Bildungsforschung: Wann ist ein Kind reif für die Schule?
Leon ist sechs und kommt dieses Jahr zur Schule. Hannah auch, sie ist schon fast sieben. Emma dagegen hat im September Geburtstag und wäre bei Schulbeginn noch fünf. Ihre Eltern sind sich unsicher, sie wollen Emma mit einer frühen Einschulung nicht überfordern. Was tun? Zum Ende des Sommers werden in den neuen 1. Klassen wieder Fünf-, Sechs- und Siebenjährige gemeinsam lernen. In jedem Bundesland regeln die Einschulungsstichtage, wann ein Kind in die 1. Klasse kommen sollte: Sie variieren zwischen dem 30. Juni und dem 31. Dezember – das bedeutet, alle Kinder, die bis zu diesem Tag sechs Jahre alt werden, beginnen im gleichen Jahr mit der Schule. Eltern können ihre Kinder jedoch von der Regel befreien lassen, sie also entweder vorzeitig oder verzögert einschulen. Welche Vor- oder Nachteile können dadurch entstehen?
Nach dem Pisa-Schock im Jahr 2001 erklang der Ruf nach einer früheren Einschulung besonders laut. Zu alt seien unsere Schülerinnen und Schüler, wenn sie nach ihrem Abschluss auf den Arbeitsmarkt strömten. Im internationalen Wettbewerb könnten sie dadurch nicht so gut mithalten und würden noch dazu kürzer in die Rentenkasse einzahlen, hieß es. Außerdem wollte man gerade Kinder mit Migrationshintergrund, die oft nicht in die Kita gehen, früher fördern. Mehrere Bundesländer reagierten auf solche Forderungen, so auch Berlin: Die Stadt legte den Einschulungsstichtag verpflichtend vom 30. Juni auf den 31. Dezember. So kamen ab 2005 deutlich mehr Fünfjährige in die 1. Klassen als noch im Jahr zuvor.
Welche Auswirkungen die neue Regelung auf die Schulleistungen der Kinder hatte, untersuchte 2014 ein Team um Professor Martin Brunner, Leiter des Arbeitsbereichs für Evaluation und Qualitätswesen im Bildungswesen an der Freien Universität Berlin. Die Wissenschaftler fanden heraus (PDF), dass die relativ jüngeren Kinder des besonderen Einschulungsjahrgangs von 2005 in der 2. Klasse durchschnittlich etwas schwächer in Mathe- und Lesetests abschnitten als ihre älteren Mitschüler. "Bereits in der 3. Klasse waren diese Unterschiede dann aber fast verschwunden", erläutert Studienleiter Martin Brunner. In der 8. Klasse erbrachten die Jüngeren dann mindestens genauso gute, im Lesen sogar bessere Leistungen als die Älteren.
Jüngere Kinder holen auf
Die Berliner Studie kommt zu dem Ergebnis, dass weder das Einschulungsalter noch das Geschlecht, ein Migrationshintergrund oder die spezifische Zusammensetzung der Klassen den Schulerfolg eines Kindes maßgeblich bestimmt. "Innerhalb der Altersgruppen haben wir dagegen sehr große Leistungsunterschiede gefunden", erklärt Psychologe Brunner. "Es gab also relativ jüngere Schülerinnen und Schüler, die sehr leistungsstark waren, und auch ältere Schülerinnen und Schüler, die leistungsschwächer waren." Ein Befund macht stutzig: Die jüngeren Kinder verschwanden etwas häufiger aus der Stichprobe als die älteren. Etwa weil sie öfter sitzen geblieben waren? Das glaubt Brunner nicht: "Die Leistungsunterschiede zwischen den Altersgruppen fielen bereits in der 2. Klasse sehr gering aus, so dass der Grund für das Ausscheiden der jüngeren Kinder aus der Stichprobe unklar bleibt."
Ähnlich wie die Berliner Wissenschaftler kommen auch andere Bildungsforscher wie der Frankfurter Professor Andreas Gold zu dem Ergebnis, dass es zwar kleine Rückstände jüngerer Kinder in den ersten Schuljahren geben kann, diese sich aber im Lauf der Grundschule im Schnitt ausgleichen. Auch scheint es wenig zu nützen, Kinder extra ein Jahr später einzuschulen, damit diese bessere Noten erzielen, wie Untersuchungen aus Bochum und Essen zeigen.
Doch die Forschungslage ist bei Weitem nicht einheitlich. Einige Studien warnen sogar vor einem allzu frühen Schuleintritt. So verglichen die Bildungsökonomen Patrick Puhani und Andrea Weber im Jahr 2007 hessische Kinder, die mit sechs Jahren eingeschult wurden, mit ihren Klassenkameraden, die an ihrem ersten Schultag bereits sieben Jahre alt waren. Die Älteren schnitten in einem Lesetest zum Ende ihrer Grundschulzeit wesentlich besser ab und besuchten anschließend durchschnittlich ein halbes Jahr länger die weiterführende Schule – kamen also offenbar häufiger auf das Gymnasium oder die Realschule als ihre jüngeren Mitschülerinnen und Mitschüler.
