Flynn-Effekt: Warum die Intelligenz nicht weiter steigt
Falls Sie gerade einen miesen Tag haben, tröstet Sie vielleicht das folgende Gedankenspiel: Vor 100 Jahren wären Sie ein Genie gewesen – zumindest den Zahlen nach. Selbst mit einem mittleren Intelligenzquotienten von 100 hätten Sie damals gute Chancen auf einen IQ von 130 gehabt, was einer Hochbegabung entspricht. Diese Marke knacken nur etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung. Schlechte Nachrichten für die Superhirne von damals: Selbst die historischen Ausnahmetalente wären nach heutigen Testnormen gerade einmal gutes Mittelmaß.
Schuld daran ist ein Phänomen, das als Flynn-Effekt bekannt ist: Seit Beginn der Messungen schneiden Menschen immer besser in den IQ-Tests ab. Über eine lange Zeit lag dieser Zuwachs in vielen Industrienationen relativ stabil bei rund 0,3 Punkten pro Jahr. Das klingt vielleicht nicht viel, doch innerhalb von zehn Jahren summiert sich der Unterschied bereits auf 3, nach einem Jahrhundert gar auf 30 Punkte, was dem Unterschied zwischen einer durchschnittlichen und einer Hochbegabung entspricht. Genau dieser Effekt stagniert aber seit einigen Jahren. Neuere Datensätze zeigen, dass der Zuwachs mancherorts allmählich abflaut. In manchen Ländern konnten Forscher sogar eine Abnahme der Intelligenzwerte feststellen; man spricht bereits von einem »Anti-Flynn-Effekt«.
Das wiederum ruft Alarmisten auf den Plan: »Werden wir dümmer?«, fragt etwa der deutsche Psychiater und Neuroforscher Manfred Spitzer 2018 in der Fachzeitschrift »Nervenheilkunde« und hat auch gleich einen Schuldigen zur Hand: Der zunehmende Medien- und Internetkonsum sei es, der unseren IQ in einen allmählichen Sinkflug versetze. Doch spricht der mancherorts gemessene Wachstumsknick tatsächlich dafür, dass unsere Intelligenz als solche abnimmt – gar dafür, dass die Menschheit immer weiter verblödet? Und warum tauchen diese Unregelmäßigkeiten gerade jetzt auf?
Was misst ein Intelligenztest?
Schon im frühen 20. Jahrhundert tüftelte der französische Psychologe Alfred Binet an einem Test, der bei Kindern eine allgemeine Fähigkeit zur Lösung verschiedener Aufgaben messen sollte. Dazu absolvierten seine Prüflinge eine Batterie ganz unterschiedlicher Aufgaben. Es fing mit simplen Fragen an, die fast alle beantworten konnten (»Wo ist das Fenster?«), und steigerte sich dann zu harten Kopfnüssen, die nur besonders aufgeweckte Kinder zu lösen wussten. Der nach ihm benannte Binet-Simon-Test diente als Blaupause für zahlreiche Weiterentwicklungen, die alle eine ähnliche Zielvorgabe hatten: Verschiedenartige Testfragen sollten in ihrer Summe die Intelligenz als einen einzigen, generellen Faktor erfassen. Mit diesem Anspruch gerieten die Tests zu einem mächtigen Werkzeug und zum Gegenstand kontroverser Debatten. Kritiker bemängeln, die Tests würden das Profil einer westlichen, akademisch geprägten Oberschicht abbilden und andere Schichten oder Kulturkreise systematisch benachteiligen. Außerdem werde Intelligenz oft irrtümlich für eine essenzielle menschliche Eigenschaft gehalten – dabei sollen psychologische Tests ja eigentlich als Werkzeug für ganz konkrete Fragestellungen dienen. Inzwischen sind IQ-Tests aus der modernen Diagnostik nicht mehr wegzudenken. Mit ihrer Hilfe erfassen Experten Lernschwierigkeiten, begutachten die Schuldfähigkeit eines Angeklagten vor Gericht oder fahnden nach der geeignetsten Bewerberin für eine offene Stelle.
