Gesundheit: Warum Einsamkeit krank macht
Theresa Chaklos war unabhängig und stolz darauf: Sie lebte allein und verdiente ihren Lebensunterhalt als Familienrechtsanwältin in Washington D.C. in den USA. Doch nachdem 2010 bei ihr Leukämie diagnostiziert wurde, verwandelte sich ihre Unabhängigkeit in Einsamkeit.
Die soziale Isolation wiederum verschlechterte Chaklos’ körperlichen Zustand. »Ich habe in weniger als einer Woche 15 Pfund abgenommen, weil ich nichts gegessen habe«, sagt sie. »Ich war so unglücklich, dass ich einfach nicht mehr aufstehen wollte.« Zum Glück überredete eine Kollegin sie, Freunde um Hilfe zu bitten. Schnell besserte sich ihre Stimmung: Es sei ein tolles Gefühl, zu wissen, dass andere Menschen bereit sind, einem zu helfen.
Vielen gelingt es jedoch nicht so leicht, sich aus der Isolation zu befreien. Wenn Einsamkeit chronisch wird, kann das weit reichende gesundheitliche Folgen haben. Einem Bericht des US-amerikanischen Gesundheitsministers Vivek Murthy zufolge kann chronische Einsamkeit genauso schädlich sein wie Übergewicht, Bewegungsmangel und Rauchen. Sie steht im Verdacht, Depressionen, Demenz und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu begünstigen und die Lebenserwartung zu senken. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2023 des Social-Media-Unternehmens Meta, des Meinungsforschungsinstituts Gallup und einer Gruppe von Wissenschaftlern fühlen sich rund ein Viertel der Erwachsenen weltweit ziemlich oder sogar sehr einsam. Im selben Jahr startete die Weltgesundheitsorganisation WHO eine Kampagne, um Einsamkeit zu bekämpfen. Diese sei ein »dringendes Gesundheitsproblem«.
Doch weshalb macht Einsamkeit krank? In den letzten Jahren haben Fachleute begonnen, die neuronalen Mechanismen dahinter aufzudecken. Obwohl das Bild noch lange nicht vollständig ist, deuten erste Ergebnisse darauf hin, dass Einsamkeit etliche Aspekte des Gehirns verändern kann: vom Volumen bis hin zu den Verbindungen zwischen Nervenzellen.
Einsamkeit ist subjektiv
Einsamkeit ist ein Konzept, das schwer zu fassen ist. Sie ist nicht identisch mit sozialer Isolation. Letztere entsteht, wenn eine Person nur wenige bedeutungsvolle Kontakte hat. Einsamkeit hingegen bezeichnet die subjektive Erfahrung von jemandem, der mit seinen bestehenden Beziehungen unzufrieden ist. Aber eigentlich seien das »zwei Seiten derselben Medaille«, sagt der Gerontopsychiater Andrew Sommerlad vom University College London in England.
Die Liste der gesundheitlichen Probleme, die mit Einsamkeit einhergehen, ist lang. Einige leuchten intuitiv ein. Menschen, die sich einsam fühlen, sind zum Beispiel oft depressiv, mitunter sogar suizidgefährdet. Andere Zusammenhänge sind eher überraschend: Wer so empfindet, neigt eher zu Bluthochdruck oder leidet unter einer Störung des Immunsystems als jemand, der sich nicht als allein erlebt. Darüber hinaus hat er ein 1,64-mal höheres Risiko, an einer Demenz zu erkranken.
Einsame Menschen weisen eine Reihe physiologischer Auffälligkeiten auf. Sie schlafen schlechter, haben einen höheren Spiegel an Stresshormonen im Blut und sind anfälliger für Infekte. Aber weil all diese Faktoren miteinander interagieren, sei es schwierig, die Auswirkungen der Einsamkeit von ihren Ursachen zu trennen, warnt die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Livia Tomova von der Cardiff University in Wales. Arbeitet das Gehirn anders, wenn jemand einsam wird, oder weisen manche Leute Besonderheiten im Gehirn auf, die sie anfällig für Einsamkeit machen? »Wir wissen es nicht wirklich«, sagt Tomova.
