Fiebersaft & Co: Der Medikamentenmangel hat viele Ursachen
Die Wangen rot glühend, die Augen glasig, Hals- und Kopfschmerzen; das Fieberthermometer nimmt den letzten Zweifel – das Kind hat sich einen grippalen Infekt eingefangen. Schnell zur Kinderärztin, die verschreibt einen fiebersenkenden und schmerzstillenden Saft. So weit, so gut. Aber vielerorts hieß in den vergangenen Wochen in den Apotheken: ›Tut uns leid, haben wir nicht.‹
»Seit Mitte Juli sind Ibuprofen- und Paracetamol-Säfte ausverkauft«, schreibt Apothekerin Iris Hundertmark, Chefin der Bahnhof-Apotheke in Weilheim, auf Anfrage von »Spektrum«. Hersteller, Großhandel und internationale Apotheken könnten aktuell nicht liefern. Eine große Bestellung beim Hersteller Ratiopharm sei kurzfristig und ohne Angabe von Gründen storniert worden. Damit wollte Hundertmark sich eigentlich für die kommende Herbst- und Wintersaison bevorraten.
Iris Hundertmark ist gut mit anderen Apothekerinnen und Apothekern vernetzt und weiß: »Das ist ein deutschlandweites Problem, kein lokales oder regionales, wie es oftmals kommuniziert wird.« Und es betrifft vor allem Kinder und Menschen mit Schluckstörungen, die nicht so einfach auf Alternativen wie Tabletten ausweichen können. Dennoch: Grundsätzlich sei die Versorgung ihrer Kunden mit schmerzstillenden und fiebersenkenden Arzneimitteln gesichert, denn es gäbe noch ausreichend Zäpfchen und Tabletten, schreibt Hundertmark.
Gestiegene Nachfrage, sinkendes Angebot
Auch die Apothekerkammern Nordrhein und Westfalen-Lippe bestätigen massive Lieferengpässe bei Emulsionen mit den Wirkstoffen Paracetamol und Ibuprofen. Ende Juli 2022 veröffentlichte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Stellungnahme: »In 2022 ist der Bedarf an den betroffenen Arzneimitteln überproportional angestiegen. Die Ursachen hierfür konnten bislang nicht befriedigend ermittelt werden.« Hypothesen jedoch gibt es einige.
»Wir sehen momentan eine Häufung von fieberhaften Infekten bei Kindern und Jugendlichen«, schreibt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Für diese Jahreszeit sei das ungewöhnlich und vermutlich eine Folge der aufgehobenen Corona-Maßnahmen. Virale Infekte träfen auf Kinder mit einem relativ untrainierten Immunsystem. »Wir können Infekte offensichtlich nur in ihrem Auftreten verschieben, nicht gänzlich verhindern«, lautet die Erklärung des BVKJ.
Die Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) bestätigen dies. Fast doppelt so viele Menschen wie in den Jahren zuvor klagen in diesem Sommer über akute Atemwegserkrankungen oder grippale Infekte, während die Erkältungssaison Anfang des Jahres mehr oder weniger ausfiel. Hinzu kommt eine Sommerwelle von Corona-Infektionen mit der besonders ansteckenden Omikron-Variante. Die Häufung an Infekten sei aber nicht der Grund für die Medikamenten-Engpässe, erklärt der BVKJ. Denn in den typischen Erkältungssaisons im Winter und Frühjahr bestehe ein solcher Mangel regulär auch nicht.
Sparkurs im Gesundheitswesen
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände ABDA sieht die Ursache für Lieferengpässe vielmehr beim bestehenden Kostendruck im Gesundheitswesen. Regelungen wie Rabattverträge der Krankenkassen mit Pharmafirmen sorgen dafür, dass sich das Preisniveau bei Arzneimitteln stetig nach unten bewegt. Betroffen sind vor allem Generika, also preisgünstige Nachahmerpräparate von Originalen, deren Patentschutz abgelaufen ist.
Beispielsweise erhalten laut dem Branchenverband ProGenerika Hersteller für eine Flasche Paracetamol-Saft den Festbetrag von 1,36 Euro von den Krankenkassen. Gleichzeitig steigen auf der Seite der Produzenten die Kosten für Energie, Logistik oder Lohn. »Allein in den letzten zwölf Monaten ist der Wirkstoff Paracetamol um 70 Prozent teurer geworden«, schrieb ProGenerika im Mai 2022.
Immer häufiger lagern Hersteller deshalb die Produktion von Rohstoffen und Arzneimitteln in Länder aus, die etwa deutlich geringere Lohnkosten haben. Fabriken in China und Indien stellen bereits heute 80 Prozent der Wirkstoffe her, die die europäische Pharmaindustrie verarbeitet. Gestörte Lieferwege oder regionale Beeinträchtigungen im Produktionsland sorgen dann dafür, dass Rohstoffe oder Arzneimittel nicht mehr in Deutschland ankommen. Es gebe auch Engpässe bei anderen für die Produktion nötigen Materialien wie etwa Glasfläschchen, Filter oder Reinigungsmitteln, berichtet ProGenerika. »Hinzu kommt eine teils massive Personalknappheit.«
Gleichzeitig ziehen sich Hersteller nach und nach aus der Produktion zurück, wenn sich bestimmte Präparate einfach nicht mehr lohnen. Während es vor zwölf Jahren noch elf Anbieter von Paracetamol-Säften gab, ist mittlerweile das Generika-Unternehmen Teva Pharmaceuticals mit der bekannten Arzneimittelmarke Ratiopharm allein auf weiter Flur. All das macht den Generika-Markt zu einem labilen Konstrukt und hat jetzt dazu geführt, dass Fiebersäfte rar sind. Wann die Knappheit behoben sein wird, lasse sich derzeit nicht sagen, schreibt ProGenerika auf Anfrage von »Spektrum«.
