Erdbeben in Marokko: Warum das Beben so große Schäden anrichtete
Mehr als 2900 Tote meldete Marokko drei Tage nach dem schweren Erdbeben vom 8. September 2023 im Südwesten des Landes. Laut Berichten wurden in der Region rund um das Epizentrum des Bebens viele Ortschaften weitgehend zerstört. Und erst nach und nach konnten Rettungsmannschaften zu den am stärksten betroffenen Gegenden vordringen. Doch warum bebt die Erde überhaupt am Westrand des afrikanischen Kontinents? Und warum mussten so viele Menschen sterben?
Ein wichtiger Grund, weshalb das Beben rund 70 Kilometer südwestlich der historischen Stadt Marrakesch so verheerend wirkte, ist seine geringe Tiefe. Nach Angaben des US Geological Survey (USGS) nahm der Bruch seinen Ausgang in rund 26 Kilometer Tiefe, was bei Erdbeben nicht allzu viel ist. Alles unter 70 Kilometern gilt als flach. Und je näher ein Erdbeben an der Oberfläche stattfindet, desto gefährlicher ist es. Denn je länger die Strecke ist, die die Erdbebenwellen zurücklegen, desto schwächer werden sie. Umgekehrt konzentriert sich die Energie eines Bebens in geringer Tiefe auf eine kleinere Region der Oberfläche und verursacht so stärkere Erschütterungen.
Deswegen können Beben der gleichen Magnitude – die also die gleiche Energie freisetzen – sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. Um diese Unterschiede zu erfassen, verwendet man eine zwölfstufige Skala der Bebenintensität. Das Beben von Samstag erreichte eine Intensität von acht bis neun. Das letzte große Erdbeben in der Region, das im Januar 1960 die Hafenstadt Agadir weitgehend zerstörte und mindestens 12 000 Menschen tötete, hatte zwar nur eine Magnitude von 5,8 und war damit rund 30-fach schwächer als das Beben von 2023 mit einer Magnitude von 6,8. Doch weil es in nur 15 Kilometer Tiefe stattfand, erreichte es an der Oberfläche sogar eine Intensität von zehn.
Erdbeben an einen unerwarteten Ort
Dabei mutet es kurios an, dass dort überhaupt so verheerende Erdbeben auftreten können. Auf Karten, die das Risiko durch Erdbeben anzeigen, erscheint diese Region fast vollständig grün – und geografisch leuchtet das auch ein. Rund ums Mittelmeer, wo Afrika mit Europa kollidiert, sind Erdbeben und Vulkane häufig. Doch der Südwesten von Marokko liegt weit entfernt von der Kollisionszone, und noch weiter von den tektonisch aktivsten Regionen, die sich vor Italien nach Kleinasien ziehen. Die nach Westen ragende Beule Afrikas scheint außerhalb der Reichweite des geologischen Aufruhrs zu sein.
Dass das nicht stimmt, zeigen allerdings zwei Besonderheiten, die nicht ganz zur Vorstellung des tektonischen Hinterlandes passen. Zum einen zieht sich der Hohe Atlas, ein bis zu 4000 Meter hoher Gebirgszug, von Nordosten nach Südwesten durch Marokko. Und draußen vor der Küste, in der direkten Verlängerung des Hohen Atlas liegen die bis heute sehr aktiven Vulkane der Kanaren.
Beide künden von einer uralten Schwächezone der Erdkruste, die sich durch die weit entfernte Kontinentkollision wieder bewegt. Dort, wo heute bis zu vier Kilometer hohe Berge stehen, klaffte einst ein tiefer Graben. Vor rund 200 Millionen Jahren wurde hier der Kontinent auseinandergerissen und bildete einen Senkungsgraben – ganz ähnlich dem Rheingraben in Europa. Als schließlich Afrika und Europa zusammenstießen, kehrte sich diese Bewegung jedoch um.
Der Druck von Nordosten presst seitdem die auseinandergebrochene Erdkruste zusammen und in die Höhe, gleichzeitig verschieben sich die Krustenblöcke seitlich gegeneinander. Die Störung in der Struktur der Erdkruste ist so ausgeprägt, dass 2007 ein Team um Enzo Mantovani von der Università degli Studi di Siena vorschlug, der Hohe Atlas und die Kanaren seien Teil einer Grenze zwischen Erdplatten: der Afrikanischen Platte im Süden und einer so genannten Mikroplatte im Nordwesten.
Für eine Plattengrenze sind im Hohen Atlas eigentlich zu wenig Erdbeben zu verzeichnen – seit dem verheerenden Beben von 1960 blieb die Region seismisch ruhig. Das letzte größere Erdbeben in Marokko dagegen fand 2004 dort statt, wo man es erwarten würde: an der Mittelmeerküste rund 600 Kilometer nordöstlich von Marrakesch. Diese Ruhe ist ein weiterer Grund für die hohe Opferzahl. Schätzungen der Bebengefahr basieren meist auf historischen Aufzeichnungen, so dass das Risiko in Regionen mit großen Abständen zwischen Erdbeben systematisch unterschätzt wird.
Die größte Gefahr sind die Häuser
In klassischen Erdbebenregionen gelten oft Bauvorschriften, durch die Häuser bei Erschütterungen weniger leicht einstürzen. Dort sind meist auch ältere Gebäude widerstandsfähiger gegenüber Erdbeben, weil sie zum Beispiel auf einem Holzrahmen basieren. Im nun betroffenen Teil Marokkos stürzten dagegen besonders in kleineren Orten näher am Epizentrum sehr viele Lehmziegel- und Steinmauern komplett ein und begruben die Bewohner unter sich. Bei einem Erdbeben werden derart brüchige Strukturen durch die horizontalen Kräfte häufig zertrümmert, so dass sich anders als bei modernen Stahlbetonstrukturen keine Hohlräume bilden, in denen Menschen überleben können.
Auch in diesem Punkt ähnelt das aktuelle Beben von Marokko seinem Vorgänger im Jahr 1960: Ein großer Teil der Todesopfer geht darauf zurück, dass nicht auf Erdbeben ausgelegte Gebäude einstürzten. Neben den sehr spröden Lehmziegel- und Stampflehmmauern brachen 1960 viele schlecht gebaute moderne Gebäude zusammen, die in der betroffenen Hafenstadt Agadir in den Boomjahren nach dem Zweiten Weltkrieg hochgezogen worden waren.
Das Problem betrifft viele Regionen der Welt, besonders solche, in denen das Baumaterial den größten Teil der Kosten für ein Gebäude verursacht. Beim schweren Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar 2023 stürzten ebenfalls viele schlecht gebaute Häuser ein und begruben Menschen unter sich. In Marokko zeichnet sich ab, dass mehr als die Stärke des Bebens die fragile Konstruktion vieler Gebäude hinter der hohen Zahl an Todesopfern steckt. Dabei müsste man nicht einmal lange nach besseren Vorbildern suchen: Schon 1960 überstand ein Teil der modernen Stahlbetonbauten in Agadir das Beben nahezu ohne Schäden.
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