Lebenszufriedenheit: Warum das Glück im Norden liegt
Matti mag es gar nicht, wenn man ihm zu eng auf die Pelle rückt. Smalltalk ist ihm ein Gräuel, besonders Gespräche mit Fremden. Er hasst es, im Mittelpunkt zu stehen. Dass er lächelt oder gar lacht, ist ausgesprochen selten.
Wer Matti näher kennen lernen möchte, der sollte einen Blick auf die Website finnishnightmares.blogspot.com werfen. Die Zeichnerin Karoliina Korhonen veröffentlicht dort regelmäßig kleine Cartoons, die Situationen aus dem Alltag ihrer Kunstfigur zeigen. Matti sei ein »stereotypischer Finne«, schreibt sie in ihrem Blog. Tatsächlich gelten die Einwohnerinnen und Einwohner des nordeuropäischen Landes als ziemlich introvertiert. Größere Gefühlsäußerungen sind ihnen fremd (es gibt Matti-T-Shirts mit der Aufschrift »I'm not sad or bored. I'm Finnish«). Doch selbst wenn es ihnen nicht ins Gesicht geschrieben ist, gelten Finninnen und Finnen als ein ausgesprochen glücklicher Menschenschlag: Sie stehen seit Jahren auf Platz 1 des »World Happiness Report«, nun zum sechsten Mal in Folge. Warum ist das so?
Um eine Sache gleich einmal klarzustellen: Der Report trägt seinen Namen eigentlich nicht zu Recht. Streng genommen geht es darin nämlich gar nicht um Glück. Grundlage der Rangliste, die von einer Initiative der Vereinten Nationen publiziert wird, ist eine Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Gallup. Darin werden Jahr für Jahr in knapp 150 Ländern rund um den Globus jeweils rund 1000 Männer und Frauen befragt. Unter anderem sollen sie Noten für ihr Leben verteilen – von 0 bis 10. Die Frage zielt also eher auf die Lebenszufriedenheit ab: darauf, wie Menschen ihr Leben einordnen, wenn sie gedanklich Bilanz ziehen. Zufriedenheit wird daher auch als kognitive Dimension des Wohlbefindens bezeichnet, Glück dagegen als affektive, also gefühlsmäßige Dimension.
Die drei Sorten des finnischen Glücks
Das hat seinen Grund. »Das Glückserleben schwankt; Zufriedenheit ist dagegen unabhängiger von kurzfristigen Einflüssen«, erklärt der Glücksforscher Uwe Jensen, Professor für Statistik und Ökonometrie an der Universität Kiel. Im Finnischen gebe es sogar drei Begriffe für eine positive Stimmung; je nachdem, wie lange sie andauere, erklärt Karoliina Korhonen: »iloisuus« (ein momentanes, intensives Glücksgefühl), »onnellisuus« (ein ruhiger Glückszustand, der Tage andauern kann) und »tyytyväisyys« (eine langfristige Zufriedenheit mit den Lebensumständen).
Das Ranking im »World Happiness Report« basiert einzig auf dem Durchschnitt der vergebenen Noten für die Lebenszufriedenheit. Deutschland kommt in der aktuellen Ausgabe des Reports mit einem Wert von 6,9 auf Rang 16, nahezu gleichauf mit den USA. Spitzenreiter Finnland erzielt 7,8 Punkte. Doch geht diese Differenz tatsächlich auf eine unterschiedliche Lebenszufriedenheit zurück? Schließlich könnten auch kulturelle Einflüsse eine Rolle spielen. Wenn etwa in einem Land Zufriedenheit oder Glück als höchst erstrebenswert gilt, könnte das die Befragten dazu bewegen, ihr Kreuzchen weiter oben auf der Skala zu machen – einfach um der gesellschaftlichen Norm zu entsprechen. Dieser Effekt nennt sich »soziale Erwünschtheit«, und es gibt Anhaltspunkte dafür, dass er die Ergebnisse von Glücksumfragen tatsächlich beeinflusst. Däninnen und Dänen schrecken zum Beispiel davor zurück, sich als unzufrieden zu bezeichnen. Möglicherweise verzerrt das ihre Antworten zu positiveren Werten, wie eine 2015 erschienene Studie nahelegt. »Durch die Art und Weise, wie man genau nach Lebenszufriedenheit fragt, lassen sich solche Effekte aber minimieren«, sagt Uwe Jensen von der Universität Kiel.