Mehr ADHS-Diagnosen bei den Jüngeren
Vor einem längerfristigen Nachteil früh eingeschulter Kinder warnen auch die Wirtschaftswissenschaftlerinnen Kelly Bedard von der University of California in Santa Barbara und Elizabeth Dhuey von der University of Toronto: In einer internationalen Studie verglichen sie die Leistung von Schülerinnen und Schülern aus 19 Ländern weltweit in Mathematik und Naturwissenschaften. Es zeigte sich, dass die älteren Schülerinnen und Schüler in der 4. Klasse in den Tests besser abschnitten als die jüngeren Kinder ihres Jahrgangs. Dieser Unterscheid verringerte sich bis zu einem zweiten Test in der 8. Klasse, war jedoch weiterhin erkennbar. Relativ ältere Schülerinnen und Schüler aus den USA und Kanada nahmen zudem häufiger an Kursen teil, die sie auf die Aufnahme an einer Universität vorbereiteten. Sie haben also vermutlich eine größere Chance auf eine bessere Bildung und Berufslaufbahn als ihre jüngeren Klassenkameraden. Allerdings: Deutsche Schülerinnen und Schüler wurden in der weltweiten Studie nicht getestet. Ob die Ergebnisse für sie ebenfalls gelten, ist daher fraglich.
In der Forschung werden auch soziale Nachteile der früh eingeschulten Kinder diskutiert. So erhalten die jüngsten Kinder einer Klasse offenbar häufiger die Diagnose "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung" (ADHS). Das zeigten im Jahr 2015 Wissenschaftler vom Versorgungsatlas in Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Forscher vermuten, dass die relativ jüngeren Schülerinnen und Schüler oft impulsiver, hyperaktiver und unaufmerksamer wirkten als ihre älteren Klassenkameraden – und dieses Verhalten möglicherweise öfter als ADHS interpretiert werde.
Zudem weisen Untersuchungen aus den USA und Japan darauf hin, dass früh eingeschulte Jungen (nicht aber Mädchen) als Erwachsene weniger verdienen als später eingeschulte. Dagegen fand eine Studie aus Schweden keine Einkommensunterschiede, als sie auch die fehlende Zeit auf dem Arbeitsmarkt bei einer verzögerten Einschulung berücksichtigte. Insgesamt können die Ergebnisse internationaler Studien auf Grund der großen Unterschiede zwischen den Bildungssystemen der Länder jedoch nur bedingt auf Deutschland übertragen werden (siehe "Was die Ergebnisse der Schulstudien verzerrt").
"Viele Kinder haben selbst ein Gefühl dafür, ob sie in die Schule kommen wollen oder nicht"Rainer Dollase
Für den Bildungsforscher Rainer Dollase, emeritierter Professor der Universität Bielefeld, ist die Lage klar: "Die frühe Einschulung bringt nichts." Er verweist auch auf deutsche Untersuchungen aus den 1970er Jahren, in denen Kinder, die mit fünf Jahren in spezielle "Vorklassen" beziehungsweise "0. Klassen" eingeschult wurden (und dadurch ein Jahr länger zur Grundschule gingen), später in ihrer Schullaufbahn nicht erfolgreicher waren als Kinder, die regulär mit sechs Jahren in die 1. Klasse kamen. "Kleine Kinder bis durchschnittlich sieben Jahre lernen anders, nämlich alltagsorientiert, also am besten durch die traditionelle Kindergartenarbeit", ist Dollase überzeugt. Der Psychologe plädiert dafür, Kinder erst mit sieben Jahren einzuschulen – wie es auch im Pisa-Siegerland Finnland der Fall ist.
Martin Brunner findet dagegen den eigenen Eindruck der Eltern von ihrem Kind wichtiger als das Alter: "Ich empfehle Eltern, sich gut zu überlegen, wo ihr Kind leistungsmäßig steht. Und sich bei Unsicherheiten mit den Erzieherinnen und Erziehern in den Kitas zu beraten." Auch sei entscheidend, mit wem das Kind in eine Klasse kommen würde: "Wird ein Kind mit seinen Freunden zusammen eingeschult, kann das den Eintritt ins Schulleben erleichtern." Rainer Dollase meint: "Viele Kinder haben selbst ein Gefühl dafür, ob sie in die Schule kommen wollen oder nicht." Von Fragebögen im Internet, anhand derer die Eltern die Schulreife ihres Kindes einschätzen können, hält er nichts. Man solle sich lieber mit dem Kind und seinen Wünschen beschäftigen. Und im Zweifel mit der Einschulung "eher warten".
Was die Ergebnisse der Schulstudien verzerrt
Internationale Studienergebnisse sind nicht uneingeschränkt auf deutsche Schüler übertragbar, da sich die Kinderbetreuungs- und Bildungssysteme der Länder unterscheiden. Auch für deutsche Studien gilt: Die Befunde werden meist durch so genannte Selektionseffekte verzerrt. Denn früh eingeschulte Kinder kommen in der Regel deshalb eher in die 1. Klasse, weil ihre Eltern sie für besonders reif oder intelligent halten. Spät eingeschulte Kinder dagegen scheinen den Eltern noch nicht bereit für das schulische Lernen. Bei diesen Schülerinnen und Schülern handelt es sich also um gezielt ausgewählte Kinder. Dadurch werden keine durchschnittlichen Altersgruppen miteinander verglichen. Die Berliner Evaluation (PDF) hat hier einen Vorteil, da im Jahr 2005 nicht nur die besonders reifen, sondern (fast) alle Fünfjährigen eingeschult wurden. So konnten die Forscher eine relativ wenig selektierte Gruppe an fünfjährigen Kindern den sechsjährigen gegenüberstellen. Eine Einschränkung bleibt jedoch: Aus keiner Studie lassen sich abschließend kausale Aussagen ableiten, da die Kinder aus ethischen Gründen nicht experimentell in früh und spät eingeschulte Gruppen aufgeteilt werden können.
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