Frauengesundheit: Die Medizin muss weiblicher werden
Die ersten paar Tage sei sie immer völlig ausgeknockt. Seit Tanja* das erste Mal ihre Periode bekam, leidet sie unter heftigen Regelschmerzen. »Da musst du halt durch«, sagten ihre Eltern. Die Ärzte verschrieben ihr die Antibabypille und Schmerzmittel, beides half zunächst. Doch seit sie Anfang 30 ist, hat Tanja immer häufiger Zwischenblutungen. Trotz mehrerer Untersuchungen findet ihre Frauenärztin nichts. Damit müsse Tanja eben leben, sagt sie. Doch die Blutungen und Schmerzen werden immer schlimmer, ohne eine Höchstdosis Ibuprofen schafft es Tanja kaum zur Arbeit. Sie vereinbart einen Termin bei einem anderen Frauenarzt. Dieser stellt fest, dass Tanjas »Frauenprobleme« keineswegs normal sind: Sie leidet unter Endometriose.
Dabei siedeln sich Zellen der Gebärmutterschleimhaut im Bauchraum an, meist an den Eierstöcken oder im Bauchfell. Die Herde wachsen mit dem weiblichen Zyklus. Doch statt wieder abgestoßen und mit der Regelblutung ausgeschieden zu werden, bleiben sie im Körper und führen zu Entzündungen und Verwachsungen, die den Patientinnen nicht nur viel Leid verursachen, sondern sie sogar auch unfruchtbar machen können.
Vom Auftreten der ersten Symptome bis zur Diagnose vergehen im Schnitt über zehn Jahre. Zehn Jahre voller Schmerzen – und Unverständnis. »Vor allem männliche Bekannte fragen, warum man sich so anstellt«, sagt Tanja. Außer Hormonbehandlungen und Operationen, die bei Weitem nicht jeder Frau helfen, gibt es keine Therapie. Denn obwohl die Krankheit schätzungsweise 5 bis 15 Prozent aller Frauen im fruchtbaren Alter betrifft, ist die Medikamentenentwicklung heute nicht viel weiter als vor 15 Jahren. »Würde die Krankheit auch Männer betreffen, hätten wir schon längst eine Lösung«, sagt Sylvia Mechsner, die das Endometriose-Zentrum der Berliner Charité leitet.
Frauen sind noch immer unterrepräsentiert
Frauen sind als Probanden in der medizinischen Forschung immer noch stark unterrepräsentiert. Das hat nicht nur Folgen für die Untersuchung von Erkrankungen wie Endometriose. Auch Leiden, die beide Geschlechter gleichermaßen betreffen, studieren viele Arbeitsgruppen lieber an Männern und männlichen Versuchstieren. In einem offiziellen Papier vom Februar 2017 räumt die EU ein, dass »Frauen aus verschiedenen Gründen von toxikologischen und biomedizinischen Studien sowie klinischen Prüfungen ausgeschlossen werden«. Aus diesem Grund gäben biomedizinische Forschungsergebnisse in erster Linie die männliche Perspektive wieder.
Die Bevorzugung männlicher Probanden hängt zum einen damit zusammen, dass Frauen schwanger werden können. Oft lässt sich auf Basis von Tierversuchen nicht ausschließen, dass ein Medikament negative Auswirkungen auf Schwangere und ihr ungeborenes Kind haben kann. Weil der Wirkstoff Thalidomid (bekannt unter dem Handelsnamen Contergan) bei ungeborenen Kindern schwere Fehlbildungen verursachte, veröffentlichte die US-amerikanische Zulassungsbehörde FDA im Jahr 1977 eine Anweisung, die gebärfähige Frauen vorsichtshalber von den meisten klinischen Studien ausschloss. Anfang der 1990er Jahre revidierte die Behörde diese Anweisung jedoch und forderte Arzneimittelhersteller ausdrücklich auf, sowohl Männer als auch Frauen in die Tests miteinzubeziehen. Diese Forderung ist nun bereits seit vielen Jahren in internationalen Leitlinien verankert.
Wie lauten die offiziellen Richtlinien?
