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Uralte Technik: Fährten lesen für den Artenschutz

Wer mit Profi-Fährtenleserin Stefanie Argow unterwegs ist, sieht die Natur bald mit anderen Augen. Über das Comeback einer uralten Kulturtechnik in Wissenschaft und Artenschutz.
Eine Bärenspur in der Slowakei

Wildtierbiologie ist immer mehr auch Sache der modernen Technik: Ein bisschen Wolfskot oder ein Haarbüschel verraten heute im Labor, von welchem Individuum sie stammen. Ins Federkleid geklebte Sender verfolgen Vögel über ganze Kontinente hinweg. Und geschickt platzierte Kameras liefern aufschlussreiche Bilder, mal von Fotofallen für nachtaktive Tiere, mal als Blick über die Schulter eines jagenden Wanderfalken.

Langsam, aber sickert die Erkenntnis ein, dass die moderne Technik umso schöner glänzen kann, wenn sie um eine uralte Kulturtechnik ergänzt wird – das Fährtenlesen. »Die beste Wildtierkamera bringt ja erst mal nichts, wenn man nicht genau weiß, wo man sie aufstellen soll«, sagt Stefanie Argow.

Argow ist eine von sehr wenigen professionellen Fährtensucherinnen und Fährtensuchern in Deutschland. Wer mit ihr draußen unterwegs ist – und sei es nur in einem großen Park wie der Berliner Wuhlheide –, sieht die Natur mit anderen Augen: Da, die gut fußballgroße Kuhle im Gras ist der Ruheplatz eines Rehs. Die Fichte, die an einigen Stellen ganz blank gescheuert ist, weil sich die Wildschweine nach der Suhle daran reiben. Hier ein Wildwechsel, dort die Latrine der Waschbären. Rechts der Abdruck einer Fuchspfote im Schlamm, links die Kratzspuren eines Spechts, der sich mit seinen Füßen in den Stamm einer Kiefer gekrallt hat, um mit dem Schnabel Borkenstücke abzuhebeln.

Stefanie Argow zeigt, wo ein Specht seine Spuren hinterließ | Auch in der Berliner Wuhlheide kann man auf Spurensuche gehen.

Stefanie Argow verdient ihr Geld damit, dass sie die Spuren und Zeichen, die die Tiere hinterlassen, richtig lesen kann. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hat sie im Norden Brandenburgs in einem bestimmten Gebiet sämtliche Dachsbauten aufgespürt, weil die dort vorkommende Population im Vorfeld eines Straßenneubaus erfasst werden sollte. Auch Laien würden mit ein bisschen Suchen die meisten größeren Tierbaue finden. Aber sie können zumeist nicht sicher sagen, ob das Loch zu einem Fuchs, einem Dachs oder einem Marderhund gehört, ob es verlassen oder noch bewohnt ist. Argow kann das. Sie weiß, dass eine Dachspfote fünf Zehenballen hat und nicht vier wie beim Fuchs. Dass man die ziemlich ähnlichen Abdrücke von Marderhund und Fuchs daran unterscheiden kann, dass der Marderhund deutlich gespreiztere Zehen hat und dicke Krallen.

Im Bestimmungsbuch – gestochen scharf und im klaren Schwarz-Weiß-Kontrast – ist das auch für Ungeübte noch halbwegs nachvollziehbar. Doch draußen, in der echten Natur, sind die Abdrücke oft so unvollständig, schwach ausgeprägt und verwaschen, dass ein Laie höchstens noch sehen würde, dass da ein Tier gewesen ist. Und vielleicht nicht einmal das. Argow aber hat alle Dachsbaue in dem Gebiet identifiziert. Später wurden dann Wildkameras aufgestellt. Ohne die Arbeit der Fährtensucherin hätte die Lösung der Aufgabe trotz modernster Technik deutlich länger gedauert.

Fährtenleser finden die Risse der scheuen Luchse

Mit ihren Kenntnissen ist sie mittlerweile auch im Uni-Alltag angekommen: An der Universität Potsdam bietet sie regelmäßig Tagesexkursionen an, in denen sie die Grundlagen des Fährtenlesens vorstellt. Und jedes Jahr fährt sie mit Studierenden für knapp eine Woche in die Slowakei, um sich auf die Spur großer Raubtiere wie Bär, Wolf oder Luchs zu begeben.

