Gendermedizin: Warum Frauen anders krank sind als Männer
Männer und Frauen sind verschieden. Davon zeugen nicht nur Klischees um Einparkfähigkeiten oder den Hang zum Schuherwerb. Auch die Medizin kommt mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass sich die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht auf Geschlechtsmerkmale und -chromosomen beschränken. Es ist also höchste Zeit umzudenken – in Praxen und Kliniken, aber auch in Forschung und Medikamentenentwicklung.
Der kleine große Unterschied beginnt schon lange vor der Geburt: So gelten Spermien mit X-Chromosom, also weibliche Samenzellen, als größer und stärker, aber dafür als langsamer als ihre männlichen Mitstreiter im Befruchtungsrennen. Die kleineren Y-Spermien dagegen sind zwar flinker, jedoch weit weniger widerstandsfähig. Ein Trend, der sich fortsetzt: So reagieren männliche Föten empfindlicher auf negative Einflüsse wie Stress, Stöße, Hormonschwankungen oder Mangelernährung der Mutter – das Risiko einer Fehlgeburt ist bei ihnen fast zehn Prozent höher als bei Mädchen. Und auch nach der Geburt führen die Jungs die Krankheitsstatistiken an.
Doch irgendwann scheint sich das Verhältnis umzudrehen: Laut DAK-Gesundheitsreport melden sich Frauen öfter krank. 2015 hatten Arbeitnehmerinnen 14 Prozent mehr Fehltage als männliche Kollegen. Dem gegenüber steht jedoch die höhere Lebenserwartung der Frauen. Das Statistische Bundesamt verzeichnet eine Differenz von immerhin fünf Jahren: Während Männer hier zu Lande im Durchschnitt mit 78 Lebensjahren rechnen dürfen, sind es bei Frauen 83. Ein merkwürdiger Widerspruch: "Wie kann das kränkere Geschlecht eine längere Lebenserwartung haben?", fragte die amerikanische Soziologin Lois Verbrugge, University of Michigan, bereits 1976.
Schwangerschaft und Vorurteile
Als einen möglichen Grund für die Diskrepanz in Sachen Krankmeldung führt die DAK Beschwerden und Komplikationen in der Schwangerschaft ins Feld. Das erklärt über alle Altersgruppen hinweg immerhin 12,3 Prozent der Unterschiede. Doch auch Geschlechterstereotype fallen ins Gewicht. So melden sich laut DAK eher Frauen als Männer krank, weil ihr Kind das Bett hüten muss. Außerdem sprechen Frauen mehr über körperliche Beschwerden als Männer. Monika Sieverding, die an der Universität Heidelberg unter anderem zum Thema Geschlechterrollen und Gesundheit forscht, schreibt dazu: "Dieses Mehr an subjektiver Morbidität bei Frauen war einer der Gründe, warum Frauen bis vor Kurzem als das 'kränkere Geschlecht' angesehen wurden."
Männer dagegen, so haben Sieverdings Untersuchungen gezeigt, sind eher zurückhaltend, wenn es darum geht, ärztlichen Rat und Hilfe einzuholen – und zwar umso mehr, je stärker ihr Selbstbild dem kernigen "Marlboro-Mann" entspricht. Dazu sind sie echte Vorsorgemuffel. Krankheiten werden bei ihnen daher oft später erkannt und ziehen ernstere Folgen nach sich, was sich wiederum auf die Lebenserwartung auswirken kann. Entsprechend kam eine US-amerikanische Langzeitstudie zu dem Ergebnis: Besonders maskulin auftretende Männer sterben früher – ebenso wie Frauen, die eher ein männliches Gebaren an den Tag legen.
Wer sich im Gesundheitssektor mit den Diskrepanzen zwischen Männern und Frauen befasst, muss jedoch unterscheiden: Ist die Rede von Gender- oder Geschlechtermedizin? Denn während der erste Begriff sich auf das typische Rollenverhalten und die Position in der jeweiligen Gesellschaft bezieht, meint der zweite die harten biologischen Fakten. Und diese fangen bei den Geschlechtschromosomen an.