In ihrer »Guideline for the Study and Evaluation of Gender Differences in the Clinical Evaluation of Drugs« von 1993 forderte die FDA Arzneimittelhersteller erstmals auf, sowohl Männer als auch Frauen in die Tests miteinzubeziehen. Die Internationale Harmonisierungskonferenz ICH, die mit dem Ziel gegründet wurde, die Zulassungsanforderungen für Medikamente in den USA, der EU und Japan zu vereinheitlichen, veröffentlichte 2005 ihre »Gender Considerations in the Conduct of Clinical Trials«. Darin bestätigen Experten aus den Zulassungsbehörden und der Industrie, dass die Berücksichtigung von Frauen in den international geltenden Leitlinien bereits ausreichend geregelt ist.
In Europa ist die Ermittlung eventueller Unterschiede zwischen Frauen und Männern im Rahmen klinischer Prüfungen seit 2001 gesetzlich gefordert, in Deutschland seit 2004. Die aktuelle Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates von 2014 enthält – außer in Bezug auf schwangere oder stillende Frauen – allerdings keine genauen Vorschriften. Darum verabschiedete die EU am 14. Februar 2017 einen Entschluss zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter in den Bereichen psychische Gesundheit und klinische Forschung und »unterstreicht, dass dringend Maßnahmen erforderlich sind, um geschlechtsspezifische Lücken (…) zu schließen, etwa in Bezug auf Medikamente für die Behandlung von Alzheimer, Krebs, Schlaganfällen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen«. Genaue Vorgaben finden sich aber auch darin nicht.
In manchen Ländern wie den Niederlanden oder in Skandinavien würden diese bereits recht gut umgesetzt, sagt Vera Regitz-Zagrosek. Sie ist Gründerin des ersten Instituts für Gendermedizin an der Berliner Charité. In Deutschland gehe es allerdings kaum voran.
Frauen sind skeptischer, aber sehr verlässlich
Zu einem großen Teil liege das auch an Bequemlichkeit, sagt die Kardiologin. Wer Frauen in seine Studien miteinbezieht, muss zyklusbedingte Hormonschwankungen berücksichtigen, den Einfluss von Verhütungsmitteln oder den Wechseljahren. Sonst läuft man Gefahr, dass die Forschungsergebnisse verfälscht werden. Doch das sei – sofern man es richtig angehe – weder bei weiblichen Versuchstieren noch bei Probandinnen der Fall. Führe man Studien etwa an einer genügend großen Zahl von Probandinnen durch, mittelten sich zum Beispiel zyklusbedingte Unterschiede heraus. Generell sei es zwar etwas aufwändiger, Frauen für klinische Studien zu gewinnen: »Sie sind oft skeptischer«, erklärt die Ärztin. Dafür seien sie aber sehr verlässlich.
Eine Auswertung der öffentlichen Bewertungsberichte der europäischen Arzneimittelbehörde EMA ergab, dass die Hälfte der 2018 und 2019 neu zugelassenen Arzneimittel an Versuchsgruppen getestet wurde, die zu weniger als 50 Prozent aus Frauen bestanden. Darunter waren nicht nur Medikamente gegen typische Männerkrankheiten wie Prostatakrebs oder Hämophilie, sondern auch solche gegen Krebs- und Autoimmunerkrankungen, die Frauen genauso oft oder sogar häufiger betreffen.
Laut einer Umfrage des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (vfa), dem etwa zwei Drittel aller deutschen Pharmafirmen angehören, befinden sich derzeit immerhin 32 Medikamente in klinischen Tests, die ausschließlich oder überwiegend für Frauen entwickelt wurden. Sie könnten bis 2021 zugelassen werden.
Dass sich jedoch noch längst nicht alle Wissenschaftler des Problems bewusst sind, zeigt etwa eine Studie, die ein internationales Forscherteam im Dezember 2019 im »New England Journal of Medicine« veröffentlichte. Darin berichten die Autoren, dass eine entzündungshemmende Substanz, die aus der Herbstzeitlose gewonnen wird, Herzinfarktpatienten offenbar vor einem erneuten Herz-Kreislauf-Kollaps beschützte. Lediglich im Kleingedruckten ist vermerkt, dass der Stoff bei Frauen keine solche Wirkung zeigte.
Der Unterschied liegt in den Genen
Solche Ergebnisse sind keine Seltenheit. Während Frauen zwei X-Chromosomen in ihren Zellen tragen, besitzen Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Das hat Auswirkungen auf ihren Hormonhaushalt, ihren Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf- und das Immunsystem. Und kann wiederum dazu führen, dass Krankheiten auf unterschiedlichen Wegen entstehen, sich äußern und manchmal eben auch behandelt werden müssen.
