Atmosphärenforschung: Warme Arktis und Europas kalter Frühling
Nicht nur Deutschland bibbert im kalten April, ganz Europa liegt seit Wochen unter einer Schicht kalter Luft aus dem Nordosten begraben, und auch in Nordamerika blieb der Frühling bisher aus. Bis zu zehn Grad kälter als normal ist es dort in Teilen des mittleren Westens. Verantwortlich sind so genannte Tröge, südwärts gerichtete Schlaufen des Jetstreams, in denen kalte Polarluft weit nach Süden vorstößt.
Kalte Phasen sind im Winter eigentlich ganz normal. Als hauptsächlicher Verursacher kommt zuerst einmal die Nordatlantische Oszillation (NAO) in Frage, die das Wetter in weiten Regionen der Nordhalbkugel beeinflusst. Die NAO beschreibt den Luftdruckunterschied zwischen Azorenhoch und Islandtief.
Im positiven Modus der NAO sind beide stark und der Unterschied ist groß, im negativen Modus ist die Differenz dagegen gering. In diesem Fall ist der Polarwirbel, der die Kaltluft am Pol festhält, nur schwach, und der Jetstream macht weite Schlenker. Dadurch kann kalte Luft in den südwärts gerichteten Trögen weit nach Süden vordringen. Den kalten Winter 2009/10 zum Beispiel führten Forscher auf diesen negativen Modus der NAO zurück [1]. In Nordamerika verlagerte außerdem El Niño die Wanderungswege der Stürme, so dass zusätzlich zum kalten Wetter dort ungewöhnlich viel Schnee fiel.
Inzwischen allerdings weisen immer mehr Indizien darauf hin, dass ein weiterer Faktor für diese Kältewellen eine Rolle spielt, insbesondere für ungewöhnlich lang andauernde Großwetterlagen, wie Eurasien und Nordamerika sie derzeit erleben. Die Rede ist vom abschmelzenden Meereis in der Arktis.
"Neue Simulationen mit Atmosphärenmodellen deuten darauf hin, dass der jüngste Eisrückgang im Polarwinter ein bestimmtes Muster der atmosphärischen Zirkulation begünstigt, das für die häufigeren kalten Winter verantwortlich sein kann", erklärt Vladimir Semenov vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung GEOMAR in Kiel. "Wir arbeiten derzeit selbst an der Frage der kalten Winter."
Denn nicht nur die Eisbedeckung im Sommer geht seit Jahren zurück, auch im Winter ist ein immer größerer Anteil des Polarmeers eisfrei. Das offene Wasser verstärkt den Wärmetransfer zwischen Ozean und Atmosphäre in der kalten Polarnacht und verändert die Luftströmungen. Analysen zeigen, dass auf einen Herbst mit wenig Meereis ein Winter mit meist hohen Luftdrücken über Polarmeer und Nordatlantik folgt – und das, obwohl das Nordpolarmeer zu dieser Zeit schon längst wieder überfroren ist. Die Luftdruckverteilung in der Höhe ähnelt dann dem negativen Modus der NAO und hat einen vergleichbaren Effekt auf die Temperaturen in Europa und Nordamerika. Allerdings sind dank der veränderten Zirkulation die so entstehenden Wettermuster stabiler. Insbesondere deuten die Ergebnisse laut Semenov darauf hin, dass sich durch den Eisrückgang eine sehr stabile Hochdruckanomalie im Bereich der Barentssee bildet.
Das bestätigt auch die Ergebnisse von Simulationsrechnungen aus den Jahren 2010 und 2012, nach denen weniger Meereis eben die aktuelle Konstellation begünstigt [2], in der zwei Tiefdrucktröge seitlich eines sehr stabilen Hochs kalte Luft tief nach Nordamerika und Eurasien hineinführen – unabhängig von den bekannten Luftdruckschaukeln der nördlichen Hemisphäre. "Es handelt sich um einen lokalen Effekt, der von der Nordatlantischen Oszillation unabhängig zu sein scheint", so Semenov. Die Entwicklung könnte dazu führen, dass die Wahrscheinlichkeit für Kälteeinbrüche in Nordeuropa um den Faktor drei steigt, schätzten Semenov und seine Kollegen bereits 2010.
Noch allerdings ist die Verbindung von Meereis und Kälteeinbrüchen in Europa nur eine Hypothese. "Die Studien sind relativ neu, werden in der Fachcommunity intensiv diskutiert und müssen noch durch weitere Forschung erhärtet werden", gibt der Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom PIK in seinem Blog zu bedenken.
Auch der Meteorologe Bernhard Mühr vom Karlsruher Institut für Technologie hält einen Zusammenhang zwischen dem aktuellen Kälteeinbruch und dem Rückgang des Meereises zwar für möglich, andere Effekte möchte er allerdings nicht aus der Verantwortung entlassen: "Das zurückgehende Meereis ist nur ein Aspekt, und für sich allein genommen ist das keine ausreichende Erklärung. Wie groß die Rolle der einzelnen Einflüsse jeweils ist, lässt sich schwer quantifizieren."
Die Kältewelle im Winter 2011/12 zum Beispiel führten Meteorologen noch ganz klassisch auf den negativen Modus der Arktischen Oszillation zurück, der zu jenem Zeitpunkt den Polarwirbel schwächte und im Mittelmeerraum den strengsten Winter seit 50 Jahren verursachte. Außerdem gibt Mühr zu bedenken, dass Wissenschaftler mit Konstellationen wie der aktuellen noch zu wenig Erfahrung hätten, um alle Zusammenhänge sicher einzuordnen. Im Klimasystem, sagt er zum Abschluss, "gibt es keine einfachen Erklärungen".
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