Ungeachtet der Ursache sind Menschen, die zu benachteiligten Gruppen gehören, eher von Einsamkeit betroffen. Wie aus einer Umfrage der Cigna Group, eines US-amerikanischen Gesundheits- und Versicherungsunternehmens, von 2021 hervorgeht, fühlen sich in den USA Schwarze und Hispanics sowie Personen, die weniger als 50 000 US-Dollar pro Jahr verdienen, mehr als zehn Prozent häufiger einsam als andere demografische Gruppen. Das ist nicht verwunderlich. »Einsamkeit ist per Definition eine emotionale Notlage, die uns dazu bringen soll, unsere soziale Situation zu verändern«, sagt der Geriater und Palliativmediziner Ashwin Kotwal von der University of California in San Francisco. Doch ohne finanzielle Mittel ist es schwieriger, etwas zu verändern.
»Einsamkeit ist per Definition eine emotionale Notlage, die uns dazu bringen soll, unsere soziale Situation zu verändern«Ashwin Kotwal, Geriater
Die Covid-19-Pandemie könnte die Einsamkeit verschlimmert haben, denn sie zwang die Menschen dazu, sich über Monate oder Jahre hinweg zu isolieren. Die Daten seien aber noch nicht abschließend ausgewertet, erklärt Kotwal. Ältere Personen gelten seit Langem als die Bevölkerungsgruppe, die am stärksten von Einsamkeit betroffen ist. In der Tat ist dieses Gefühl ein großes Problem für viele, mit denen der Geriater täglich arbeitet. Die Daten der Cigna Group verdeutlichen allerdings, dass die Einsamkeit während der Pandemie bei jungen Erwachsenen in den USA am größten war: 79 Prozent der 18- bis 24-Jährigen gaben an, sich einsam zu fühlen, verglichen mit 41 Prozent der über 65-Jährigen. Auch in Deutschland nahm das Gefühl während der Pandemie zu. Während 2019 noch 11 Prozent angaben, sich mehrmals pro Woche oder sogar täglich einsam zu fühlen, stieg der Anteil 2020 auf 27 Prozent, wie Umfragen eines Teams der Universität Bremen ergaben. Am höchsten fielen die Zahlen unter allein Lebenden, Frauen und jüngeren Erwachsenen aus.
Wie wirkt Einsamkeit auf das Gehirn?
Immer mehr Forschungsprojekte befassen sich mit der Frage, was im Gehirn von jemandem passiert, wenn sein Bedürfnis nach sozialen Kontakten nicht erfüllt wird. »Einsame Menschen neigen dazu, die Welt anders zu sehen als solche, die nicht einsam sind«, sagt die Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Laetitia Mwilambwe-Tshilobo von der Princeton University in New Jersey. In einer Studie von 2023 sahen sich die Probandinnen und Probanden in einem Magnetresonanztomografen Videos von Menschen in verschiedenen Situationen an – zum Beispiel beim Sport oder bei einem Date. Bei denjenigen, die sich nicht einsam fühlten, fielen die Reaktionen im Gehirn alle ähnlich aus. Bei den Einsamen hingegen unterschieden sich die neuronalen Antworten – sowohl von denen der anderen Gruppe als auch untereinander. Die Autoren um die Psychologin Elisa C. Baek nehmen daher an, dass einsame Personen anderen Aspekten einer Situation Aufmerksamkeit schenken. Dadurch entstehe bei ihnen der Eindruck, sie würden sich von den übrigen Menschen unterscheiden.
Das spricht dafür, dass sich Einsamkeit selbst verstärkt und mit der Zeit immer schlimmer wird. »Es ist fast wie eine selbsterfüllende Prophezeiung«, sagt Mwilambwe-Tshilobo. »Sobald man denkt, man sei einsam, nimmt man sein soziales Umfeld negativer wahr. Und das führt dazu, dass man sich immer weiter davon entfernt.« Einige Untersuchungen haben gezeigt, dass sich dieser Effekt bisweilen in sozialen Netzwerken ausbreitet, weshalb Einsamkeit ansteckend sein kann.
Hunger nach Sozialkontakten
Historisch betrachtet war es für Menschen eine gute Überlebensstrategie, in der Nähe anderer zu bleiben. Darum dürfte sich das Gefühl von Einsamkeit entwickelt haben, um uns zu motivieren, Gesellschaft zu suchen – so wie uns Hunger und Durst dazu bewegen, Nahrung und Wasser zu finden.