Warum wirken Medikamente bei Frauen anders als bei Männern?
Männer und Frauen sind verschieden. Dieses Gesetz ist, in Form der Geschlechtschromosomen, in allen Zellen unseres Körpers festgeschrieben. Es spiegelt sich unter anderem im Hormonhaushalt wider und hat großen Einfluss auf unseren Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf- und das Immunsystem.
Zudem enthält der weibliche Körper mehr Fett, der männliche dafür mehr Muskeln und Wasser. Fettlösliche Arzneimittel wie Diazepam – bekannt unter dem Handelsnamen Valium – verbleiben daher bei Frauen länger im Körper als bei Männern. Bei wasserlöslichen Medikamenten ist es hingegen genau umgekehrt.
Für den Weg durch den Körper einer Frau braucht eine Tablette doppelt so lange wie durch den eines Mannes. Auch die Leberenzyme, die die Medikamente um- und abbauen, sind bei Männern und Frauen unterschiedlich aktiv. Darum baut sich beispielsweise das weit verbreitete Kopfschmerzmittel Aspirin bei Frauen etwas langsamer ab als bei Männern. Mit einer verlängerten Wirkung verstärken sich auch die Nebenwirkungen. So leiden Frauen, die so genannte ACE-Hemmer einnehmen, um ihren Blutdruck zu senken, etwa doppelt so oft unter einem trockenen Reizhusten wie Männer.
Laut neueren Studien entstehen Schmerzen bei Männern und Frauen auf unterschiedlichen Wegen, es sind sogar verschiedene Arten von Zellen daran beteiligt. Das könnte erklären, weshalb manche Schmerzmittel bei Frauen besser wirken als bei Männern – und andersrum.
Im Rahmen der Studie GendAge untersuchen Regitz-Zagrosek und ihre Kollegen derzeit 1600 ältere Frauen und Männer aus der Berliner Altersstudie (BASE-II). Sie wollen unter anderem herausfinden, welche biologischen und psychosozialen Faktoren die Entstehung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen begünstigen. Diese sind hier zu Lande sowohl bei Männern als auch bei Frauen die Todesursache Nummer eins. Laut der Kardiologin haben Frauen bei solchen Erkrankungen eigentlich die besseren Voraussetzungen. Auf Grund ihrer Geschlechtshormone sind sie relativ gut gegen eine Verengung der Gefäße und damit vor Herzerkrankungen geschützt. Ab den Wechseljahren steigt ihr Risiko jedoch rapide an. So sind Männer im Schnitt zehn Jahre jünger, wenn sie an einem Herzleiden erkranken – und haben folglich bessere Überlebenschancen.
Das ist allerdings nicht die ganze Geschichte: Auch weil die Beschwerden der Frauen häufig nicht ernst genug genommen und richtig behandelt würden, kämen ungünstige Verläufe bei ihnen häufiger vor als bei Männern, sagt Regitz-Zagrosek. Die MEDEA-Studie von 2017 ergab, dass bei über 65-jährigen Frauen mit Herzinfarktsymptomen bis zu viereinhalb Stunden vergehen, bis sie in der Notaufnahme sind. Bei gleichaltrigen Männern geht es etwa eine Stunde schneller.
Laut dem Deutschen Herzbericht starben im Jahr 2016 etwas mehr Frauen (107 529) als Männer (99 503) an Herzkrankheiten. Und das, obwohl diese als typische Männerkrankheiten gelten und männliche Patienten tatsächlich häufiger davon betroffen sind.
Ein Herzinfarkt äußert sich bei Frauen anders als bei Männern
»Viele Herzinfarkt-Todesfälle bei Frauen ließen sich vermeiden, würden die Symptome richtig gedeutet«, erklärt Christiane Tiefenbacher vom Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Herzstiftung und Chefärztin der Kardiologie am Marien-Hospital Wesel in einer Pressemitteilung. Denn die Symptome, die heute als typisch bei einem Herzinfarkt gelten, sind ebenjene, die vorwiegend Männer zeigen. Im April 2018 veröffentlichte die Deutsche Herzstiftung deshalb einen Sonderdruck, der speziell über das Thema Herzinfarkt bei Frauen informiert.