270 Medikamente sind nicht verfügbar
Das bleibt nicht ohne Folgen. Bereits Anfang 2020 schrieb die Apothekerkammer Hamburg in einer Pressemitteilung, dass sich in Deutschland die Zahl der Lieferengpässe bei Medikamenten von 2017 auf 2019 jeweils nahezu verdoppelte. EU-weit verzwanzigfachten sich zwischen 2000 und 2018 Medikamenten-Lieferengpässe. Aktuell sind laut Lieferengpass-Liste des BfArM 270 Arzneimittel nicht verfügbar. Die Behörde weist jedoch darauf hin, dass nur ein kleiner Bruchteil davon die Versorgung von Patientinnen und Patienten gefährde: »So betreffen beispielsweise von den derzeit gemeldeten Lieferengpässen zehn Meldungen versorgungskritische Wirkstoffe.« Für die meisten betroffenen Präparate gebe es gleichwertigen Ersatz.
Eines der Präparate, für die das nicht gilt, ist Tamoxifen. Im Januar 2022 meldeten Hersteller und Lieferanten, dass das Brustkrebs-Therapeutikum nur eingeschränkt verfügbar sei. Kurz darauf stellte das BfArM fest, dass eine kritische Versorgungslücke innerhalb weniger Wochen drohen würde. Wie es zu dem Mangel kam? Auch hier listet das BfArM eine Reihe von Gründen für das Problem auf. Zugleich ordnete es verschiedene Maßnahmen an, um einen Versorgungsengpass zu verhindern. Beispielsweise sollten Apotheken nur noch kleine Packungsgrößen ausgeben und Ärztinnen und Ärzte »bedarfsgerecht« verordnen. Das sollte eine Bevorratung vermeiden. Gleichzeitig ließen die Behörden den Import tamoxifenhaltiger Arzneimittel zu und forderten Hersteller auf, geplante Produktionen vorzuziehen.
Damit schaffte es die Bundesregierung im Großen und Ganzen, die Bevölkerung weiter mit Tamoxifen zu versorgen. Aber obwohl das BfArM anfangs davon ausging, dass Ende April die Versorgung wieder flächendeckend sichergestellt sei, zeigt die Liste der Lieferengpässe für den Rohstoff Tamoxifencitrat nach wie vor acht aktive Meldungen.
Fiebersaft in Eigenherstellung
Damit sich ein Engpass mit paracetamol- und ibuprofenhaltigen Säften nicht allzu lange hinzieht, empfiehlt das BfArM den Apotheken, entsprechende Suspensionen selbst anzusetzen. »Theoretisch haben wir schon die Möglichkeit, schmerzstillende Säfte herzustellen«, schreibt Iris Hundertmark. Dafür gibt es entsprechende Handlungsanweisungen und exakte Rezepte. Allerdings fehlten laut der Apothekerin aktuell sogar die Grundsubstanzen für die Herstellung. In vielen Apotheken mangle es zudem schlichtweg an Zeit und pharmazeutischem Fachpersonal.
Ein weiterer Streitpunkt sind die Kosten. »Eine Flasche Paracetamol-Saft müsste etwa 20 Euro kosten«, sagt Sebastian Sokolowski von der Apothekerkammer Westfalen-Lippe. Neben den Grundsubstanzen würden auch Faktoren wie die Arbeitszeit einberechnet. In der Regel liegt der Preis für 100 Milliliter Saft sonst bei knapp fünf Euro. Die deutlich höheren Kosten sollen nach Wunsch der Bundesregierung die Krankenkassen tragen.
Diese Maßnahmen sind aber nur Reaktionen auf einen bereits bestehenden Mangel. Ziel müsse es sein, auf Bundes- und Europaebene grundsätzliche Lösungen zu diskutieren, fordert etwa die ABDA. Nur so kann sich auch langfristig die Situation in Deutschland und der EU ändern. Ein wichtiger Schritt sei etwa die Rückverlagerung der Produktion nach Europa. Das betont auch Sebastian Sokolowski: »Wenn wir eine Versorgungssicherheit haben wollen, muss es auskömmlich sein, Rohstoffe und Arzneimittel in Deutschland oder der EU herzustellen.«
Erste Schritte in diese Richtung hat die EU bereits getätigt. Ende 2020 brachte sie eine Arzneimittelstrategie für Europa auf den Weg, unter anderem um die pharmazeutische Industrie in der EU zu stabilisieren und Europas Gesundheitswesen wieder unabhängiger von internationalen Produzenten zu machen. Ende 2022 soll zudem das Arzneimittelrecht aktualisiert werden.
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