Weil Männer mit einem normalen männlichen Genotyp nur ein X-Chromosom besitzen, sind sie anfälliger für Krankheiten, die X-chromosomal und rezessiv vererbt werden: Bei Frauen gleicht das zweite X-Chromosom das unvorteilhafte Erbgutstück aus, bei Männern kommt ein Defekt auf diesem Geschlechtschromosom voll zum Tragen. Beispiele hierfür sind etwa die Bluterkrankheit (Hämophilie A und B) oder die Duchenne-Muskeldystrophie, eine fortschreitende Muskelschwäche. Aber auch die Rotgrünblindheit wird rezessiv über das X-Chromosom vererbt.
Gender und Geschlecht
Doch Erbkrankheiten sind aber längst nicht alles. Bereits in den 1980er Jahren erkannte die amerikanische Kardiologin und Vorreiterin der Geschlechtermedizin Marianne Legato: Koronare Herzerkrankungen unterscheiden sich bei Männern und Frauen – und zwar gravierend. So klagen Frauen bei einem Herzinfarkt seltener über den typischen linksseitigen Brustschmerz. Stattdessen leiden weibliche Infarktpatientinnen häufiger unter Atemnot, Bauchschmerzen und Übelkeit, weshalb die Symptome oftmals eher einer Erkrankung des Magen-Darm-Traktes zugeordnet werden. Legato erwähnt in ihrem Buch "Evas Rippe" zudem, weibliche Infarktsymptome würden oft als Panikattacke missdeutet – mit der Folge, dass die Patientinnen statt einer adäquaten Behandlung Beruhigungsmittel bekommen.
Umdenken heißt es aber auch für Grundlagenforschung und Medikamentenentwicklung. "Wir brauchen dringend mehr Studien, die beide Geschlechter gleichermaßen berücksichtigen", sagt Vera Regitz-Zagrosek, Direktorin und Gründerin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Berliner Charité. Das fange bereits bei Tierexperimenten an. Die laufen bislang meist mit männlichen Tieren, weshalb auch nur der "männliche" Krankheitsmechanismus berücksichtigt wird. Aber auch am anderen Ende, bei der Arzneimittelentwicklung und -prüfung, liegt einiges im Argen. "Weibliche Lebern und Nieren verarbeiten Medikamente anders als männliche", erklärt die Forscherin. "Das beeinflusst die Verweildauer im Körper, die Wirksamkeit, aber auch die Nebenwirkungen. Noch gravierender ist der Unterschied bei Angina pectoris." Bei Männern würde der anfallsartige Brustschmerz, ausgelöst durch eine Durchblutungsstörung des Herzens, meist richtig interpretiert. "Bei Frauen dagegen werden die Symptome häufig vom Tisch gewischt oder als Rücken- oder Bauchsymptome oder auch als Spätfolge einer Brustkrebs-OP missverstanden."
Mehr noch: Frauen sterben häufiger als Männer während eines akuten Infarkts. Ist dieser jedoch überstanden, scheinen sich weibliche Herzen besser zu regenerieren – zumindest im Tierversuch. Weibliche Mäuse haben höhere Chancen, einen Gefäßverschluss zu überleben, als männliche. "Bei Menschen verläuft die Neubildung von Bindegewebe nach dem Infarkt unterschiedlich", so Regitz-Zagrosek. Das feminine Herz passt sich möglicherweise an die neue physiologische Situation im Herzmuskel an. "Aber dazu weiß man noch sehr wenig", warnt die Ärztin vor voreiligen Schlüssen.
Unterschiedliche Immunsysteme
Sicher ist: Die Spätfolgen unterscheiden sich bei Männern und Frauen. Lebensbedrohliche Herzrhythmusstörungen sind eine überwiegend männliche Folgeerkrankung. Frauen dagegen leiden nach einem Infarkt eher unter Herzschwäche. "Das ist unter anderem hormonell bedingt", erklärt Regitz-Zagrosek.Der Infarkt und die damit einhergehende Zerstörung von Herzmuskelgewebe ruft das körpereigene Abwehrsystem auf den Plan. Immunzellen wandern zum Ort der Verwüstung, um Aufräumarbeit zu leisten. Wie diese abläuft, wird jedoch stark von den Sexualhormonen beeinflusst. "Testosteron schiebt die Immunreaktion in eine proinflammatorische Richtung, ruft also eine entzündungsähnliche Situation im geschädigten Herzen hervor, die noch mehr Zerstörung nach sich zieht", fasst die Wissenschaftlerin das komplizierte Geschehen zusammen. "Östrogen dagegen begünstigt eine antiinflammatorische Situation, die eine bessere Neubildung von Bindegewebe erlaubt." Dadurch wird das Herz stabilisiert – wenn auch das Bindegewebe nicht die Pumpkraft der Herzmuskelzellen ersetzt.