Der Verschluss eines Herzkranzgefäßes macht sich bei Männern meist durch einen Druckschmerz in der Brust bemerkbar, der bis in den linken Arm ausstrahlen kann. Zwar treten diese Anzeichen auch bei Frauen auf. Oft stehen bei ihnen aber ebenso Beschwerden wie Kurzatmigkeit, Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen im Vordergrund. »Manchmal finden wir nur durch das EKG, das wir in der Notaufnahme routinemäßig aufnehmen, heraus, was los ist«, sagt die Internistin Andrea Graeger, die sich derzeit an der Stiftungsklinik Weißenhorn zur Kardiologin weiterbildet.
Bei Frauen würden Schmerzen zudem häufig eher als psychisches Problem abgetan, erklärt die Präventionsforscherin Gertraud Stadler von der Berliner Charité. Viele Patientinnen spielen ihre Beschwerden darum herunter oder schieben sie auf die Wechseljahre. »Schmerz hat immer eine Warnfunktion. Wenn man ihn ignoriert, wird er schlimmer«, sagt auch Gynäkologin Mechsner. Ärztinnen und Ärzte müssten genauer hinschauen und das Leid der Frauen ernst nehmen – selbst wenn es wie bei den Endometriose-Patientinnen auf den ersten Blick vielleicht wie »normale« Regelschmerzen aussieht.
Umgekehrt gibt es auch Krankheiten, die bei Männern schlechter erkannt werden. Beispiele dafür sind etwa Osteoporose oder Depressionen. Solche »blinden Flecke« gelte es Stadler zufolge anzugehen und die medizinischen Leitlinien entsprechend anzupassen.
Per Smartphone-App gegen den Gender Gap?
Es gibt inzwischen unzählige Apps, mit denen man Schmerz, Ernährung, Bewegung oder Puls aufzeichnen und angeblich sogar Krankheiten feststellen kann. Apps, die als Medizinprodukte gelten, können inzwischen vom Arzt verschrieben werden. Das besagt das Digitale-Versorgung-Gesetz, das Ende 2019 beschlossen wurde.
Noch lässt sich allerdings nicht sagen, ob solche Apps wirklich helfen, Krankheiten bei Frauen besser zu erkennen oder gar Datenlücken in der medizinischen Forschung zu schließen. Oft wisse man nicht, ob Genderaspekte überhaupt berücksichtigt würden, sagt Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes und Vorsitzende des Ausschusses E-Health in der Ärztekammer Nordrhein. Laut Präventionsforscherin Gertraud Stadler sendet die in Großbritannien verwendete App »Babylon« zum Beispiel einen 65-jährigen Mann mit Brustschmerz in die Notaufnahme und eine gleichaltrige Frau mit denselben Symptomen mit einer Panikattacke nach Hause.
Ärztinnen und Ärzte müssen besser geschult werden
»Krankheiten außerhalb der Bikini-Zone wurden bislang kaum für beide Geschlechter getrennt betrachtet«, sagt Regitz-Zagrosek. Gemeinsam mit der Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Stefanie Schmid-Altringer hat sie ein Buch mit dem Titel »Warum Frauen eine andere Medizin brauchen« verfasst.
Außer an der Berliner Charité steht das Thema geschlechtsspezifische Medizin derzeit nirgendwo in Deutschland im Pflichtprogramm für angehende Ärzte. Auch die angehende Kardiologin Graeger berichtet, dass in ihrem Studium Geschlechterunterschiede kaum eine Rolle gespielt haben. Das muss sich dringend ändern. Die Universität Zürich bietet zu diesem Zweck einen neuen, berufsbegleitenden Studiengang für Gendermedizin an. Das zweijährige Programm sollte im Mai 2020 starten, doch wegen der Covid-19-Pandemie verzögerte sich der Beginn auf März 2021.
In den Augen von Vera Regitz-Zagrosek müssen die Frauen ihr Schicksal letztlich jedoch auch selbst in die Hand nehmen. Bislang gäbe es zu wenig Druck aus der Gesellschaft. Doch nur das Interesse der Allgemeinheit könne verändern, was im Medizinstudium gelehrt, woran geforscht und wie geheilt würde, sagt die Gendermedizinerin.
* Der Name der Protagonistin wurde zum Schutz ihrer Privatsphäre geändert. Er ist der Redaktion bekannt.
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