Coronavirus-Impfung: Warum BCG gegen Covid-19 wirken könnte
In Deutschland startet derzeit ein seltsam anmutender Versuch. 1000 Menschen, alle beschäftigt im medizinischen Bereich, sollen vor dem neuen Coronavirus geschützt werden – mit einem Tuberkulose-Impfstoff. Der ungewöhnliche klinische Test, durchgeführt unter Federführung des Mediziners Christoph Schindler von der Medizinischen Hochschule Hannover, basiert auf einer interessanten Beobachtung aus den frühen Tagen der Pandemie: Bereits im März bemerkten Fachleute, darunter ein Team um Gonzalo Otazu vom New York Institute of Technology, dass Covid-19 dort härter zuzuschlagen pflegte, wo es keine Impfpflicht gegen Tuberkulose gibt.
In Deutschland wird daher nun eine Variante des klassischen Tuberkulose-Impfstoffs BCG auf sein Potenzial gegen Covid-19 geprüft. Das Präparat VPM1002 entwickelten Forscher des Max-Planck-Instituts für Infektionsbiologie. »Der entscheidende Vorteil ist, dass der neue Impfstoff ein besseres Sicherheitsprofil hat«, sagt Studienleiter Christoph Schindler. »Das heißt, es liegen klinische Studiendaten vor, die zeigen, dass unsere Vakzine besser verträglich ist als BCG.«
Beide wirken allerdings auf die gleiche Weise. VPM1002 ist ein genetisch veränderter Cousin des Bakteriums Bacille Calmette-Guérin, mit dem seit Jahrzehnten Menschen weltweit gegen Tuberkulose geimpft werden. Anfang des 20. Jahrhundert züchteten Albert Calmette und Camille Guérin aus dem auch für Menschen ansteckenden Rinderbakterium Mycobacterium bovis – einem Verwandten des Tuberkuloseerregers – einen nur noch wenig aggressiven Bakterienstamm. Eine gezielte Infektion in der Haut mit BCG bietet auch Schutz vor Tuberkulose.
Die Superkraft des Bacille Calmette-Guérin
Doch die Impfung kann mehr als konventionelle Impfstoffe, und das ist der Grund, weshalb Schindler große Hoffnungen in das veränderte Bakterium setzt. Seit Jahren ergeben Untersuchungen, dass der Impfstoff vor einer Vielzahl von Erregern schützt. Bis zu ein Drittel aller Infektionskrankheiten seien durch die Vakzine verhindert worden, berichten zum Beispiel zwei dänische Fachleute auf der Basis jahrzehntelanger Forschung in Guinea-Bissau. Andere Untersuchungen deuten auf einen kleineren, aber durchaus realen Effekt: Das Bakterium scheint das Immunsystem allgemein zu stimulieren.
Vor allem aber mehren sich die Indizien, dass die Tuberkulose-Impfung auch vor Covid-19 schützen könnte. Die Coronavirus-Pandemie ist wie ein global angelegter Versuch: Weltweit verbreitet sich der Erreger, genauestens beobachtet von nationalen Behörden und der Weltöffentlichkeit. Gleichzeitig ist in manchen Ländern die BCG-Impfung von Kleinkindern vorgeschrieben, in anderen nicht. Auch in Deutschland fällt eine Besonderheit auf: Die Ostländer scheinen auffällig wenig betroffen zu sein, erklärte der Direktor des Robert Koch-Instituts Wieler zwischenzeitlich – und in der DDR war die BCG-Impfung bis zum Ende Pflicht.
Viele Fachleute sehen in solchen und anderen Regionenvergleichen ein klares Indiz dafür, dass die Impfung das neue Coronavirus bremsen kann. Am 30. April veröffentlichte eine Arbeitsgruppe um Martha K. Berg von der University of Michigan eine Analyse an mehr als 100 Ländern, laut der sowohl die Fallzahlen als auch die Zahl der Toten in den Ländern mit BCG-Impfpflicht deutlich langsamer wuchsen.
Lange war rätselhaft, wie dieser Schutz gegen viele unterschiedliche Krankheitserreger funktioniert. Erst in den letzten Jahren gelang es zumindest teilweise, den Mechanismus zu entschlüsseln – und die Fachleute erlebten eine Überraschung. Der Effekt basiert auf »trainierter Immunität«, einer besonderen Form des Immungedächtnisses, bei der die normalerweise nicht lernfähige angeborene Immunantwort durch die Impfung gewissermaßen trainiert wird, so dass sie etliche Erreger künftig besser bekämpfen kann. »Bei unserem Ansatz geht es darum, die ›trained immunity‹ zu nutzen«, bestätigt Schindler.