Schon in den 1930er Jahren bemerkten Intelligenzforscher, dass ihre Normwerte (die Durchschnittswerte zum Vergleich unter anderem von Gleichaltrigen) mit den Jahren allmählich nicht mehr genau stimmten. Der mittlere IQ stieg immer weiter an, die Eichung musste nachjustiert werden. Wer das für Erbsenzählerei hält, muss sich vor Augen führen, welch weit reichende Konsequenzen das Ergebnis eines Intelligenztests mit sich bringen kann. Der Namensgeber des Phänomens, der neuseeländische Politologe James R. Flynn, gibt ein besonders extremes Beispiel: Wer in den USA etwa wegen Mordes vor Gericht steht, darf in einigen Bundesstaaten nicht hingerichtet werden, wenn eine geistige Behinderung vorliegt. Setzt ein Gutachter zur Diagnose eine veraltete IQ-Norm ein, kann es passieren, dass er eine vorliegende Behinderung nicht als solche erkennt – im schlimmsten Fall könnte der Flynn-Effekt also zu einer unrechtmäßigen Hinrichtung führen.
Über die genauen Ursachen des Flynn-Effekts sind sich Forscher übrigens bis heute uneins, ebenso wie über die Gründe seiner allmählichen Stagnation. Fakt ist: Neuere Datensätze stellen den Flynn-Effekt in seiner bisherigen Form immer mehr in Frage. Interessanterweise unterscheiden sich die Befundlagen je nach Land, zum Teil sogar enorm: In den USA ist von einem IQ-Rückgang beispielsweise nichts zu spüren, im Gegenteil setzt sich dort der Flynn-Effekt anscheinend ungebremst fort. Doch nach Jahrzehnten des Anstiegs geht der mittlere IQ seit 1995 in mehreren – vor allem nordeuropäischen Ländern – offenbar wieder zurück.
Seit 1995 geht es hier zu Lande bergab mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen. In allgemeinen IQ- und Vokabeltests schnitten deutschsprachige Probanden jedoch zunehmend besser ab
Am eindrucksvollsten sind die Ergebnisse aus Norwegen. Dort musste bis Jahrgang 1991 der Löwenanteil aller jungen Männer zu einer umfangreichen Musterung inklusive IQ-Test persönlich antreten. Für Intelligenzforscher entstand so ein regelrechter Datenschatz, den die norwegischen Wissenschaftler Bernt Bratsberg und Ole Rogeberg 2018 in den »Proceedings of the National Academy of Sciences« analysierten. Sie betrachteten 30 aufeinander folgende Jahrgänge seit 1962, darunter mehr als 700 000 Einzelpersonen. Ihr Befund: Während die IQ-Werte bis Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich anstiegen, nahmen sie danach allmählich um knapp zwei Punkte pro Jahrzehnt wieder ab. Auch aus anderen Ländern mehren sich Ergebnisse, die auf eine scheinbare Umkehr des Flynn-Effekts hindeuten: aus Finnland und Estland etwa, aber auch aus Kuwait oder der sudanesischen Hauptstadt Khartum.
In anderen Teilen der Erde betrifft der Abfall oft nur einzelne Aufgabenbereiche. Eine Metaanalyse für Österreich und Deutschland resümierte etwa: Seit 1995 geht es hier zu Lande mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen bergab. In allgemeinen IQ- und Vokabeltests schnitten deutschsprachige Probanden jedoch in einem ähnlichen Erhebungszeitraum zunehmend besser ab! In Großbritannien wiederum schlägt man Alarm, weil Kinder in bestimmten Aufgaben zum abstrakten Denken immer schlechter abschneiden – doch auch hier weisen umfassendere IQ-Tests in die umgekehrte Richtung.
