Literatur und Philosophie, aber auch in Kunst, Architektur und Theologie – und nicht zuletzt im politischen Diskurs. Vielfach wurde die Physik verunglimpft, teils auf erschreckende Art und Weise. Andererseits wirkte ihre popularisierte Form stark inspirierend auf viele Intellektuelle. Im Zentrum meiner Arbeit stand die Medienberichterstattung etwa durch die Tagespresse.
Wissenschaftskommunikation als Thema zieht sich also durch dein Leben.
Das stimmt, wobei ich sie in der Doktorarbeit ja nur an einem historischen Beispiel analysiert habe. Heute praktiziere ich sie gemeinsam mit den hochkompetenten Redaktionen des Spektrum-Verlags.
Gab es in der Weimarer Republik schon einen differenzierten Wissenschaftsjournalismus, wie wir ihn heute kennen?
Nein. Der hat sich überhaupt erst in den letzten Jahrzehnten ausgebildet. Deshalb spricht man auch vom "verspäteten Ressort". Damals war das ein Sumpf, sowohl von den Ausmaßen als auch von der wissenschaftsjournalistischen Qualität. Bei den meisten Artikeln, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts über die Relativitätstheorie geschrieben wurden, schlackern einem die Ohren, wenn man sie heute liest. Es existierte ein sehr breites Spektrum von "allgemein verständlichen" Darstellungen und Einschätzungen. Die wenigsten davon waren wissenschaftlich fundiert, dafür aber meist in irgendeiner Weise weltanschaulich verfärbt.
Das habe ich nicht alles im Blick. Aber Autoren wie Durs Grünbein, Charlotte Kerner und andere beobachten aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaft und machen sie für ihre Werke fruchtbar. Daneben gibt es heute mit dem "Wissenschaftsthriller" fast schon ein eigenes Genre.
Wie wichtig war die Physik für die Literatur vor 80, 90 Jahren?
Die meisten Germanisten meinen vermutlich immer noch, die für ihre Autoren wichtigste Inspirationsquelle aus den "Wissenschaften" sei in jenen Jahren die Psychoanalyse gewesen. Studienarbeiten und Dissertationen über "Freud und XY" finden sich deshalb zuhauf. Ich bin der festen Überzeugung, dass zumindest für einige wichtige Autoren damals die Physik – oder das, was von ihr kolportiert wurde – aufregender war, gleich ob sie ihr im Einzelfall ablehnend oder euphorisch begegneten.
Oder neutral?
Das gab es fast gar nicht, denn die Physik geriet fatalerweise ab 1919 rasch zum Spielball auf dem Feld der damaligen politisch-weltanschaulichen Kämpfe. Rechte wie Linke spannten vor allem Einstein vor ihre Karren. Spätestens das hatte mit Wissenschaft nichts mehr zu tun, leider aber viel mit Antisemitismus und Nationalismus. Auch die sich damals formierenden Ultrarechten missbrauchten die Relativitätstheorie und ihren Schöpfer fleißig: Er wurde zu einer Art "Lieblingsfeind" für sie und stand wohl auch namentlich auf einer jener berüchtigten Listen von prominenten Juden, die es "auszuschalten" galt. Wohlweislich kehrte Einstein 1933 nicht mehr von einer Auslandsreise nach Deutschland zurück, sondern emigrierte dauerhaft in die USA.
Für viele Wissenschaften, gerade aber auch die Physik, bedeutete das "Dritte Reich" ja fast einen Todesstoß.
Bevor Hitler an die Macht kam, war die Physik in Deutschland führend in der Welt. Wesentliche Teile der Quantentheorie wurden in deutscher Sprache entwickelt. Für die Relativitätstheorie gilt das ohnehin.
Einer deiner Prüfer war der Physiker Peter Mittelstaedt, ein direkter Heisenberg-Schüler. Wie hat er persönlich deine Analyse aufgenommen, die ja unter anderem auch das Schicksal seines eigenen Doktorvaters im NS-Staat berührte?
