Wissen: Warum Auswendiglernen doch zu etwas gut ist
Wer Schülerinnen und Schülern so richtig die Laune verderben will, braucht sie nur zu bitten, etwas auswendig zu lernen. Wozu sich diese Mühe machen – man findet doch alles in Sekundenschnelle im Internet, so lautet der Einwand. Die Motivation der Kinder hängt natürlich davon ab, in welchem Verhältnis Aufwand und Nutzen stehen. Man muss ihnen also einen guten Grund liefern, sich anzustrengen. Aber hat es überhaupt Vorteile, etwas auswendig zu lernen, wenn jeder von uns jederzeit auf das gesamte Wissen der Welt zugreifen kann? Ja, und zwar aus mehreren Gründen.
Der erste Grund ist die Zeit, die es braucht, die Informationen online zu finden. Man muss geeignete Suchbegriffe oder die richtige Frage formulieren, und selbst wenn es schnell geht, nervt es, immer wieder nachgucken zu müssen. Etwa im Mathematikunterricht, wenn es darum geht, Gleichungen zu lösen, und man dafür jedes Mal im Internet nach der passenden Formel suchen muss. Es geht viel schneller, wenn man die Formeln auswendig weiß und sofort anwenden kann. Es gibt hunderte ähnliche Beispiele, ob es um Fakten geht oder um Vokabeln. Auf eine Datenbank im eigenen Gehirn zuzugreifen, erspart ständige Unterbrechungen und letztlich viel Zeit.
Der zweite Vorteil besteht darin, dass man ein Repertoire an »Mustern« erwirbt, die als Vorlage dienen und sich neu kombinieren lassen. Ein Muster ist eine organisierte Abfolge von Elementen, zum Beispiel ein Gedicht, die Noten eines Klavierstücks oder Bewegungsabläufe im Sport. So werden im Karate die berühmten »Katas« eingeübt – elementare Bewegungsabläufe, die später im Kampf kombiniert werden können. Dasselbe gilt für das Erlernen eines Musikstücks oder einer Sprache: Indem wir uns eine Tonfolge oder einen Text bis ins kleinste Detail merken, prägen wir uns viele Elemente ein, auf die wir später zurückgreifen können. Ein Schüler, der einen Aufsatz schreibt, wird mehr und vielfältigere Ideen haben, wenn er historische Daten oder philosophische Zitate im Kopf hat, an denen er sich orientieren kann. Das spart Zeit und kognitive Ressourcen. Auswendiggelerntes kann sogar die Kreativität beflügeln, denn auch für Neukompositionen greift man in der Regel auf Bausteine zurück, die im Gedächtnis gespeichert sind.
Drittens ist Auswendiglernen für all jene Situationen unabdingbar, in denen wir uns kein Zögern erlauben können. Eine Schauspielerin kann es sich nicht leisten, auf der Bühne ins Stocken zu geraten. Sie muss ihren Text so gut und genau kennen, dass sie sich daneben noch auf ihr Spiel konzentrieren kann. Das Auswendiglernen befreit das Gehirn von der Arbeit, über die Grundlagen nachdenken zu müssen, so wie es beim Skifahren hilft, die Strecke zu kennen und damit Kapazitäten für andere Aufgaben frei zu halten. Ebenso hilft es einem Arzt im Gespräch mit Patienten, möglichst viele verschiedene Krankheiten, Symptome und Behandlungsmethoden im Kopf zu haben und miteinander verbinden zu können. Auch wenn ihn das nicht davon abhalten sollte, seine Diagnosen und Therapieentscheidungen noch einmal anhand der Fachliteratur nachzuprüfen.