75 Intelligenzforscher gaben Auskunft, welche Ursachen sie für ein mögliches Ende oder eine Umkehr des Flynn-Effekts vermuten. Die Ergebnisse machen stutzig
Zusammengenommen ergibt das ein eher konfuses Bild. Je nach Land geht der IQ mal nach unten, mal eher nach oben, mal hängt es ganz von der Art der Aufgaben ab. Dennoch konkurrieren schon mehrere Erklärungsversuche, wie sich denn ein (scheinbarer oder tatsächlicher) Anti-Flynn-Effekt erklären ließe. Der Chemnitzer Psychologe Heiner Rindermann erkundigte sich bei 75 Intelligenzforschern, welche Ursachen diese für ein mögliches Ende oder eine Umkehr des Flynn-Effekts vermuten. Die Ergebnisse der Umfrage machen stutzig. Beliebtester Erklärungsversuch: Weniger intelligente Eltern würden mehr Kinder in die Welt setzen als intelligente. Änderungen im Genpool würden dann dafür sorgen, dass die kognitive Leistungsfähigkeit in der Bevölkerung immer weiter abflaut. Dieses Konzept ist auch als Dysgenik bekannt, eine zunehmende Verbreitung von vermeintlich unvorteilhaften Genen also. Neu ist die Idee nicht; schon der österreichische Zoologe Konrad Lorenz (1903-1989) warnte 1943 vor einer »Verhausschweinung des Menschen«. Einige Intelligenzforscher vermuten, solche dysgenischen Entwicklungen hätte es schon das ganze 20. Jahrhundert über gegeben, nur sei ein IQ-Abfall bislang nicht sichtbar gewesen, weil gleichzeitig andere Prozesse in die entgegengesetzte Richtung gewirkt hätten.
Auf Platz zwei in der Umfrage folgte die Hypothese, zunehmende Migration könnte für einen Anti-Flynn-Effekt verantwortlich sein. Weniger intelligente Einwanderer seien es demnach, die in Industrieländern den mittleren IQ nach unten ziehen würden. Erst auf den hinteren Plätzen folgten Hypothesen, die bestimmte Umwelteffekte in den Blick nahmen, etwa Verschlechterungen im Bildungswesen. Die Umfrage offenbart viel über die Weltanschauung mancher Intelligenzforscher. Unweigerlich fühlt man sich an den Expolitiker und Sachbuchautor Thilo Sarrazin erinnert, der in seinen Büchern ganz ähnliche Gedankengänge ausbreitet. Doch können solche Hypothesen einer empirischen Prüfung überhaupt standhalten?
Phänomene wie Migration können keine Unterschiede zwischen Kindern derselben Familie erklären. Der Flynn-Effekt ebenso wie seine Umkehr müssen bestimmten Umwelteffekten geschuldet sein
Die Autoren der bereits erwähnten norwegischen Studie machten die Probe aufs Exempel. Sie untersuchten, welche Hypothesen überhaupt in Frage kommen, um die IQ-Schwankungen in ihrem Land zu erklären. Dazu nutzten sie einen besonderen Vorteil ihres Datensatzes: Da dieser gleich 30 Jahrgänge umfasste, konnten sie die Daten von Geschwistern systematisch miteinander in Beziehung setzen. So ließ sich feststellen, ob die Entwicklungen eher durch Schwankungen zwischen oder innerhalb der einzelnen Familien zu Stande kamen. Ihr Ergebnis fällt eindeutig aus: Der sinkende IQ-Durchschnitt ließ sich auf Veränderungen innerhalb der betrachteten Familien zurückführen, also von Bruder zu Bruder.
Bestimmte Erklärungsversuche scheiden somit von vornherein aus. Phänomene wie Migration oder Dysgenik beträfen beispielsweise eher die Zusammensetzung der Bevölkerung an sich; sie können aber keine Unterschiede in den Testwerten von einem zum nächsten Kind derselben Familie erklären. Das Fazit der Autoren: Sowohl der Flynn-Effekt als auch seine Umkehr müssen bestimmten Umwelteffekten geschuldet sein. Das können Änderungen im Bildungssystem sein, der zunehmende Einfluss von Massenmedien oder eine schlechtere Ernährung – was genau das Auf und Ab im IQ verursachte, lässt sich mit einem solchen Studiendesign nicht klären.
