Autoimmunkrankheiten: Risikofaktor: Weiblich
Die Leidensgeschichte von Melanie See begann 2005. Plötzlich fing sie an, stark zu schwitzen. Rasch nahm sie fünf Kilogramm ab. Ihr wurde schwindlig, wenn sie vom Bett zur Couch im Wohnzimmer ging. Ihre Brüste produzierten Milch, obwohl sie keinen Säugling stillte. Nach einer Reihe von Laboruntersuchungen stellte sich heraus: Die damals 45-Jährige hatte Morbus Basedow, eine Autoimmunerkrankung, bei der die Schilddrüse zu viel Hormone produziert.
Drei Jahre später – die Symptome ihrer Basedow-Krankheit hatte man mittlerweile medikamentös im Griff – verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand abermals rapide. Sie verlor erneut an Gewicht und fühlte sich extrem schwach. Die Ärzte diagnostizierten Zöliakie, eine weitere Autoimmunerkrankung, die von glutenhaltigen Lebensmitteln ausgelöst wird. Doch damit nicht genug, denn 2015 klagte See über neu aufgetretene starke Verdauungsstörungen und Muskelschmerzen. Ihre Ärzte in Chapel Hill waren nun ratlos und stellten unterschiedlichste Diagnosen. »Vaskulitis, Lupus, ich weiß gar nicht mehr, was noch alles«, erzählt See. »Jedenfalls stimmte etwas nicht mit mir. Meine Blutwerte und das, was aus der Muskelbiopsie vom Juni 2016 herauskam, passten in keine Schublade.« Nach vielen weiteren Untersuchungen wurde eine dritte Autoimmunkrankheit diagnostiziert: die seltene Mischkollagenose, die in einigen Merkmalen dem Lupus erythematodes ähnelt.
Mit einem Anteil von schätzungsweise 78 Prozent sind Frauen im Vergleich zu Männern auffallend oft von Autoimmunerkrankungen betroffen. Neben den Krankheiten, die bei Melanie See diagnostiziert wurden, gehören dazu multiple Sklerose (MS), rheumatoide Arthritis, Hashimoto-Thyreoiditis sowie weitere Leiden, bei denen das Immunsystem fälschlicherweise gesunde Zellen und Gewebe des Körpers angreift. Autoimmunkrankheiten gelten heute als fünfthäufigste Todesursache bei Frauen unter 65 Jahren.
»Wir müssen den biologischen Ursachen dieser Häufung bei Frauen auf den Grund gehen«, fordert die Immunologin Shannon Dunn von der kanadischen University of Toronto. »Dann verstehen wir nicht nur besser, wie Autoimmunkrankheiten entstehen – was uns wiederum neue Ansätze für Prävention und Therapie eröffnet. Sondern wir können womöglich auch die geschlechtlich unterschiedlichen Reaktionen auf Infektionen, Impfungen und Verletzungen sowie bei Krebserkrankungen aufklären.«
Dabei ist das drastische Ungleichgewicht in der Verteilung von Autoimmunerkrankungen keine neue Beobachtung. Als Ärzte solche Störungen vor mehr als einem Jahrhundert erstmals beschrieben, fiel ihnen bereits auf, dass es Frauen viel häufiger trifft als Männer. Damals neigten die Mediziner allerdings dazu, die einzelnen Autoimmunkrankheiten als eigenständige Syndrome mit jeweils spezifischen Ursachen zu betrachten. Sie ahnten nicht, dass diese anscheinend so unterschiedlichen Leiden grundlegende biologische Gemeinsamkeiten teilen.
Als jedoch die Forscherinnen und Forscher begannen, die Erkrankungen als Gruppe zu betrachten, fielen ihnen interessante Muster ins Auge. So korreliert der Krankheitsbeginn bei Frauen oft mit wichtigen physiologischen Übergangsprozessen. Lupus und multiple Sklerose beispielsweise manifestieren sich in der Regel erstmals im gebärfähigen Alter. Andere Autoimmunkrankheiten wie die rheumatoide Arthritis treten meist nach der Menopause auf. Innerhalb der Schwangerschaft kann sich die Symptomatik erheblich verändern: Bei Patientinnen mit rheumatoider Arthritis, multipler Sklerose oder Morbus Basedow gehen die Beschwerden dann meist zurück, während sie sich bei Lupus in dieser Zeit oft noch verschlimmern.