Am Tag, nachdem ich ihm die Dissertation ins Fach gelegt hatte, bekam ich eine E-Mail von Mittelstaedt: Er habe die Arbeit nicht mehr aus der Hand gelegt und bis tief in die Nacht hinein gelesen: "Sie erklären so viel", schrieb er mir.
Später urteilte Mittelstaedt über deine Arbeit: "Dem Autor gelingt es, das ungemein komplizierte Geflecht aus theoretischer Physik, ihrer fatalen Vulgarisierung, moderner Literatur, Antisemitismus und NS-Ideologie mit großer Klarheit und viel Detailkenntnis zu schildern. Obwohl viele Einzelprobleme schon von anderen Autoren behandelt wurden, vermittelt die hier gebotene Zusammenschau völlig neue Durchblicke und Einsichten." Das muss einem doch runtergehen wie Öl, oder?
Mir war die Einschätzung von Peter Mittelstaedt in der Tat sehr wichtig, auch wenn letztlich die Gutachter aus der Literaturgeschichte über meine Note entschieden. Mittelstaedt ist Jahrgang 1929. In den 1950ern wurde er von Werner Heisenberg in Göttingen diplomiert und promoviert. Allein zeitlich gesehen war er noch sehr nahe dran an dem Geschehen. Außerdem hatte er eben direkten Kontakt mit einem der großen Protagonisten der modernen Physik.
Wie muss man sich eine Dissertation im Grenzgebiet zwischen Naturwissenschaft, Geschichte, Literatur und noch darüber hinaus vorstellen?
Der Aufwand war schon enorm. Da bis dato kaum Sekundärliteratur vorlag, musste ich mir die meisten Primärquellen per Fernleihe erschließen. Womöglich zählte ich von 1997 bis 1999 zu den Rekord-Bestellern in der Unibibliothek Köln. Tageszeitungen aus der Weimarer Republik lagen fast nur auf Microfiches vor, die ich mir alle bestellen musste. Anschließend habe ich sie in die Lesegeräte gepackt, ausgedruckt und ausgewertet. Zu Hause stehen immer noch neun zum Bersten gefüllte Ordner aus der Promotionszeit – mit Kopien aus den Gazetten, Illustrierten, Pamphleten und Büchern jener Jahre.
Das Thema "Einstein und seine Gegner" lässt dich bis heute nicht ganz los, wie deine jüngste Rezension aus Spektrum der Wissenschaft 7/2010 zeigt.
Richtig. Wobei es heute, da es viel mehr empirische Bestätigungen speziell der allgemeinen Relativitätstheorie gibt als noch zu Einsteins Lebzeiten, umso unverständlicher ist, dass hier teils immer noch Anstoß genommen wird.
Du bist ein Wanderer zwischen zwei Kulturen. Ist es gut, nicht in eine Schublade gesteckt werden zu können?
Zu Studienzeiten habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Menschen sehr unterschiedlich auf eine Fächerkombination wie Physik einerseits und Literatur, Philosophie, Kunstgeschichte andererseits reagieren können. Es gab da die Begeisterten ebenso wie die Schubladendenker, die mit so etwas nichts anfangen können. Fest steht: Für mich war dieses Doppelstudium genau das Richtige: In der Doktorarbeit konnte ich die Brücke schlagen, und das Über-den-Tellerrand-Blicken ist bis heute ein Leitmotiv meiner Arbeit. Ich hoffe, dass man dies auch den Spektrum-Publikationen – ob gedruckt oder digital – anmerken wird.
Carsten, ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche viel Erfolg bei den kommenden Aufgaben!
Carsten Könneker: Nicht erst jetzt – schon lange. Es sind die Inhalte, die für mich zählen. Mediengrenzen zwischen Zeitschrift, Web, Handy, mobilen Readern und so weiter verwischen zusehends. Natürlich gibt es bei jedem Einzelnen Vorlieben, wo er wie worüber informiert werden will. Wir Redakteure müssen jedenfalls die Möglichkeiten der jeweiligen Medien zum Glänzen bringen. Das redaktionelle Konzept eines Monatsmagazins ist jedoch selbstverständlich ein anderes als das einer tagesaktuellen Onlinepublikation.
