Verhaltensforschung: Wann greifen Raubtiere Menschen an?
Seit 1955 hat es in Nordamerika, Europa und Russland fast 700 Berichte über Attacken von Raubtieren auf Menschen gegeben – und die Zahl der Angriffe pro Jahrzehnt nahm dabei stetig zu. Das erklären Vincenzo Penteriani von der Estación Biológica de Doñana in Sevilla und seine Kollegen nach einer Auswertung entsprechender Daten. Die Mehrzahl der Zwischenfälle geht dabei auf Kojoten und Pumas in Nordamerika, Braunbären in Europa und Eisbären in der Arktis zurück. Dagegen spielen Wölfe praktisch keine Rolle: In Europa notierten die Forscher keinen gesicherten Fall eines Wolfsangriffs auf Menschen, in Nordamerika fanden pro Jahr durchschnittlich weniger als eine Attacke statt.
Und obwohl die registrierten ernsten Vorfälle zwischen Menschen und Wildtieren kontinuierlich zunahmen, gebe es keinen Grund zur Panik. So löst riskantes menschliches Verhalten fast die Hälfte der Angriffe erst aus, wie Penteriani und Co ermittelten: Oft ließen Besucher von Nationalparks oder Wildnisgebieten beispielsweise ihre kleinen Kinder zumindest zeitweise allein zurück oder umherstreifen, was bei 50 Prozent der Pumaattacken der Fall war. Das Risiko erhöhte sich auch stark, wenn Wanderer ihren Hund ohne Leine laufen ließen, was Revier- oder Verteidigungsverhalten von Raubtieren auslösen kann – verschlimmert wird die Situation dann noch zusätzlich, wenn die Halter ihren Liebling retten wollen und eingreifen. Viele Fälle betrafen zudem Jäger, die angeschossene und verwundete Bären oder Wölfe suchten, die dann zum Konter ansetzten. Und schließlich machte es sich auch signifikant bemerkbar, wenn die letztlich Bedrohten in der Dämmerung oder während der Nacht in Raubtierrevieren aktiv waren. In der anderen Hälfte der Fälle war allerdings ebenfalls oft unbewusst falsches Verhalten der Auslöser – etwa wenn Menschen versehentlich zwischen Muttertier und Nachwuchs gerieten, sich in der Nähe eines Kadavers aufhielten oder zum Beispiel einem Bären begegneten, der Menschen mit leicht zugänglicher Nahrung assoziierte. Letzteres betrachten die Forscher als indirekt durch Risikoverhalten ausgelöst, weil diese Tiere zuvor entgegen gesetzlicher Regeln gefüttert worden waren oder auf Zeltplätzen ungesicherte Vorräte geplündert hatten. Viele Schwarzbären gelten deshalb in US-Nationalparks bereits als Problem.
Insgesamt müsse man sich jedoch nicht übermäßig vor diesen Fleischfressern fürchten, so die Autoren – wenn man sich richtig verhält und Kontakte richtig einschätzt. Über die Kontinente hinweg sind Angriffe sehr selten: Trotz Anstieg kommt es gegenwärtig pro Jahr nur zu durchschnittlich 24 Attacken, von denen rund vier tödlich enden. Deutlich mehr Personen sterben in den untersuchten Regionen jährlich durch Bienen, Schlangen und sogar Pflanzen fressende Huftiere. Allein in Deutschland gab es nach aktuellen Daten in den letzten Jahren im Mittel vier Todesfälle durch Hundeangriffe, in den USA sogar regelmäßig mehr als 30.
Zudem müsse man die Zahl der Angriffe in Relation zu den Menschenmassen sehen, die in der Natur ihren Freizeit- oder Berufsaktivitäten nachgehen. In den USA etwa besuchen mittlerweile jedes Jahr mehr als 100 Millionen Personen die Nationalparks und andere Schutzgebiete; viele davon zelten oder wandern dort, was sie unmittelbar in die Nähe von Beutegreifern bringt. Verschärfend wirkt sich schließlich noch aus, dass die Kontaktmöglichkeiten zwischen Mensch und Tier größer werden, weil viele Räume zersiedelt werden, sich die Fleischfresser an Menschen gewöhnen und ihre Scheu verlieren. Umgekehrt haben viele Menschen in den letzten Jahrzehnten verlernt, wie man sich richtig in der Wildnis oder gegenüber Wildtieren verhält, weil die kritischen Arten sehr selten oder regional sogar ausgestorben waren. Dank besserer Schutzmaßnahmen konnten sie sich wieder ausbreiten, weshalb auch Zwischenfälle wieder häufiger wurden. Angesichts der absoluten Zahlen sollte man sich aber dennoch vergegenwärtigen, dass Bienen, Mücken oder Haus- und Nutztiere eine deutlich größere Gefahr für unsere Gesundheit darstellen.
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