»Einsame Menschen neigen dazu, die Welt anders zu sehen«Laetitia Mwilambwe-Tshilobo, Neurowissenschaftlerin
In der Tat wirken Hunger und Einsamkeit physiologisch ähnlich. In einer 2020 veröffentlichten Studie verwehrte eine Forschungsgruppe um Rebecca Saxe vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge Menschen zehn Stunden lang entweder Essen oder soziale Kontakte. Anschließend untersuchte sie mittels bildgebender Verfahren die Hirnregionen, die durch Bilder von Lebensmitteln (zum Beispiel einem großen Teller Nudeln) oder von sozialen Interaktionen (etwa Freunden, die zusammen lachen) aktiviert wurden. Ein Bereich im Mittelhirn, die so genannte Substantia nigra, reagierte sowohl besonders stark bei Hungrigen, die Fotos von Essen betrachteten, als auch bei sozial Isolierten, die Aufnahmen von geselligen Menschen sahen. »Die Substantia nigra ist eine Schlüsselregion für die Motivation – sie ist bekannt dafür, dass sie aktiv ist, wenn wir etwas wollen«, sagt die Neurowissenschaftlerin Livia Tomova, die an der Studie mitgearbeitet hat.
Bei Mäusen sensibilisiert Einsamkeit bestimmte Neurone im Mittelhirn für den Neurotransmitter Dopamin. Dieser Botenstoff kann dazu führen, dass Menschen dem Drang nach Essen und Drogen leichter nachgeben. Daneben macht soziale Isolation uns womöglich empfänglicher für Belohnungen. Darauf deuten vorab veröffentlichte Ergebnisse einer Studie von Tomova und ihren Kollegen hin. Das Team bat Jugendliche an drei Tagen zu Experimenten ins Labor, bei denen sie für eine finanzielle Belohnung unterschiedlich schwierige Aufgaben lösen konnten. Bei einem Termin hatte es den Teilnehmenden vorab vier Stunden lang soziale Kontakte vorenthalten. Wer zuvor isoliert war, war anschließend motivierter, sich für eine hohe Entlohnung anzustrengen.
Wie Dopamin und Einsamkeit wechselwirken, ist noch weitgehend unerforscht. Doch schon lange kennt man den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und einer anderen Art von chemischen Signalen: den Glukokortikoiden, auch Stresshormone genannt. Der Mensch brauche ein gewisses Maß davon, »um zu funktionieren, um aufzuwachen«, sagt der Neurophysiologe Ioannis Sotiropoulos vom National Centre For Scientific Research Demokritos in Athen. Aber anhaltende Einsamkeit führe zu dauerhaft hohen Werten.
Der erhöhte Stresshormonspiegel steht im Verdacht, Demenz zu begünstigen. In einem Mausmodell der Alzheimerkrankheit erhöhten Glukokortikoide die Konzentration der beiden Proteine Beta-Amyloid und Tau, die wahrscheinlich maßgeblich an der Krankheit beteiligt sind. Sie bilden Ablagerungen, die Neurone schädigen und dadurch die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen.
Stress bedeute eine zusätzliche Belastung für das Gehirn, das mit zunehmendem Alter ohnehin schon verschleißt, erklärt Laetitia Mwilambwe-Tshilobo. »Glukokortikoide könnten den Alterungsprozess beschleunigen.« Es gebe allerdings noch keine Arbeiten, die sich explizit damit befassen.
»Sobald man denkt, man sei einsam, nimmt man seine soziale Umgebung negativer wahr«Laetitia Mwilambwe-Tshilobo, Neurowissenschaftlerin
Livia Tomova geht davon aus, dass ein hoher Spiegel an Stresshormonen eine Demenzerkrankung begünstigt. Zudem fehle Menschen, die sich allein fühlen, wahrscheinlich auch das geistige Training während sozialer Interaktionen. So wie ein Muskel trainiert werden muss, um fit zu bleiben, muss auch das Gehirn gefordert werden, um gut zu funktionieren. Tatsächlich wird Einsamkeit mit einem geringeren Volumen der grauen Substanz, also der Nervenzellkörper, im Gehirn in Verbindung gebracht. Eine Vermutung sei, dass soziale Kontakte neuronale Verbindungen aufrechterhalten, die sonst verloren gehen könnten, erklärt der Gerontopsychiater Andrew Sommerlad vom University College London.