Kannst du schon etwas darüber verraten, wohin die Reise für spektrumdirekt und Spektrum der Wissenschaft gehen soll, wenn du das Ruder in die Hand nimmst?
Am Prinzip der Zeitschrift, dass ausgewählte Wissenschaftler aktuelle Überblicke über ihre Forschungsfelder geben, ändern wir nichts. Sehr wohl aber legen wir unser Augenmerk auf Themenmix, Sprache und Bebilderung. So wird es mit Sicherheit am Layout und an den Kleintexten Korrekturen geben. Unsere Leserinnen und Leser bekommen das freilich erst in einigen Monaten zu Gesicht. Auch am hervorragenden wissenschaftsjournalistischen Angebot von spektrumdirekt rütteln wir grundsätzlich nicht. Wir planen aber einen Relaunch für das Frühjahr 2011, der eine intensivere Vernetzung der beiden Medien mit sich bringen wird. Im Moment läuft die konzeptionelle Vorarbeit, eingebettet in eine redaktionelle Gesamtstrategie des Verlags, welche Print und Online umfasst.
Wenn du dir noch nicht genauer in die Karten schauen lassen willst – mal anders gefragt: Wie wird man Spektrum-Chefredakteur?
Da gibt es natürlich kaum ein Rezept. In meinem Fall wurde ich im Jahr 2000 nach der Promotion von der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck angestellt und sollte dort zunächst eine Karriere als Verlagsmanager einschlagen. Als mich später der Verlag Spektrum der Wissenschaft, der zu Holtzbrinck gehört, übernahm, geriet ich aber sehr schnell auf die redaktionelle Schiene. Das passte auch prima, denn es sind die Inhalte und Produkte, die ich gestalten möchte.
Du hast 2007 die SciLogs initiiert und bloggst selbst mit. Wirst du noch dazu kommen, wenn du nun zusätzlich neben Gehirn&Geist sowie epoc die Redaktionen von Spektrum der Wissenschaft und spektrumdirekt leitest?
Die Zeit fürs Bloggen wurde bereits knapper und wird in den nächsten Monaten knapp bleiben, trotzdem gebe ich es nicht auf. Zum Beispiel möchte ich wieder mehr Gäste zum Thema der "2 Kulturen" in die "Gute Stube" einladen.
Vor den SciLogs hast du bereits die Zeitschrift Gehirn&Geist mit aus der Taufe gehoben, mittlerweile eine feste Institution, wenn es um Berichte aus Psychologie, Hirnforschung und angrenzende Gebiete geht.
Gehirn&Geist und ebenso epoc – unser Archäologie- und Geschichtsmagazin – sind wunderbare Publikationen. Gehirn&Geist zeichnet beispielsweise der interdisziplinäre Ansatz aus: Wir spießen ein Thema auf und fragen, was die Experten aus den verschiedenen relevanten Fachgebieten dazu zu sagen haben: Psychologen, Neuroforscher, Pädagogen, Mediziner, Therapieforscher und so weiter. Bei epoc faszinieren mich persönlich vor allem Artikel zu den naturwissenschaftlichen Methoden, die heute die Archäologie bereichern.
Du hast in den 1990ern zwei komplette Studiengänge absolviert: Physik und Literatur. Wolltest du damals schon Wissenschaftsjournalist werden?
Nein, auch wenn das im Nachhinein vielleicht so aussieht. Ich belegte auf dem Gymnasium die beiden Leistungskurse Mathematik und Sozialwissenschaften und fand den Spagat reizvoll. Als ich an der RWTH Aachen zu studieren begann, schrieb ich mich einfach doppelt ein. Nach Bologna ist so etwas heute vermutlich nicht mehr möglich.
Am Ende hast du in Köln in Germanistik promoviert, aber reichlich Physik in deine Doktorarbeit eingestreut. Sie betrachtet die öffentliche, vor allem die literarische und politische Auseinandersetzung mit der modernen Physik – ein Thema, das die Medien und Spektrum der Wissenschaft auch heute noch beschäftigt.