Viertens und letztens erleichtert das Internalisieren von Wissen erheblich das Nachdenken und den weiteren Wissenserwerb. Die Gedächtnisexpertin Anne de Pomereu ermutigt in ihrem Buch »Éloge de la passoire« (auf Deutsch in etwa: »Loblied auf das Sieb«) beispielsweise dazu, die Regierungszeiten der französischen Könige auswendig zu lernen und als eine Art »Kleiderständer« zu nutzen, um historische Fakten daran »aufzuhängen«. Die Geburt des Protestantismus? Franz I., 1517. Der Beginn des Hundertjährigen Krieges? Philipp VI., 1336. Der zeitliche Kontext strukturiert die Gedanken und bewahrt davor, durcheinanderzukommen, Ereignisse falsch zu datieren oder falsche Schlüsse zu ziehen.
Wie Lernen und Erinnern funktionieren
Die vielen langfristigen Vorteile rechtfertigen die Mühen: Auswendiglernen gehört auch im Internet- und Handyzeitalter noch immer in die Schule. Zumal man es den Schülerinnen und Schülern möglichst einfach machen kann, indem man ihnen einige grundlegende Kenntnisse über die Funktionsweise des Gedächtnisses vermittelt. Sich zu erinnern bedeutet, eine Gedächtnisspur im Gehirn, das »Engramm«, zu reaktivieren. Ein solches Engramm entsteht, wenn sich die Synapsen – die Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen – so verändern, dass ein Impuls mit höherer Wahrscheinlichkeit von einem zum nächsten Neuron überspringt. Um die gemeinsame Aktivität einer Gruppe von Neuronen und damit eine Gedächtnisspur zu reaktivieren, braucht es die erregende Wirkung anderer Neurone, die mit ihnen auf Grund wiederkehrender gemeinsamer Aktivierungen verbunden sind.
Darauf beruht das Prinzip des assoziativen Lernens: Das Gedächtnis neigt dazu, Ereignisse miteinander zu verbinden, die mehr oder weniger zur gleichen Zeit stattfinden. Man kann dieses Prinzip zum Beispiel anwenden, um ein Lied einzuüben: indem man zuerst die erste Strophe wiederholt, dann die erste und die zweite, dann die ersten drei – mit dem Ziel, dass das Gehirn die Strophen mehrfach in dieser Reihenfolge miteinander verbindet und so auch die Engramme miteinander verbunden werden. Wenn das gelungen ist, genügt es bereits, sich an die ersten Noten oder Worte zu erinnern, und schon fließt die neuronale Aktivität von einem Engramm zum nächsten.
Um etwas effektiv auswendig zu lernen, sollte man drei Prinzipien anwenden: Assoziation, Repetition, Variation
Eine Assoziation kann sich aber auch zwischen zeitgleichen Sinneswahrnehmungen bilden, indem »neuronale Brücken« die gegenseitige Aktivierung der miteinander verbundenen Neurone erleichtern. Aus diesem Grund hilft es beim Lernen, möglichst viele verschiedene Sinneseindrücke zu sammeln. Beispielsweise sollte man die Aufmerksamkeit nicht nur auf die Bedeutung und den Klang eines Gedichts richten, sondern auch auf Details wie die Empfindung, die ein Laut bei übertriebener Aussprache weckt. So prägt sich das Gedicht auf unterschiedliche Weise ein, was möglichen Unsicherheiten beim Rezitieren vorbeugt. Kurz: Um etwas effektiv auswendig zu lernen, sollte man diese drei Prinzipien anwenden: Assoziation, Repetition, Variation.
Als Hirnforscher mache ich mir dennoch keine Illusionen: Das Auswendiglernen wird wohl weiter an Bedeutung verlieren. So war es bereits nach der Erfindung der Schrift und des Buchdrucks, als die mündliche Weitergabe als Lehrmethode ihre Vormachtstellung verlor. Ein umfangreiches Wissen wird zwar weiter von Vorteil sein. Doch der Schwerpunkt wird sich verlagern auf Fähigkeiten wie die Aufmerksamkeit, die es braucht, um in einem unendlichen Reservoir von Informationen die passenden zu finden und die richtigen auszuwählen.
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