Was haben solche Übergangsphasen – Pubertät, Schwangerschaft, Wechseljahre – gemeinsam? Bei allen verändert sich erheblich die Produktion der Hormone Östrogen, Progesteron und Testosteron. So steigt der Östrogenspiegel in der Pubertät und der Schwangerschaft deutlich an. Inzwischen gilt nach Ansicht der Immunologin DeLisa Fairweather von der Mayo Clinic in Jacksonville (USA) als sicher, dass zumindest etliche Autoimmunkrankheiten durch Östrogen gesteuert werden. Tatsächlich scheinen orale Verhütungsmittel sowie Hormonersatztherapien mittels Östrogenen das Lupusrisiko zu erhöhen.
Wie die anderen Sexualhormone beeinflusst Östrogen unmittelbar die Aktivität von Erbfaktoren, die Immunfunktionen regulieren. Es schaltet beispielsweise das Gen für Interferon-gamma ein – eine Signalsubstanz, welche die Abwehr gegen Krankheitserreger steuert, aber ebenso Autoimmunreaktionen verstärken kann. Östrogen aktiviert zudem B-Zellen des Immunsystems, die wiederum Antikörper produzieren, um damit körperfremde Strukturen zu markieren und zu attackieren. So genannte Autoantikörper können jedoch auch körpereigene Zellen angreifen.
Östrogen beeinflusst unmittelbar die Aktivität von Erbfaktoren, die Immunfunktionen regulieren
Hormone, die eine Schlüsselrolle in der Schwangerschaft spielen, wie etwa Progesteron wirken sich ebenfalls dramatisch auf das Immunsystem aus. Viele wichtige Immunzellen, darunter T-Zellen und Makrophagen, tragen auf ihrer Oberfläche Bindungsstellen für Progesteron. Dockt das Hormon daran an, verschiebt es die Balance des Immunsystems, das dann verstärkt Antikörper und damit auch Autoantikörper produziert. Wegen der Beteiligung von T-Helferzellen des Typs 2 firmiert dieser Prozess unter den Namen TH2-Immunreaktion. Im Gegensatz dazu hält die TH1-Immunreaktion den Organismus von der Antikörperproduktion ab und aktiviert stattdessen Immunzellen, die andere Körperzellen direkt angreifen.
Der Anstieg des Progesteronspiegels könnte erklären, weshalb die Symptome von rheumatoider Arthritis und multipler Sklerose während der Schwangerschaft oft zurückgehen: Diese Krankheiten beruhen nicht auf TH2-, sondern auf TH1-Immunreaktionen, die durch Progesteron gedämpft werden. »Bei MS-Patientinnen erhöht sich jedoch kurz nach der Entbindung das Risiko für einen Krankheitsschub«, erläutert die Neurologin Tanuja Chitnis vom Brigham and Women’s Hospital in Boston. »Das hängt mit dem dramatischen Umschwung der Hormonlage zusammen.«
Geschlechtshormone beeinflussen die Aktivität von Schlüsselgenen des Immunsystems
Testosteron, das Frauen in viel geringerem Maß als Männer produzieren, stellt einen weiteren Mitspieler bei Autoimmunerkrankungen dar. Auf der Oberfläche von B- und T-Zellen sitzen Testosteronrezeptoren, und das Hormon wirkt weitgehend immunsuppressiv. Es unterdrückt Immunzellen einschließlich neutrophiler Granulozyten, natürlicher Killerzellen und Makrophagen – was erklären könnte, weshalb Männer tendenziell seltener von Autoimmunkrankheiten betroffen sind. Wie Studien ergaben, weisen MS-Patienten häufig niedrige Testosteronspiegel auf. Entsprechend zeigen Männer mit Hypogonadismus, deren Hoden wenig Testosteron produzieren, ein erhöhtes Risiko für Lupus erythematodes und rheumatoide Arthritis.