Ich untersuchte die Rezeption der modernen Physik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts außerhalb des wissenschaftlichen Fachdiskurses. Dabei stellte sich heraus, dass vor allem die Relativitätstheorie – in Ansätzen auch die Quantenmechanik – speziell in den Jahren der Weimarer Republik überraschend präsent war: in der Literatur und Philosophie, aber auch in Kunst, Architektur und Theologie – und nicht zuletzt im politischen Diskurs. Vielfach wurde die Physik verunglimpft, teils auf erschreckende Art und Weise. Andererseits wirkte ihre popularisierte Form stark inspirierend auf viele Intellektuelle. Im Zentrum meiner Arbeit stand die Medienberichterstattung etwa durch die Tagespresse.
Wissenschaftskommunikation als Thema zieht sich also durch dein Leben.
Das stimmt, wobei ich sie in der Doktorarbeit ja nur an einem historischen Beispiel analysiert habe. Heute praktiziere ich sie gemeinsam mit den hochkompetenten Redaktionen des Spektrum-Verlags.
Gab es in der Weimarer Republik schon einen differenzierten Wissenschaftsjournalismus, wie wir ihn heute kennen?
Nein. Der hat sich überhaupt erst in den letzten Jahrzehnten ausgebildet. Deshalb spricht man auch vom "verspäteten Ressort". Damals war das ein Sumpf, sowohl von den Ausmaßen als auch von der wissenschaftsjournalistischen Qualität. Bei den meisten Artikeln, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts über die Relativitätstheorie geschrieben wurden, schlackern einem die Ohren, wenn man sie heute liest. Es existierte ein sehr breites Spektrum von "allgemein verständlichen" Darstellungen und Einschätzungen. Die wenigsten davon waren wissenschaftlich fundiert, dafür aber meist in irgendeiner Weise weltanschaulich verfärbt.
Du hast nachgezeichnet, wie Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Thomas Mann, Robert Musil, Hermann Broch und Gottfried Benn von der Physik ihrer Zeit zum Schreiben animiert wurden. Wie ist das heute?
Das habe ich nicht alles im Blick. Aber Autoren wie Durs Grünbein, Charlotte Kerner und andere beobachten aktuelle Entwicklungen in der Wissenschaft und machen sie für ihre Werke fruchtbar. Daneben gibt es heute mit dem "Wissenschaftsthriller" fast schon ein eigenes Genre.
Wie wichtig war die Physik für die Literatur vor 80, 90 Jahren?
Die meisten Germanisten meinen vermutlich immer noch, die für ihre Autoren wichtigste Inspirationsquelle aus den "Wissenschaften" sei in jenen Jahren die Psychoanalyse gewesen. Studienarbeiten und Dissertationen über "Freud und XY" finden sich deshalb zuhauf. Ich bin der festen Überzeugung, dass zumindest für einige wichtige Autoren damals die Physik – oder das, was von ihr kolportiert wurde – aufregender war, gleich ob sie ihr im Einzelfall ablehnend oder euphorisch begegneten.
Oder neutral?
Das gab es fast gar nicht, denn die Physik geriet fatalerweise ab 1919 rasch zum Spielball auf dem Feld der damaligen politisch-weltanschaulichen Kämpfe. Rechte wie Linke spannten vor allem Einstein vor ihre Karren. Spätestens das hatte mit Wissenschaft nichts mehr zu tun, leider aber viel mit Antisemitismus und Nationalismus. Auch die sich damals formierenden Ultrarechten missbrauchten die Relativitätstheorie und ihren Schöpfer fleißig: Er wurde zu einer Art "Lieblingsfeind" für sie und stand wohl auch namentlich auf einer jener berüchtigten Listen von prominenten Juden, die es "auszuschalten" galt. Wohlweislich kehrte Einstein 1933 nicht mehr von einer Auslandsreise nach Deutschland zurück, sondern emigrierte dauerhaft in die USA.
Für viele Wissenschaften, gerade aber auch die Physik, bedeutete das "Dritte Reich" ja fast einen Todesstoß.