Dennoch sind Ländervergleiche wie der im »World Happiness Report« sicher mit etwas Vorsicht zu genießen. Angenommen, die Werte treffen trotzdem zu: Was bedeutet so ein Unterschied von 0,9 Punkten eigentlich genau? Anhaltspunkte liefert eine Studie, die 2008 von vier Forschern aus Frankreich, England und den USA veröffentlicht wurde. Sie hatten Daten des so genannten Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ausgewertet. Seit fast 40 Jahren werden darin Menschen in Deutschland jährlich zu verschiedenen Themen interviewt. Unter den Fragen ist auch eine nach der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Sie ähnelt der im »World Happiness Report«, auch wenn sie nicht identisch ist.
Gegenüber dem »World Happiness Report« hat das SOEP einen entscheidenden Vorteil: In ihm werden jedes Jahr dieselben Personen befragt. An den Ergebnissen lässt sich daher ablesen, wie sich Ereignisse wie der Verlust des Jobs oder der Tod eines Angehörigen auf das individuelle Wohlbefinden auswirken. Wenn die Partnerin oder der Partner stirbt, verringert das demnach die Lebenszufriedenheit um 1,2 bis 1,4 Punkte. Nach einer Kündigung nimmt sie dagegen (im Vergleich zu den Werten drei Jahre vor dem Jobverlust) um 0,5 bis 0,8 Punkte ab – und Deutschland und Finnland trennt sogar mehr als das. Diese Daten legen nahe, dass Finninnen und Finnen substanziell zufriedener mit ihrem Leben sind als Deutsche.
»Wir sprechen von den großen vier Gs des Glücks – Gesundheit, Gemeinschaft, Geld und Genetik«Bernd Raffelhüschen, Professor für Ökonomie von der Universität Freiburg
Auch Dänemark, Island, Schweden und Norwegen liegen in dem Ranking der Vereinten Nationen traditionell unter den Top 10. 2020 haben vier Forscher diesem Phänomen sogar ein eigenes umfassendes Kapitel im »World Happiness Report« gewidmet. Darin gehen sie möglichen Ursachen für die »Nordische Außergewöhnlichkeit« (so die Kapitelüberschrift) auf den Grund. Und sie verbannen auch einige Einwände ins Reich der Mythen – etwa, dass das vergleichsweise schlechte Wetter eigentlich zu Lasten der Lebenszufriedenheit gehen müsste. Zwar stimmt es, dass dieser Faktor einen Einfluss hat: So sind die Menschen in Deutschland im Sommer zufriedener als in der dunklen Jahreszeit. Insgesamt sei dieser Effekt aber gering, schreiben die Autoren. Zumal wir uns an die klimatischen Bedingungen gewöhnen, mit denen wir aufwachsen. Wichtiger Glücksfaktor ist dagegen ein starkes soziales Netz. Wer nicht befürchten muss, nach einer Kündigung, bei einer längeren Krankheit oder im Alter in die Armut abzurutschen, ist mit seinem Leben zufriedener. Gleiches gilt für eine gute Gesundheitsversorgung, die allen Menschen offensteht, sowie für starke Arbeitnehmerrechte.
Ein weiterer Punkt: Nordeuropäische Staaten verfügen über ein gut funktionierendes Gemeinwesen. Die Kriminalitätsrate ist relativ gering, ebenso wie die Korruption. Die Schulen schneiden im Pisa-Vergleich vergleichsweise gut ab; Busse und Bahnen fahren pünktlich. Studien zeigen, dass diese Faktoren messbare Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit haben: Verbessert sich ein Land in diesen Indikatoren, steigt in der Regel auch sein Punktwert im Weltglücksreport.
Wenn Verbrechen eher die Ausnahme als die Regel sind, hat das zudem noch weitere positive Effekte: In Dänemark, Norwegen, Finnland und Schweden ist das Vertrauen in die Mitmenschen groß, entsprechend auch der soziale Zusammenhalt. Und der gilt ebenfalls als glücksfördernd. »Finnland ist ein relativ sicheres Land, und wir können unseren Entscheidungsträgern größtenteils vertrauen«, sagt auch die Künstlerin Karoliina Korhonen. Außerdem stehe das kostenlose Bildungs- und Gesundheitssystem für alle offen. »Diese Umstände machen das Leben in Finnland stabil und friedlich.«
Dazu dürfte zusätzlich die liberale Grundhaltung in den Ländern des Nordens beitragen. Sie schreiben ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht vor, wie diese zu leben haben. Gleichberechtigung wird dort großgeschrieben. Das erleichtert es, das Leben nach eigenen Vorstellungen und Wünschen zu gestalten. Diese Freiheit ist ein ganz erheblicher Glücksfaktor, wie die Forschung zeigt.
