Tuberkulose: Warum die tödlichste Seuche der Welt so schwer zu besiegen ist
Es brauchte eine verheerende Pandemie, um die tödlichste Infektionskrankheit der Welt zu entthronen. Jedes Jahr sterben weltweit rund 1,5 Millionen Menschen an der Tuberkulose, weit mehr als an jeder anderen ansteckenden Krankheit vor 2020. Doch der Verlust dieses Spitzenplatzes ist nur die am wenigsten greifbare Auswirkung von Sars-CoV-2 auf die Tuberkulose. Tatsächlich hat die Pandemie einen langjährigen hoffnungsvollen Trend umgekehrt und die Bekämpfung einer der schlimmsten Seuchen der Welt um Jahre zurückgeworfen.
Was die Auswirkungen der Pandemie so tragisch macht, ist ein bemerkenswerter Gegensatz: Auf der einen Seite ist die Krankheit außerordentlich tödlich. Rund die Hälfte der Erkrankten sterben ohne Behandlung. Auf der anderen Seite müsste eigentlich niemand an der Tuberkulose sterben, denn man kann sie gut behandeln. Dazu muss die Krankheit aber erst einmal korrekt erkannt werden. Doch gerade die Zahl der Diagnosen fiel dramatisch, als das Coronavirus um die Welt ging.
Auslöser der Krankheit ist das Bakterium Mycobacterium tuberculosis, das sich üblicherweise in der Lunge einnistet. Tuberkulose verbreitet sich über Tröpfchen und Aerosole, die beim Husten und Atmen entstehen – vor allem in beengten Verhältnissen und in großen Menschenmengen. Es ist eine Krankheit, die oft an Armut gekoppelt ist, an überfüllte, schlecht gelüftete Wohnungen und Arbeitsplätze sowie an Unterernährung.
Das Ziel: Ausrottung
Eine Tuberkulose beginnt mit leichtem Fieber und Krankheitsgefühl, gefolgt von schmerzhaftem Husten und Kurzatmigkeit. Bekämpft man das Bakterium nicht mit Antibiotika, entwickelt sich jene Kombination von Schwäche, Auszehrung und blutigem Husten, die bis ins 20. Jahrhundert als Schwindsucht gefürchtet war. Wegen des enormen Unterschieds in der Sterblichkeit zwischen behandelter und unbehandelter Tuberkulose schlägt sich eine geringere Zahl Diagnosen praktisch sofort in der Zahl der Toten nieder.
Das geschah 2020. Die Pandemie überschwemmte Gesundheitssysteme mit Schwerkranken und unterbrach die Versorgung mit Tests und Medikamenten. Tuberkulosezentren wurden zu Corona-Kliniken umgewidmet. Vor allem dort, wo die Gesundheitssysteme ohnehin relativ schwach sind, fehlten die Ressourcen, Tuberkulose weiter zu diagnostizieren und zu behandeln. Kontaktbeschränkungen und andere Pandemiemaßnahmen machten es vielen Menschen unmöglich, medizinische Hilfe zu suchen. Die Zahl der Diagnosen fiel von weltweit 7,1 Millionen im Jahr 2019 auf 5,8 Millionen im folgenden Jahr. Der folgende Anstieg der Todesfälle unterbrach einen langjährigen sinkenden Trend.
Denn vor 2020 war die Tuberkulose langsam, aber sicher auf dem Rückzug. Dafür hatten bessere Behandlungsmöglichkeiten gesorgt, ganz besonders jedoch der 2014 gefasste Entschluss der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Welt von der Tuberkulose zu befreien. »Das Ziel ist, die globale Tuberkuloseepidemie zu beenden«, steht ebenso lakonisch wie ambitioniert im zuletzt 2022 aktualisierten Strategiepapier der WHO.
Zwei Milliarden Infizierte
Doch das wird nicht einfach. Mycobacterium tuberculosis hat eine entscheidende Besonderheit, die es von Erregern ähnlicher Atemwegserkrankungen unterscheidet und außerordentlich schwer zu bekämpfen macht: Die Krankheit Tuberkulose entsteht nur bei wenigen Prozent derjenigen, die den Erreger aufnehmen. Bei der großen Mehrheit der Infizierten dagegen bricht die Krankheit nicht aus, sondern wird vom Immunsystem in Schach gehalten. Das Ergebnis ist latente Tuberkulose – eine mitunter lebenslang andauernde stille Infektion, in der das Bakterium innerhalb kugeliger Ansammlungen von Immunzellen, den Granulomen, eingekapselt ist. Bei der latenten Tuberkulose kann das Bakterium über Jahre und Jahrzehnte in der Lunge überdauern, ohne Symptome zu verursachen oder andere Menschen anzustecken.
Den rund zehn Millionen Erkrankten jährlich stehen weltweit mehr als zwei Milliarden Menschen gegenüber, die den Erreger ohne Symptome in sich tragen
Unfassbar viele Menschen haben latente Tuberkulose. Den rund zehn Millionen Erkrankten jährlich stehen weltweit mehr als zwei Milliarden Menschen gegenüber, die den Erreger ohne Symptome in sich tragen – ein Viertel der Weltbevölkerung. Doch die Krankheit bricht bei etwa fünf bis zehn Prozent der latent Infizierten irgendwann aus, häufig im Zusammenhang mit einer Schwächung des Immunsystems, die etwa im hohen Alter oder durch Krebstherapie entstehen kann.
Der Effekt der latenten Tuberkulose macht die Dynamik der Krankheit völlig anders als bei den meisten anderen Atemwegserregern. Während bei Grippe zum Beispiel bei einer Ansteckungswelle direkt mehr Kranke zu beobachten sind, gilt das bei Tuberkulose nicht: Der Großteil der Erkrankten stammt aus dem großen Pool der latent Infizierten und trägt das Bakterium schon lange in sich. Umgekehrt allerdings verbreitet sich der Erreger auch bei der Tuberkulose besser, wenn es mehr Kranke gibt, denn anders als latent Infizierte sind aktiv Erkrankte ansteckend.