Bevor Hitler an die Macht kam, war die Physik in Deutschland führend in der Welt. Wesentliche Teile der Quantentheorie wurden in deutscher Sprache entwickelt. Für die Relativitätstheorie gilt das ohnehin.
Einer deiner Prüfer war der Physiker Peter Mittelstaedt, ein direkter Heisenberg-Schüler. Wie hat er persönlich deine Analyse aufgenommen, die ja unter anderem auch das Schicksal seines eigenen Doktorvaters im NS-Staat berührte?
Am Tag, nachdem ich ihm die Dissertation ins Fach gelegt hatte, bekam ich eine E-Mail von Mittelstaedt: Er habe die Arbeit nicht mehr aus der Hand gelegt und bis tief in die Nacht hinein gelesen: "Sie erklären so viel", schrieb er mir.
Später urteilte Mittelstaedt über deine Arbeit: "Dem Autor gelingt es, das ungemein komplizierte Geflecht aus theoretischer Physik, ihrer fatalen Vulgarisierung, moderner Literatur, Antisemitismus und NS-Ideologie mit großer Klarheit und viel Detailkenntnis zu schildern. Obwohl viele Einzelprobleme schon von anderen Autoren behandelt wurden, vermittelt die hier gebotene Zusammenschau völlig neue Durchblicke und Einsichten." Das muss einem doch runtergehen wie Öl, oder?
Mir war die Einschätzung von Peter Mittelstaedt in der Tat sehr wichtig, auch wenn letztlich die Gutachter aus der Literaturgeschichte über meine Note entschieden. Mittelstaedt ist Jahrgang 1929. In den 1950ern wurde er von Werner Heisenberg in Göttingen diplomiert und promoviert. Allein zeitlich gesehen war er noch sehr nahe dran an dem Geschehen. Außerdem hatte er eben direkten Kontakt mit einem der großen Protagonisten der modernen Physik.
Wie muss man sich eine Dissertation im Grenzgebiet zwischen Naturwissenschaft, Geschichte, Literatur und noch darüber hinaus vorstellen?
Der Aufwand war schon enorm. Da bis dato kaum Sekundärliteratur vorlag, musste ich mir die meisten Primärquellen per Fernleihe erschließen. Womöglich zählte ich von 1997 bis 1999 zu den Rekord-Bestellern in der Unibibliothek Köln. Tageszeitungen aus der Weimarer Republik lagen fast nur auf Microfiches vor, die ich mir alle bestellen musste. Anschließend habe ich sie in die Lesegeräte gepackt, ausgedruckt und ausgewertet. Zu Hause stehen immer noch neun zum Bersten gefüllte Ordner aus der Promotionszeit – mit Kopien aus den Gazetten, Illustrierten, Pamphleten und Büchern jener Jahre.
Das Thema "Einstein und seine Gegner" lässt dich bis heute nicht ganz los, wie deine jüngste Rezension aus Spektrum der Wissenschaft 7/2010 zeigt.
Richtig. Wobei es heute, da es viel mehr empirische Bestätigungen speziell der allgemeinen Relativitätstheorie gibt als noch zu Einsteins Lebzeiten, umso unverständlicher ist, dass hier teils immer noch Anstoß genommen wird.
Du bist ein Wanderer zwischen zwei Kulturen. Ist es gut, nicht in eine Schublade gesteckt werden zu können?
Zu Studienzeiten habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Menschen sehr unterschiedlich auf eine Fächerkombination wie Physik einerseits und Literatur, Philosophie, Kunstgeschichte andererseits reagieren können. Es gab da die Begeisterten ebenso wie die Schubladendenker, die mit so etwas nichts anfangen können. Fest steht: Für mich war dieses Doppelstudium genau das Richtige: In der Doktorarbeit konnte ich die Brücke schlagen, und das Über-den-Tellerrand-Blicken ist bis heute ein Leitmotiv meiner Arbeit. Ich hoffe, dass man dies auch den Spektrum-Publikationen – ob gedruckt oder digital – anmerken wird.
Carsten, ich bedanke mich für das Gespräch und wünsche viel Erfolg bei den kommenden Aufgaben!
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