Das zweite Gedächtnis des Immunsystems
Die Zellen der angeborenen Immunantwort sind überall im Körper verteilt und greifen an, was sie nicht kennen. Sie räumen die allermeisten Krankheitserreger ab, bevor die erlernte Immunantwort überhaupt mitbekommt, dass etwas passiert ist. Allerdings lernen diese Zellen nicht aus ihren Erfahrungen, und immer wieder überwinden deswegen Krankheitserreger diese Barriere. Dann haben sie freie Bahn, bis die lernende Komponente des Immunsystems einen Steckbrief des Erregers erstellt hat und auf ihn zugeschnittene Waffen produzieren kann.
Die BCG-Vakzine löst anscheinend einen Effekt aus, der die Vorteile beider Systeme vereint. Das Bakterium programmiert demnach Zellen des angeborenen Immunsystems epigenetisch um, berichtete 2016 eine Arbeitsgruppe um Mihai Netea.
Diese Veränderung führe dazu, dass die Immunzellen mehr Zytokine ausschütten, wenn sie mit Erregern konfrontiert werden, berichtete Netea in einer weiteren Arbeit. In der Studie schützte die BCG-Immunisierung durch diesen Effekt Versuchspersonen mit Gelbfieberviren – nur eines von diversen Viren, für die eine solche Schutzwirkung festgestellt wurde.
Auf diesen breiten Schutzmechanismus setzt Schindler auch in seiner Studie. Denn die Recht niedrigen Coronavirus-Fallzahlen in Deutschland machen es womöglich schwer, die Wirksamkeit der Impfung zu beurteilen, weil die Wahrscheinlichkeit einer Infektion sinkt. Das soll in der klinischen Studie umgangen werden, indem Atemwegsinfektionen allgemein erfasst werden, sagt Schindler. Der Studienzeitraum sei außerdem so erweitert worden, dass die Untersuchung die nächste Grippesaison mit abdeckt. »Es geht nicht nur um eine Immunisierung gegen Sars-CoV-2, sondern auch gegen andere Krankheitserreger.«
Das Team erwartet, dass bei geimpften Studienteilnehmern Atemwegsinfektionen generell deutlich milder ablaufen. »Deswegen erfassen wir in unserer Studie, wer welche Atemwegssymptome hat und wie schwer diese ausgeprägt sind.« Aber natürlich wolle man in der aktuellen Pandemiesituation insbesondere die Wirksamkeit gegen das neue Coronavirus herausfinden. Daher seien Versuchspersonen gewählt worden, die an der vordersten Front der Krankenversorgung arbeiten und das höchste Risiko hätten, sich mit Covid-19, aber zum Beispiel auch mit Grippe zu infizieren, sagt der Mediziner.
»Wenn wir nur einen Arbeitsfehltag durch Atemwegsinfekte pro Person weniger messen, hätten wir mit unserer derzeitigen Analysemethode schon einen statistisch signifikanten Schutzeffekt.« Der würde, davon ist der Forscher überzeugt, für alle Atemwegsinfektionen gleichermaßen gelten – auch für Infektionen mit dem neuen Coronavirus. Deshalb könne man bei einem positiven Ergebnis durchaus überlegen, mittelfristig Risikopopulationen wie Klinikpersonal und älteren Menschen über 60, den Impfstoff zu verabreichen.
Bremst BCG das Virus wirklich?
Doch selbst wenn sich der Schutzeffekt bestätigt, ist bisher noch völlig unklar, ob sich auf diesem Weg der allgemeine Verlauf der Coronavirus-Epidemie nennenswert beeinflussen ließe – ob es also in der Bevölkerung messbar weniger Krankheits- und Todesfälle gäbe. Denn viele Fragen bleiben offen. Zum Beispiel, wie lange die Schutzwirkung anhält und wie sie vom Alter der Geimpften abhängt.
Nicht zuletzt herrscht ein chronischer Mangel an BCG, das in Industrieländern vorrangig gegen Blasenkrebs eingesetzt wird. Der Impfstoff ist aufwändig herzustellen und ist vergleichsweise preiswert; deswegen produzieren nur noch wenige Hersteller BCG. Wie schnell die Produktion steigen könnte, ist auch unklar: Das Impfbakterium wächst relativ langsam, das Präparat herzustellen, dauert etwa drei Monate.
Und auch das vorläufige Ergebnis des großen natürlichen Experiments mit Covid-19 und BCG ist keineswegs eindeutig, wie Kritiker einwerfen. So warnen einige Fachleute vor übereilten Schlussfolgerungen aus den aktuellen Daten. Eine Arbeitsgruppe fand im April zwar, dass Länder mit einer BCG-Impfpflicht weniger stark betroffen sind – doch nur, solange man die Anzahl der Tests nicht berücksichtigt.
Auch in einer Studie an über 3000 geimpften und ungeimpften Menschen fand ein Team aus Israel keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen. Und in Deutschland erinnert die Coronavirus-Verteilung inzwischen weniger an den einstigen eisernen Vorhang – sondern eher an die regionalen Unterschiede in der Bevölkerungsdichte.
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