Dazu braucht es natürlich auch Geld. Wer arm ist, dem geht es meist primär darum, sich und seine Familie zu ernähren – nicht, sich selbst zu verwirklichen. Ausreichende Finanzen sind daher eine wichtige Voraussetzung für ein zufriedenes Leben. Nordeuropäische Länder sind vergleichsweise wohlhabend. Zudem klafft in ihnen die Schere zwischen Arm und Reich nicht so weit auseinander wie andernorts. Ist der Wohlstand sehr ungleich verteilt, leidet darunter das Glück ebenso wie das Vertrauen zu den Mitmenschen.
Die nordischen Glücksgene
Mit statistischen Methoden kann man schätzen, wie viel diese Faktoren zum Glücksvorsprung im Norden beitragen. Doch selbst wenn man alle zusammennimmt, bleibt ein erheblicher Rest ungeklärt. Es muss also noch weitere Ursachen für ein zufriedenes Leben geben. Beispielsweise die Erbanlagen. »Lebenszufriedenheit ist auch eine Frage der Mentalität«, sagt der Glücksforscher Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg. Der wissenschaftliche Kopf hinter dem jährlich erscheinenden »SKL Glücksatlas« analysiert seit 2011 die Lebenszufriedenheit der Deutschen. »Ob wir positiv oder negativ auf die Welt blicken, ist zumindest zum Teil in unseren Genen fixiert«, erklärt der Ökonomieprofessor. »Wir sprechen daher auch von den großen vier Gs des Glücks – Gesundheit, Gemeinschaft, Geld und Genetik.«
Tatsächlich dokumentieren Zwillingsstudien, dass Lebenszufriedenheit zum Teil angeboren ist. Die Verhaltensgenetikerin Meike Bartels von der Universität Amsterdam hat 2015 eine umfangreiche Analyse dazu veröffentlicht. Basierend auf Daten von mehr als 55 000 Frauen und Männern kommt sie auf eine Erblichkeit von 32 Prozent. Möglicherweise sind Menschen aus Nordeuropa also auch auf Grund ihrer genetischen Ausstattung zufriedener.
»Skandinavier haben hinsichtlich ihrer Erbanlagen einen Vorteil«, meint etwa der Kieler Glücksforscher Uwe Jensen. Belege dafür liefert eine Studie aus dem Jahr 2016. Darin untersuchen die Wirtschaftswissenschaftler Eugenio Proto und Andrew J. Oswald von der University of Warwick in England, wie sich der »genetische Abstand« einer Nation vom (besonders zufriedenen) Referenzland Dänemark auf die Lebenszufriedenheit auswirkt. Tatsächlich waren Befragte aus Ländern, die Dänemark hinsichtlich der Erbanlagen ähneln, im Schnitt zufriedener. Je geringer der genetische Abstand, desto größer war der »Glücksvorteil«.
Vielleicht erklärt dieser Effekt auch, warum Schleswig-Holstein im bereits erwähnten Glücksatlas traditionell so gut abschneidet. Seit 2013 belegt das an Dänemark angrenzende Bundesland im deutschlandweiten Vergleich stets den ersten Platz. »Für Menschen aus Schleswig-Holstein ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie in ihrer genetischen Ausstattung ihren nördlichen Nachbarn ähneln«, erklärt Jensen. »Ich bin dafür das beste Beispiel: Der väterliche Teil meiner Vorfahren stammt aus Dänemark.« Wie groß dieser genetische Beitrag zur Lebenszufriedenheit zwischen Flensburg und Brunsbüttel tatsächlich ist, dazu gibt es allerdings keine belastbaren Daten.