Der lange Schatten der Pandemie
Die Existenz dieses gigantischen Pools von stillen Infizierten macht die Bekämpfung der Tuberkulose nahezu unmöglich. Dass die Krankheit in den vergangenen 20 Jahren dennoch langsam zurückgedrängt werden konnte, ist vor allem dem besseren Zugang zu Tests und Behandlungen zu verdanken. Dadurch sank die Zahl der Neuerkrankungen um rund zwei Prozent pro Jahr – und die Zahl der Toten von 2,5 Millionen im Jahr 2000 auf 1,5 Millionen im Jahr 2019. In vielen Ländern, darunter Deutschland, gibt es nur noch sehr wenig Fälle und nahezu keine neuen Ansteckungen mehr.
Es gibt also Erfolge gegen die Tuberkulose, doch sie sind über lange Zeiträume hart erarbeitet worden. Das macht die Rückschläge in den Pandemiejahren umso tragischer, als die Zahl der Toten gegen den langjährigen Trend 2020 und 2021 um etwa 100 000 stieg. Auch bei den Neuerkrankungen zeigt sich schon der Effekt der Pandemie. 2021 erkrankten etwa eine halbe Million mehr Menschen als 2020.
Das ist allerdings nur der kleinere Teil des Schadens, den die Pandemie bei der Tuberkulosebekämpfung angerichtet hat. Denn nicht nur sterben Menschen ohne Diagnose und Behandlung viel häufiger: Sie stecken auch im Verlauf ihrer Krankheit zahlreiche andere Personen an. Das wahre Ausmaß dieses Effekts wird man erst viel später sehen, da der größere Pool der latent Infizierten die Erkrankungszahlen über einen langen Zeitraum erhöht. Eine Person mit unbehandelter Tuberkulose kann im Jahr bis zu 15 andere anstecken.
Fachleute behandeln deshalb immer häufiger auch latente Infektionen. Das Bakterium in diesem frühen Stadium bereits mit Antibiotika anzugreifen ist eine Möglichkeit, langfristig die Häufigkeit der Krankheit zu verringern, ohne zu warten, bis sie ausbricht. Zusätzlich hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, dass zwischen der nicht ansteckenden latenten Infektion und der ansteckenden Krankheit Tuberkulose ein Graubereich existiert, in dem Menschen auch ohne Symptome Bakterien in Lunge und Atemwegen haben und damit ansteckend sein können. Selbst wenn man aktive Tuberkulose sofort behandelt, kommt man deswegen womöglich oft zu spät, um die Ausbreitung des Erregers zu verhindern.
Wer soll die Therapie bekommen?
Über die tatsächliche Bedeutung der latenten Tuberkulose debattieren Medizinerinnen und Mediziner bereits seit Jahrzehnten. Tragen wirklich all diese Menschen den Erreger in sich? Bisher nämlich weisen Tests auf Tuberkulose lediglich die Immunreaktion auf das Bakterium nach – sagen aber nichts darüber aus, ob das Bakterium noch da ist und die Krankheit ausbrechen kann. Manche Fachleute vermuten deshalb, dass ein beträchtlicher Teil der »latent Infizierten« in Wirklichkeit das Bakterium längst von selbst wieder losgeworden ist. Damit wäre der Pool derjenigen, die tatsächlich noch aktiv erkranken können, viel kleiner als gedacht.
Darum gilt es, unter den latent Infizierten bloß diejenigen zu behandeln, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eine aktive Infektion entwickeln werden. Doch bisher gibt es keinen Test, der vorhersagen kann, bei wem das passiert. Sicher ist jedenfalls: Es gibt unzählige Menschen mit latenter Tuberkulose, die niemals aktiv erkranken werden.
Jene Infizierten zu identifizieren, die eine aktive Tuberkulose entwickeln werden, ist derzeit ein zentrales Ziel der Tuberkuloseforschung. Denn die Behandlung ist deutlich komplizierter als bei anderen Infektionen. Zwei Monate lang müssen die Betroffenen eine Kombination von vier Antibiotika einnehmen, danach noch einmal vier Monate zwei dieser Wirkstoffe. Ein neuer Therapieansatz verkürzt die Zeit zwar auf insgesamt vier Monate, benötigt allerdings den Wirkstoff Rifapentin, der in den meisten EU-Ländern nicht zu bekommen ist.
So lange Behandlungen mit mehreren Wirkstoffen kosten Gesundheitssysteme ungewöhnlich viele Ressourcen. Hinzu kommt, dass die Behandlung HIV-Infizierter, die ein wesentlich höheres Risiko haben, eine aktive Tuberkulose zu entwickeln, noch einmal komplizierter ist. In einigen Regionen wie Osteuropa verbreiten sich außerdem Tuberkulose-Erreger, die eine oder mehrere Antibiotikaresistenzen tragen. Sie verursachen die MDR (multi-drug-resistance)- und XDR (extensive-drug-resistance)-Tuberkulose.
Doch die allermeisten der alljährlich 1,5 Millionen Tuberkulosetoten sterben an ganz normalen, gegen Standardmedikamente empfindlichen Bakterien. Zugang zu medizinischer Versorgung, eine Diagnose und einige Standardmedikamente würden reichen, um ihnen das Leben zu retten. An der tödlichsten Infektionskrankheit der Welt müsste eigentlich schon heute praktisch niemand sterben. Das macht die Rückschläge während der Corona-Pandemie doppelt tragisch.
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