All diese Sexualhormone beeinflussen gleichfalls die Aktivität von Schlüsselgenen des Immunsystems. Ein Konsortium aus finnischen und deutschen Wissenschaftlern entdeckte 1997 ein Gen, das eine entscheidende Rolle bei Autoimmunerkrankungen spielt. Dieser Erbfaktor namens AIRE (für AutoImmun-REgulator) wird im Thymus aktiv, wo Vorläuferzellen zu T-Zellen heranreifen. Das entsprechende AIRE-Protein sorgt dafür, dass die heranreifenden T-Zellen wichtige körpereigene Eiweißstoffe kennen lernen und sie von womöglich gefährlichen Fremdproteinen unterscheiden. Auch werden dank AIRE fehlgesteuerte T-Zellen, die körpereigene Proteine angreifen, noch im Thymus vernichtet – bevor sie im Organismus Schaden anrichten können. Es überrascht daher nicht, dass Menschen mit einem mutierten AIRE-Gen mit größerer Wahrscheinlichkeit bestimmte Autoimmunerkrankungen entwickeln.
Wie sich herausstellte, wirken Sexualhormone an der Regulation der Aktivität von AIRE und ähnlichen Erbfaktoren mit. 2016 fanden Forscherinnen und Forscher der Pariser Sorbonne bei Mäusen heraus, dass Östrogen und Progesteron das AIRE-Gen hemmen und damit die Produktion des entsprechenden Proteins drosseln, während Testosteron sie ankurbelt. Wie das Team weiter beobachtete, bilden Frauen nach der Pubertät – vermutlich bedingt durch die Geschlechtshormone – weniger AIRE-Protein als Männer. Das bedeutet wiederum, dass mehr autoreaktive T-Zellen aus dem Thymus entkommen und Autoimmunkrankheiten verursachen können.
Doch trotz ihrer offenbar wichtigen Rolle können Sexualhormone nicht alles erklären. Denn manche Leiden wie Lupus oder MS brechen mitunter bereits in der Kindheit aus – also bevor die Spiegel von Östrogen und Progesteron in der Pubertät ansteigen. Es müssen demnach weitere Faktoren beteiligt sein. Einige Forscher konzentrieren sich daher auf den augenfälligsten zellulären Unterschied zwischen Mann und Frau: das zweite X-Chromosom.
Viele X-chromosomale Gene lassen sich direkt mit Autoimmunkrankheiten in Verbindung bringen
Laut Lehrbuchwissen besitzen Frauen zwei X-Chromosomen, von denen jedoch jeweils eines in jeder Zelle sehr früh während der Embryonalentwicklung abgeschaltet wird – ein Prozess, der als X-Inaktivierung bekannt ist. Das stillgelegte X-Chromosom kondensiert sich zu einer eng gepackten Struktur, die in jeder Zelle als so genanntes Barr-Körperchen eingelagert bleibt. Diese Abschaltung verhindert, dass zu viel X-chromosomale Proteine produziert werden.
In den letzten Jahren offenbarte sich allerdings, dass die X-Inaktivierung nicht ganz so vollständig abläuft wie zunächst vermutet. Laut Studien bleiben mindestens 15 Prozent der Gene auf dem vermeintlich stillgelegten X-Chromosom weiterhin aktiv; damit können diese Erbfaktoren bei Frauen für doppelt so viel Protein sorgen wie bei Männern. So werden bei Lupuspatientinnen ganz bestimmte Gene auf beiden X-Kopien abgelesen, was mit dem Schweregrad der Erkrankung korreliert: Je mehr von diesen aktiven X-chromosomalen Genen vorliegen, desto schlimmer sind die Symptome.
Tatsächlich lassen sich viele X-chromosomale Gene direkt mit Autoimmunkrankheiten in Verbindung bringen. Eines davon, das Gen TLR7 (Toll-like receptor 7), produziert das gleichnamige Protein, das bei Autoimmunkrankheiten wie Lupus erythematodes, Polymyositis, systemischer Sklerose und Sjögren-Syndrom eine Rolle spielt. TLR-7 hat die Aufgabe, Krankheitserreger an einfachen Mustern zu erkennen und Immunzellen auf sie aufmerksam zu machen. Zudem erhöht es die Produktion von entzündungsfördernden Signalsubstanzen, den Interferonen, welche die Autoimmunreaktion verstärken können.
Ein weiteres Gen, das bei Frauen häufig auf vermeintlich abgeschalteten X-Chromosomen aktiviert wird, heißt TASL (TLR adaptor interacting with endolysosomal SLC15A4). Es steigere die weibliche Interferonproduktion auf mindestens das Doppelte, erläutert der Mediziner Hal Scofield von der University of Oklahoma, der die Rolle der X-Inaktivierung bei Autoimmunkrankheiten erforscht.