Die Bundesländer-Ranglisten sagen wenig aus
Bundesländer-Ranglisten wie die im Glücksatlas sind zudem mit erheblicher Vorsicht zu genießen. Darauf haben bereits 2013 Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hingewiesen. So basiert der Atlas in seiner aktuellen Ausgabe auf Angaben von 16 000 Personen, also einer vergleichsweise großen repräsentativen Stichprobe. In Schleswig-Holstein leben davon allerdings gerade einmal 453. Der Zufriedenheitswert von 7,14 für das nördlichste Bundesland errechnet sich einzig und allein aus deren Angaben. Würde man aus den rund 2,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern Schleswig-Holstein 453 andere aussuchen und befragen, wäre das Ergebnis wohl nicht genau 7,14. Es läge mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen ungefähr 6,9 und 7,4 – das ist das so genannte Konfidenzintervall. Je kleiner die Stichprobe, desto breiter wird dieses Intervall (oder anders gesagt: desto unsicherer ist der ermittelte Zufriedenheitswert).
Es kann also gut sein, dass die Zufriedenheit in Schleswig-Holstein eigentlich bei 6,9 liegt. Umgekehrt kommt Bremen zwar auf einen Durchschnittswert von 6,58 (und damit auf Platz 12). Dort wurden aber so wenige Menschen befragt, dass das Konfidenzintervall bis 7 reicht. Vielleicht sind die Menschen dort also sogar glücklicher als die im hohen Norden. Legt man die Konfidenzintervalle sämtlicher Bundesländer zu Grunde, bleibt von der angeblichen Spitzenposition Schleswig-Holsteins nicht viel übrig. Die Daten belegen lediglich, dass sich das nördlichste deutsche Bundesland mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit unter den Top 10 befindet. Menschen aus Schleswig-Holstein sind demnach sehr wahrscheinlich zufriedener als solche aus Berlin (Rang 14) oder Thüringen (13). Ob sie aber auch die Bayern (2) hinter sich lassen, ist statistisch gesehen offen. Gut möglich, dass die Unterschiede zwischen diesen Ländern rein auf Zufall beruhen.
Statistisch belastbar ist dagegen die Beobachtung, dass Westdeutsche im Schnitt zufriedener sind als Ostdeutsche. Ein Grund dafür liegt in der Altersstruktur: Im Westen liegt der Anteil jüngerer Menschen höher. »Und in jungen Jahren ist man im Schnitt zufriedener«, sagt Glücksforscher Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg. In den ostdeutschen Bundesländern ist zudem der Lebensstandard etwas geringer und die Arbeitslosenquote höher. Allerdings ist »der Osten« keine einheitliche Gruppe – Brandenburg etwa kommt im aktuellen Glücksatlas auf Rang 5.
Das Leid im Schatten des Glücks
Die Konfidenzintervalle im »World Happiness Report« sind übrigens etwas schmaler. Der Vorsprung Finnlands vor dem zweitplatzierten Dänemark war 2023 wie im Vorjahr so groß, dass mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, dass er tatsächlich existiert. Dennoch ist auch manchen Finninnen und Finnen ihr erster Platz suspekt. Die Psychologin Jennifer De Paola von der Universität Helsinki hat kürzlich für eine Studie die Kommentare von Zeitungsleserinnen und -lesern zum Weltglücksreport ausgewertet. Erstaunlich viele von ihnen stellten die Ergebnisse in Frage. Tatsächlich leiden in den skandinavischen Ländern weit mehr Menschen unter chronischen Depressionen als etwa in Griechenland (Rang 58 des Glücks-Rankings) oder Malta (Rang 33). Auch die Suizidrate ist dort relativ hoch. Das stellt die Ergebnisse des Reports nicht per se in Frage. Dennoch zeigt es, dass die Situation nicht so homogen ist, wie der Weltglücksreport es suggeriert.
Auch in glücklichen Ländern gibt es unglückliche Menschen. Der nordische Ministerrat hat darauf 2018 unter dem Titel »In the Shadow of Happiness« hingewiesen. Es gibt sogar Anzeichen dafür, dass Männer und Frauen, denen es nicht gut geht, in glücklichen Staaten besonders unter ihrem Unglück leiden. Eine in der Zeitschrift »Scientific Reports« erschienene Studie legt nahe, dass viele von ihnen sich geradezu zum Glücklichsein verpflichtet fühlen. Dieser Druck kann ihr Wohlergehen zusätzlich negativ beeinflussen – ausgerechnet im glücklichen Norden.
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