Das ist spannend für den akademischen Nachwuchs. Aber es hat auch praktischen Nutzen. Aus der Slowakei etwa stammten die Luchse, die für das Auswilderungsprojekt im Pfälzerwald vor einigen Jahren eingefangen wurden. Stefanie Argow gehörte dem Team an, das die scheuen Katzen in den Bergen aufspürte. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen suchte sie bei Eis und Schnee nach Luchsspuren. Hatten sie welche gefunden, folgten sie nicht dem Tier, sondern gingen in die andere Richtung. Durch das so genannte Rückwärtstrailing fanden sie die Stellen, an denen die Luchse ihre Beute gerissen hatten. Genau diese Stellen suchen die Tiere immer wieder auf, und genau dort platzierte das Team schließlich seine Lebendfallen. Am 12. März 2017 tappte der später so getaufte Luchs »Cyrill« in eine dieser Fallen. Er wurde zum ersten Mitglied einer wachsenden und hoffentlich bald tragfähigen Luchspopulation im Pfälzer Wald.

Eine Rehkuhle | Nicht nur Trittspuren geben Aufschluss über die Anwesenheit von Tieren, sondern auch die Zeichen, die sie im Boden oder in der Vegetation hinterlassen.

Argow arbeitet seit sechs Jahren als Fährtensucherin. Der Grundstein für die Leidenschaft wurde wahrscheinlich schon in der Kindheit gelegt. Ihre Großmutter hatte eine Farm in Namibia, die sie in den Ferien oft besuchte. Zusammen mit den Farmarbeitern ging es auf der Ladefläche eines Pick-ups regelmäßig auf die Felder hinaus. »Da gab es Kudus, Oryxantilopen, Springböcke, aber auch Schlangen, Hyänen und Leoparden«, sagt Argow. Für die Farmer war es wichtig zu wissen, welche Tiere sich in der Nähe herumtrieben, weshalb die Arbeiter ständig nach Fährten Ausschau hielten. Und die Arbeiter waren herausragende Fährtensucher. Nach dem Tod der Großmutter wurde die Farm verkauft, und das Fährtenlesen rückte in den Hintergrund. Argow studierte Sozialpädagogik. Die Erlebnispädagogik mit Jugendlichen führte sie oft in die Natur. Schließlich absolvierte sie ihren ersten einjährigen Kurs im Fährtenlesen und war gleich Feuer und Flamme.

»Die Bedeutung des Fährtenlesens nimmt zu«, sagt sie. Jedenfalls werden die Anfragen von Instituten und Forschungseinrichtungen häufiger: Im vergangenen Jahr hat sie erstmals ein ganzes Praxisseminar gegeben für Studierende, die in der AG »Biomove« forschen. Deren Ziel ist es nachzuvollziehen, wie sich Tiere in der Agrarlandschaft bewegen. Da ist ein genauer Einblick, wie man die Spur eines Rehs von der eines Damhirsches, eines Wildschweins oder Rothirsches unterscheidet, sehr hilfreich.

In der Vergangenheit interessierten sich die deutschen Universitäten und Forschungsinstitute kaum für die Arbeit der Spurenkundigen. Vielleicht auch, weil es an einem amtlichen Zeugnis fehlte, das solche Fähigkeiten beglaubigte. Seit knapp zehn Jahren ist das anders. Damals etablierte sich in Deutschland das internationale Evaluierungssystem der Organisation »Cybertracker«. Es wurde ursprünglich ab dem Jahr 1990 im südlichen Afrika entwickelt. Der Südafrikaner Louis Liebenberg hatte das Netzwerk mit dem Ziel gegründet, die Kunst des Fährtenlesens am Leben zu erhalten. Die Chancen auf eine Arbeit als Spurensucher steigen, so das Kalkül, wenn die Fähigkeiten der Trackerinnen und Tracker durch Prüfungen nachvollzogen werden können.

Im Bestimmungsbuch sieht alles so einfach aus | In der Natur sind Fährten, wie diese Spur eines Fuchses, für das ungeübte Auge oft nicht einmal als solche zu erkennen.

Was hat die Eule da ausgespuckt?

Liebenberg entwickelte ein Evaluierungssystem, mit dem sich die Fähigkeiten genau abbilden lassen. Dadurch hatten es Angehörige der Khoisan und anderer Jäger-und-Sammler-Kulturen leichter, als Tourguide angestellt zu werden. In vielen Ländern im südlichen Afrika sind die Zertifikate mittlerweile staatlich anerkannte Standards und wichtige Voraussetzung für das professionelle Fährtensuchen auf Safaris. Über den Biologen Mark Elbroch etablierten sich die Cybertracker-Zertifikate in Nordamerika und schließlich auch in Europa. 2015 bestand Stefanie Argow ihre erste Prüfung.