Eine 2019 entdeckte Kuriosität bei der X-Inaktivierung spricht ebenfalls für deren Beteiligung an der Autoimmunität. Das Team um die Biomedizinerin Montserrat Anguera von der University of Pennsylvania hatte die Reifung junger T- und B-Zellen in weiblichen Mäusen untersucht. Wie sich dabei zeigte, wird bei diesen Zellen das zweite X-Chromosom nicht komplett stillgelegt, vielmehr ändert sich sein Zustand dynamisch. Dessen Gene können also relativ leicht aktiviert werden, obwohl sie eigentlich ausgeschaltet bleiben sollten – eine »verrückte Entdeckung«, wie Anguera meint.
Dass sich weibliche Immunzellen bei der X-Inaktivierung anders verhalten als die übrigen Körperzellen und damit das Risiko für Autoimmunerkrankungen steigern, war völlig unerwartet. Doch wie Angueras Team 2021 bestätigte, umgehen B-Zellen von Mädchen und Frauen mit Lupus erythematodes die normalen Mechanismen der X-Inaktivierung, was bei den Zellen wahrscheinlich dazu führt, dass sie mehr X-chromosomales Protein bilden, als sie eigentlich sollten.
Menschen mit einer abweichenden Anzahl von X-Chromosomen liefern ebenfalls Hinweise auf die Rolle der Geschlechtschromosomen bei Autoimmunerkrankungen: Männer mit dem Klinefelter-Syndrom, die neben ihrem Y- zwei X-Chromosomen besitzen, haben ein 14-fach höheres Lupusrisiko als Männer mit normalem Chromosomensatz. Entsprechend steigt bei Frauen mit drei X-Chromosomen die Wahrscheinlichkeit, an Lupus oder dem Sjögren-Syndrom zu erkranken, um den Faktor 2,5 beziehungsweise 2,9.
Weshalb laufen im weiblichen Organismus solche Mechanismen ab, wenn sie doch das Krankheitsrisiko erhöhen? Normalerweise eliminiert die Evolution im Lauf der Zeit Merkmale, die es der betreffenden Spezies erschweren, sich erfolgreich fortzupflanzen – und die X-chromosomale Autoimmunität steht dem eindeutig im Weg. Dieser Widerspruch lässt Evolutionsbiologen vermuten, dass das Phänomen auch einen wichtigen Vorteil aufweisen sollte.
Toleranz bei der Schwangerschaft
2019 stellte das Team um die Evolutionsbiologin Melissa Wilson von der Arizona State University die Hypothese der Schwangerschaftskompensation auf: Die Plazenta, die den Fötus mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt, entwickelte sich in der Stammesgeschichte der Säugetiere zu der Zeit, als auch die Geschlechtschromosomen entstanden; gleichzeitig traten zahlreiche zusätzliche Gene auf dem X-Chromosom auf. Diese drei Entwicklungen könnten demnach miteinander zusammenhängen. Während der Schwangerschaft wird der weibliche Organismus mit einem wachsenden Fötus konfrontiert, dessen DNA zur Hälfte vom Vater stammt und damit fremd ist. Die fötalen Zellen sollten daher das mütterliche Immunsystem eigentlich angreifen – was aber nicht geschieht. Des Weiteren toleriert die Mutter die vom Fötus gebildete und in den Uterus einwachsende Plazenta. Wie Wilson nun vermutet, haben sich die X-chromosomalen Gene und die unvollständige X-Inaktivierung so entwickelt, dass der weibliche Organismus auf die vorübergehenden immunologischen Herausforderungen flexibel reagieren kann. Entsprechend verändert sich die Immunlage während der Schwangerschaft dynamisch: Zu Beginn nehmen bestimmte Immunreaktionen zu, was der Plazenta hilft, neue Blutgefäße zu bilden. Etwa in der Mitte der Schwangerschaft lassen Immunität und Entzündungsreaktionen nach, um sich dann in Vorbereitung auf Wehen und Geburt wieder zu verstärken.