Geschlechtsabhängige Unterschiede des Immunsystems machen sich auch an anderer Stelle bemerkbar. Frauen sprechen besser auf Impfungen an als Männer, doch sie tragen ein höheres Risiko für Nebenwirkungen sowie für Autoimmunerkrankungen. Die biologischen Mechanismen, die hinter diesem Phänomen stecken, sind noch nicht endgültig geklärt. Vereinfacht gesagt ist die weibliche Immunreaktion stärker. So reagiert das weibliche Abwehrsystem zumindest bis zur Menopause massiver auf Angriffe durch Krankheitserreger. Frauen bekommen daher möglicherweise öfter eine Erkältung, Männer dagegen erkranken stärker, wie eine australische Studie aus dem Jahr 2010 nahelegt. Am berühmten "Männerschnupfen" ist also vielleicht doch mehr dran als das gesteigerte Aufmerksamkeitsbedürfnis großer Jungs.
Dass die Immunreaktion so unterschiedlich ausfällt, liegt teils an den Geschlechtshormonen. Während Östrogen die Antikörperproduktion zur Abwehr von Infektionen puscht, scheint Testosteron eher eine Immunbremse zu sein. Ein weiterer Schlüssel zur stärkeren weiblichen Immunreaktion liegt im X-Chromosom: Es enthält mehr Gene, die für die Immunabwehr zuständig sind, als das Y-Chromosom. Die Dopplung des X-Chromosoms könnte die weibliche Abwehr also ebenfalls stärken.
Augenverletzungen sind vom Mars, Harnwegsinfekte von der Venus
Das heißt jedoch nicht, dass Frauen grundsätzlich besser vor Infektionen geschützt sind als Männer. "Harnwegsinfekte betreffen vor allem Frauen", sagt Elisabeth Presterl, Leiterin der Universitätsklinik für Krankenhaushygiene und Infektionskontrolle an der Medizinischen Universität Wien. "Das klingt zwar nach einer vergleichsweise banalen Infektion, doch sie beeinträchtigt die betroffenen Frauen sehr. Und vor allem bis zum 60. Lebensjahr ist die Geschlechterdiskrepanz frappierend." Grund für die Häufung ist einerseits die weibliche Anatomie, die den Erregern Tür und Tor öffnet. "Aber auch durch Geschlechtsverkehr werden die Harnwegsinfektionen mechanisch begünstigt", so Presterl.
Das spielt auch eine Rolle bei Geschlechtskrankheiten, die mit viel höherer Wahrscheinlichkeit von Männern auf Frauen übertragen werden als umgekehrt. So liegt das Risiko, dass sich eine Frau bei ihrem infizierten männlichen Sexualpartner mit Gonorrhö ansteckt, bei 60 bis 90 Prozent. Umgekehrt sind es gerade mal 20 bis 30 Prozent. Für Augenerkrankungen dagegen scheinen Männer wesentlich anfälliger zu sein. "Allein weil sie eher Berufe ausüben, die eine Verletzung und damit eine Infektion des Auges begünstigen." Geschlechter- und Gendermedizin lassen sich also nicht vollständig voneinander trennen.
Für Presterl ist es daher entscheidend, das geschlechtertypische Rollenverhalten bei medizinischen Fragestellungen mehr zu berücksichtigen – egal ob bei Diagnostik, Therapie, Prävention oder Rehabilitation. "Wir müssen Wege finden, um in Sachen Vorsorgeuntersuchungen und Impfung Männer und Frauen gleichermaßen zu erreichen", sagt die Wiener Ärztin. Gemeinsam mit Tanja Stamm, Professorin für Outcome Research, bereitet sie derzeit eine Studie vor, die untersuchen soll, wie gut Männer und Frauen nach Krankenhausaufenthalten wieder ins Arbeitsleben integriert werden. "Das ist eine Frage, die mich brennend interessiert."
Schreiben Sie uns!
2 Beiträge anzeigen