»Die Prüfungen sind wirklich anspruchsvoll«, sagt Argow. Zwei Tage streiften die Prüflinge durch die Natur, mussten Fragen beantworten und im Prinzip alles wissen: alle Spuren und Zeichen von allen Tieren, die dort vorkommen. »Wenn wir ein Gewölle fanden und untersuchten, mussten wir nicht nur sagen können, dass es von einer Waldohreule stammt, sondern auch, dass die Knochen darin zu einer Rötelmaus und einer Feldmaus gehören.« Sie bestand mit exzellentem Ergebnis und wurde damit international zertifizierte Fährtenleserin.

In den ersten Jahren wurden die Prüferinnen und Prüfer noch extra aus den USA eingeflogen. Mittlerweile hat sich auch in Europa ein entsprechendes Netzwerk etabliert. Seit 2018 nimmt Joscha Grolms die Prüfungen ab – als Einziger in Deutschland. Er gilt hier zu Lande als Koryphäe des Fährtenlesens, sein im Juni 2021 erschienenes Buch »Tierspuren Europas« gilt bereits jetzt als Standardwerk. Wie Grolms heute erzählt, begleitet ihn die Begeisterung für die Wildnis, seitdem er als Jugendlicher in Hildesheim dem Vortrag eines nordamerikanischen Indianers lauschte. Nach dem Abitur ging er in die USA, fand Kontakt zu einem Ureinwohner und lebte für ein Jahr in der Wildnis. Zurück in Deutschland, landete er 2004 bei der Wildnisschule Wildwissen, die hier zu Lande Pionierin in Sachen Fährtenlesen ist und zahlreiche Lehrgänge für angehende Fährtenleser anbietet. Dort arbeitet Grolms bis heute.

Im Sand haben sich Abdrücke erhalten | Stefanie Argow (Hidden Tracks) bietet auch Kurse für Interessierte an. 2020 erschien von ihr das Buch »Spuren lesen« (mit Ulrike Fokken).

Viele Berufsgruppen könnten vom Spurenlesen profitieren

»In gestrecktem Galopp, das Maul leicht geöffnet« sei ein Wolf auf ihn losgegangen und habe erst nach ein paar Warnschüssen aus der Pistole von seiner Attacke abgelassen. So berichtete es 2015 ein Jäger aus dem Wald von Boitze in Niedersachsen. Auch dies ein Fall für die Fährtensucher. Denn ein derart untypisches Verhalten für einen Wolf verlangte nach Aufklärung. Zusammen mit dem Lupus-Institut für Wolfsmonitoring bildet die Wildnisschule seit 2005 den Großteil der ehrenamtlichen Wolfsbetreuer aus, die im Auftrag der Bundesländer Wolfshinweisen nachgehen. Deshalb schickte das niedersächsische Umweltministerium die Fährtensucher an den Ort des Geschehens. Die fanden tatsächlich eine Wolfsspur, aber nur in weiter Entfernung zum Hochsitz, an dem die Attacke stattgefunden haben sollte. Erwartungsgemäß hatte der Wolf Jäger und Hochsitz gemieden. Lediglich ein Fuchs hatte an dieser Stelle herumgeschnüffelt. Die Fährtensucher gaben Entwarnung. Der außergewöhnliche Wolfsangriff – er hatte nie stattgefunden.

Jedes Jahr prüft Grolms etwa 60 angehende Fährtenleserinnen und Fährtenleser. »Da sind junge Leute dabei, die Ökologie oder Biodiversität studieren, oder Ältere, die einfach gerne mehr Zeit in der Natur verbringen wollen«, sagt er. Auch ein Polizist war schon dabei – von der Spurensicherung, ausgerechnet.

Überhaupt könne das Fährtenlesen auch in Deutschland mehr berufliche Bedeutung bekommen, findet der Experte. »In Großbritannien werden jedes Jahr rund 250 Fährtensucher und Fährtensucherinnen geprüft. Ein Drittel davon wurde vom Arbeitgeber geschickt.« Wer in der Biologie arbeitet oder in Ökologie und Naturschutz, in der Landwirtschaft oder im Forst, dem biete diese Fähigkeiten eine nützliche Zusatzqualifikation. Der Einstieg in diese uralte Technik ist dabei für alle ganz einfach: »Spuren sind überall. Man muss eigentlich nur rausgehen und anfangen, genauer hinzuschauen«, sagt Stefanie Argow.

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