Nach innen gekehrt
Bei ihrer Suche nach der neuronalen Signatur der Einsamkeit entdeckte etwa ein Team um Pengfei Xu von der Shenzhen-Universität in China, dass die Interaktion zwischen bestimmten Hirnregionen bei einsamen Menschen anders war. In den Fokus der Forschung rückt dabei immer wieder das Default Mode Network (DMN), auch Ruhezustandsnetzwerk genannt. Es ist standardmäßig aktiv, wenn Menschen nichts Konkretes tun und ihre Aufmerksamkeit stattdessen nach innen richten.
Bereits frühere Arbeiten deuteten darauf hin, dass das DMN junger, einsamer Menschen verstärkt mit anderen neuronalen Netzwerken zusammenarbeitet, die beim Sehen, bei der Aufmerksamkeit und der exekutiven Kontrolle eine Rolle spielen. Möglicherweise würden einsame Menschen mehr auf soziale Signale achten, sagt der Neurowissenschaftler Nathan Spreng von der McGill University in Montreal. Bei der Auswertung von rund 40 000 Hirnscans von Personen im Alter von 40 bis 69 Jahren kamen er und sein Team allerdings zu einem gegenteiligen Ergebnis: Einsamkeit hing mit schwächeren neuronalen Verknüpfungen zwischen dem visuellen System und dem Ruhezustandsnetzwerk zusammen – und einer stärkeren Kommunikation innerhalb des Letzteren. Laut Spreng könnte das daran liegen, dass ältere Menschen dem Gefühl des Alleinseins begegnen, indem sie sich an vergangene soziale Erfahrungen erinnern und die Leere mit ihrer Vorstellungskraft füllen. Auf diese Weise stärkten sie das DMN.
Dieses ist eines von vielen Netzwerken im Gehirn, die bei Alzheimer geschädigt werden. Nathan Spreng und sein Team untersuchen derzeit, ob robuste Ruhezustandsnetzwerke tatsächlich etwas mit der degenerativen Erkrankung zu tun haben – und wenn ja, warum. Eine Überlegung lautet beispielsweise, dass starke neuronale Verbindungen es pathologischen Prozessen erleichtern können, sich im Netzwerk auszubreiten. Diese Idee sei noch lange nicht bewiesen, aber sie wäre eine plausible Erklärung und eine interessante Hypothese, sagt die Neurowissenschaftlerin Anastasia Benedyk vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim.
Auf der Suche nach Lösungen
Wie lässt sich Einsamkeit überwinden? Etliche Ansätze sind im Grunde nicht überraschend. Laut dem Gerontopsychiater Andrew Sommerlad kann es zum Beispiel helfen, wenn soziale Aktivitäten leichter zugänglich sind – etwa, indem Menschen zusammenwohnen und es Gemeinschaftsräume gibt. Auch Bewegung ist hilfreich. Anastasia Benedyk und ihre Kollegen entdeckten 2024, dass das Gehen von rund fünf Kilometern innerhalb einer Stunde bei einigen Menschen die mit Einsamkeit verbundene schlechte Stimmung vollständig beseitigt.
Personen mit einer hohen Konnektivität in ihrem Ruhezustandsnetzwerk profitierten am meisten von der Bewegung. Weshalb? Das Netzwerk spielt auch bei Depressionen eine Rolle. Eine mögliche Erklärung für diese Beobachtung ist, dass Menschen sehr viel grübeln – ein Verhalten, das Benedyk zufolge das DMN stark beansprucht. Bewegung könnte sie dazu zwingen, andere Teile ihres Gehirns zu nutzen: Die Hirnaktivität verlagert sich auf Bereiche, die mit körperlicher Ertüchtigung verbunden sind, was die negative Gedankenspirale unterbricht.
Sport ist außerdem eine gute Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen. Inzwischen ist die eingangs erwähnte Theresa Chaklos im Ruhestand, aber sie leitet die Bostoner Zweigstelle eines Programms namens »Walk with a Doc«, bei dem Ärzte Bewohner ihrer Gemeinde dazu einladen, mit ihnen spazieren zu gehen. Bei einem Treffen der Gruppe im Februar kamen etwa 14 Personen und schlenderten durch ein Einkaufszentrum in Boston, wo sie dem Winterwetter in Neuengland entgehen konnten. Die körperliche Aktivität »hebt einfach die Stimmung«, sagt Chaklos. »Selbst wenn man dann nach Hause geht und wieder allein ist, fühlt man sich nicht mehr ganz so einsam.«
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