Schon der ursprüngliche (also positive) Flynn-Effekt gibt Forschern Rätsel auf. Manche sehen darin ein statistisches Artefakt, das allein durch Verschiebungen in den betrachteten Stichproben zu Stande kommt. Andere halten das Phänomen zumindest für semireal. Soll heißen: Im Kern sei die menschliche Intelligenz konstant geblieben. Doch unsere Fähigkeit zum Lösen bestimmter Aufgabentypen hätte sich mit der Zeit verbessert, denn Knobeleien, wie sie in IQ-Tests vorkommen, finden sich zum Beispiel auch in vielen Illustrierten, und mit »Testknacker«-Büchern kann man sich sogar gezielt auf die typischen Frageformen vorbereiten. Klüger machen solche Trainings zwar nicht, doch treiben sie zumindest die eigenen IQ-Werte in die Höhe; vertraute Aufgabentypen lassen sich schließlich leichter bewältigen. Offenkundig bestimmt unser kultureller Hintergrund, wie gut wir auf bestimmte Testarten vorbereitet sind.
Eine dritte Hypothese zum Flynn-Effekt: Über die Jahrzehnte habe sich unser Arbeitsumfeld drastisch verändert. Ein analytisch-abstrakter Denkstil werde dabei immer stärker belohnt. Flynn selbst spricht davon, dass wir die Welt immer stärker durch eine »Forscherbrille« betrachten. Hatte es früher genügt, die Dinge rein nach ihrer Nützlichkeit zu beurteilen, würden wir heute eine eher wissenschaftliche Herangehensweise bevorzugen: »Wir sind gewöhnt zu denken, dass wir die Welt klassifizieren müssen, um sie zu verstehen, und wir nutzen bereitwillig abstrakte Logik«, erklärt Flynn in einem Podcast für die Zeitschrift »Scientific American«. Genau diese Art zu denken ist es letztlich, die in den gängigen IQ-Tests belohnt wird.
Damit ließe sich auch erklären, warum der Flynn-Effekt mancherorts allmählich stagniert. Wenn der Blick durch die Forscherbrille, also der Fokus auf abstrakte Kategorien, sein Limit erreicht, ist es plausibel, dass auch der IQ nicht stetig weiter wächst. Dass der Flynn-Effekt je nach Region so unterschiedlich ausfällt, mag auch mit landesspezifischen Entwicklungen zu tun haben. Das zeigt sich am Beispiel Khartum: Dort ersetzten fundamentalistische Kräfte den regulären Schulunterricht zum Teil durch einen »islamischen Lehrplan«. Fortan lernten die Schüler viel über die Errungenschaften ihres Landes und ihrer Religion, während abstrakte Fächer eher auf der Strecke blieben. Wenn man so will, wurde den Kindern die Forscherbrille abgesetzt. Das mag – neben sozioökonomischen Umwälzungen im Zuge des Bürgerkriegs – dazu beigetragen haben, dass der mittlere IQ in der sudanesischen Hauptstadt von 1999 bis 2010 um mehr als zwei Punkte abnahm.
Schlussendlich: Den vereinzelten Nachrichten von stagnierenden oder sinkenden Intelligenzwerten stehen bislang deutlich mehr Ergebnisse gegenüber, die nach wie vor einen Anstieg vermelden. Zwar sieht die Befundlage heute viel durchwachsener aus als noch zehn Jahre zuvor. Doch jenseits der umfangreichen norwegischen Studie stützen sich viele Ergebnisse zum Anti-Flynn-Effekt entweder auf meist kleine Stichproben, oder sie betreffen nur Teilbereiche der Intelligenz. Was genau diese Änderungen verursacht, bleibt häufig offen. Es ist denkbar, dass einige der Studien auch schlichtweg Ausreißer, also Extremfälle darstellen. Eine aufwändige Ursachenforschung scheint verfrüht. Denn bislang deuten die Ergebnisse eher auf vereinzelte Turbulenzen hin – nicht aber auf einen drastischen IQ-Absturz.
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