Die Autoimmunität könnte ein unerwünschter Nebeneffekt der komplexen Immunprozesse sein, auf die der weibliche Organismus angewiesen ist, um Kinder auf die Welt zu bringen
Andere Beobachtungen bestätigen die Vorhersagen der Hypothese zur Schwangerschaftskompensation. So bekommen Frauen mittlerweile im Vergleich zu vorherigen Jahrhunderten viel weniger Kinder – das weibliche Immunsystem wird also auch nicht mehr so oft supprimiert. Das könnte erklären, warum die Rate von Autoimmunkrankheiten bei Frauen heute zunimmt, während sie in der Vergangenheit weniger häufig auftraten. Wenngleich eine endgültige Bestätigung dieser Hypothese noch aussteht, hält es Wilson für möglich, dass »Plazentabildung und Schwangerschaft für die Entwicklung des weiblichen Immunsystems entscheidend sind – was wiederum ein Grund für die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei Autoimmunkrankheiten sein könnte«. Mit anderen Worten: Die Autoimmunität könnte ein unerwünschter Nebeneffekt der komplexen Immunprozesse sein, auf die der weibliche Organismus angewiesen ist, um Kinder auf die Welt zu bringen.
Doch längst nicht alle Immunphänomene lassen sich genetisch erklären. So kann ein eineiiger Zwilling eine Autoimmunerkrankung entwickeln, während der andere – mit praktisch identischem Genom – gesund bleibt. Die Umwelt hat hier also ein entscheidendes Wörtchen mitzureden.
Die Immunologin Jayne Danska von der University of Toronto verbrachte einen Großteil ihrer wissenschaftlichen Laufbahn damit, die Beziehung zwischen dem Geschlecht und der Genetik von Autoimmunerkrankungen zu ergründen. Sie wollte wissen, inwieweit sich Risikogene bei Männern und Frauen unterschiedlich auswirken. 2012 machte sie jedoch eine zufällige Entdeckung, die ihre Arbeit in eine neue Richtung lenken sollte. »Es gehört zu den Weisheiten der Wissenschaft, dass die besten Entdeckungen diejenigen sind, nach denen man gar nicht gesucht hat«, kommentiert sie.
Danska und ihr Team fahndeten nach Risikogenen für die Autoimmunkrankheit Diabetes mellitus Typ 1, bei der das Immunsystem die Insulin produzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse angreift. Die Forscher experimentierten mit einer im Labor gezüchteten Mauslinie, den so genannten NOD-Mäusen (non-obese diabetic mice). Diese Tiere eignen sich als Modell für die Krankheit – mit einer wichtigen Ausnahme: Typ-1-Diabetes gilt als eine der wenigen Autoimmunkrankheiten, die nicht gehäuft Frauen triff – weibliche NOD-Mäuse hingegen tragen ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko wie ihre männlichen Artgenossen.
Danska wusste, dass sich Umweltfaktoren und Gene manchmal gegenseitig beeinflussen, und sie hatte sich bereits mit Darmbakterien als Risikofaktor beschäftigt. Folglich fragte sie sich, ob Unterschiede im Mikrobiom mit dem erhöhten Diabetesrisiko der weiblichen Tiere zusammenhängen könnten. Das Team zog daher eine Gruppe NOD-Mäuse in einer Umgebung auf, die völlig frei von Bakterien und Viren war, also auch der üblichen Keime, die normalerweise den Darm besiedeln.
Dabei machte Danska die erste überraschende Beobachtung: Die keimfrei gehaltenen Tiere beider Geschlechter entwickelten gleich häufig einen Diabetes. »Der Geschlechtsunterschied verschwand völlig«, erinnert sie sich. »Mit diesem Ergebnis hatten wir überhaupt nicht gerechnet. Ich konnte es kaum glauben.«
Doch die Wiederholung des Experiments führte zum gleichen Befund, und weitere Untersuchungen brachten neue Überraschungen: Die Forscher transplantierten die Darmflora erwachsener männlicher NOD-Mäuse in junge weibliche Tiere, die noch keinen Diabetes entwickelt hatten – und daraufhin zu gesunden Mäusen ohne Zuckerkrankheit heranwuchsen.
Danskas 2013 publizierte Forschungsergebnisse lieferten den ersten Hinweis darauf, dass »die Darmmikroben die Autoimmunität beim weiblichen Geschlecht beeinflussen können«, erläutert der Rheumatologe Martin Kriegel von der Universität Münster. Dies stelle eine wichtige Erkenntnis dar, deren Hintergründe noch unbekannt seien.
Die Darmflora von Männern erhöht den Testosteronspiegel
Bislang weiß niemand, weshalb das männliche Darmmikrobiom protektiv wirken sollte. Danska und ihr Team stießen jedoch auf Hinweise darauf, dass Testosteron eine wichtige Rolle spielt: Die zu Diabetes neigenden, keimfrei aufgezogenen NOD-Mäusemännchen wiesen im Blut niedrigere Testosteronspiegel auf als Männchen mit normaler Darmflora. Und weibliche NOD-Nager, die mit Darmbakterien von männlichen Artgenossen vor der Erkrankung geschützt waren, zeigten höhere Testosteronwerte als Weibchen mit normal besiedeltem Darm.
All das deutet darauf hin, dass das Mikrobiom der Männchen den Testosteronspiegel erhöht und vorbeugend gegen Diabetes mellitus wirkt. Als Danska und ihre Kollegen die Darmflora männlicher Mäuse in Weibchen transplantierten und dann die Übertragung von Testosteronsignalen blockierten, stieg die Diabeteshäufigkeit wieder an.
Diese Beobachtungen decken sich mit Forschungsergebnissen zum Lupus erythematodes bei Männern: Wird das Testosteron blockier, steigt das Erkrankungsrisiko. Parallelen zeigen sich auch bei Untersuchungen an einem Mausstamm, dessen weibliche Tiere besonders anfällig für Lupus sind. Wird die Darmflora der Weibchen mit Antibiotika stark ausgedünnt, sinkt das Erkrankungsrisiko, berichteten Wissenschaftler der University of South Carolina 2020.
Unklar ist bislang, wie das Darmmikrobiom den Testosteronspiegel regulieren könnte oder umgekehrt. Danskas Forschungsergebnisse sprechen dafür, dass sich die Zusammensetzung des Mikrobioms bei männlichen und weiblichen Mäusen während der Geschlechtsreife zu unterscheiden beginnt. Das könnte sogar erklären, weshalb es bei Menschen kaum geschlechtsbedingte Unterschiede in der Häufigkeit von Typ-1-Diabetes gibt: Die Krankheit bricht in der Regel vor der Pubertät aus, also bevor eine geschlechtsspezifisch unterschiedliche Darmflora das Risiko beeinflussen könnte. Möglicherweise werde das Mikrobiom durch den plötzlichen Zustrom von Sexualhormonen in der Pubertät modifiziert; mit ziemlicher Sicherheit jedoch geschehe das wechselseitig, meint Kriegel: Die Darmflora reagiere auf die Sexualhormone und diese wiederum auf die Mikroben.
Mäuse sind natürlich keine Menschen. Danska ist dennoch davon überzeugt, dass ihre Forschungsergebnisse große Bedeutung für Autoimmunkrankheiten haben, die Frauen häufiger treffen. Möglicherweise wirken sich bestimmte Darmbakterien entscheidend auf die Autoimmunität aus. Wenn dem so ist, könnten Eingriffe in die Zusammensetzung des Mikrobioms solche Krankheiten verhindern.
Danska und Kriegel hoffen, mikrobiombasierte Therapien für Frauen mit hohem Risiko für Autoimmunerkrankungen entwickeln zu können – also das Mikrobiom so zu verändern, dass es besser schützt. Andere Forscher versuchen die Signalübertragung von Sexualhormonen zu beeinflussen, um das Risiko zu senken. Je mehr man über die Gründe für die erhöhte Anfälligkeit von Frauen lernt, desto mehr Möglichkeiten eröffnen sich, Autoimmunkrankheiten vorzubeugen.
Angesichts der Tatsache, dass X-Chromosomen, weibliche Geschlechtshormone und ein geschlechtsspezifisches Mikrobiom Risikofaktoren für Autoimmunerkrankungen zu sein scheinen, könnte man mutmaßen, die Biologie hätte sich gegen das weibliche Geschlecht verschworen. Die Bürde der Autoimmunität kann allerdings auch als ein Ausdruck der Bedeutung von Frauen für das Überleben unserer Spezies betrachtet werden. »Schließlich müssen Frauen aus immunologischer Sicht absolut Bemerkenswertes leisten, was von Männern schlicht und einfach nicht verlangt wird«, erläutert Danska. Autoimmunität mag der Preis sein, den Frauen für ihre physiologischen Höchstleistungen zahlen – doch es besteht Hoffnung, dass ihnen die Wissenschaft diese Bürde irgendwann abnehmen kann.
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