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Sepsis: Warum jeder fünfte Mensch an Blutvergiftung stirbt

Eine Sepsis ist schwer zu erkennen, oft tödlich und betrifft weltweit viel mehr Menschen als bislang gedacht. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zu der Krankheit.
Bakterien im Blut

Sie beginnt mit Fieber, einem niedrigen Blutdruck und einem schwachen, schnellen Puls – und wird oft nicht erkannt. Doch die Sepsis, von Laien oft auch Blutvergiftung genannt, ist eine lebensbedrohliche Krankweit. Häufig sind Kinder in Entwicklungsländern betroffen. Wie gefährlich sie ist, zeigt eine aktuelle Studie im Fachmagazin »Lancet«: Ihr zufolge gab es 2017 weltweit rund 49 Millionen Sepsisfälle, doppelt so viele wie bisher gedacht. Elf Millionen Menschen starben 2017 daran. Da pro Jahr weltweit insgesamt rund 58 Millionen Menschen sterben, geht damit fast jeder fünfte Tod auf das Konto der Sepsis.

1. Was verbirgt sich hinter der Krankheit?

Bei einer Sepsis reagiert der Körper unkontrolliert heftig auf eine Infektion. Lange Zeit galt die überschießende Reaktion der Immunabwehr als das zentrale Merkmal der Krankheit. Nach der neuesten Definition, die Experten vor drei Jahren vorlegten, gehört neben den starken Entzündungsprozessen jedoch auch die massive Störung lebenswichtiger Körperfunktionen dazu. Organe wie die Niere, Lunge oder das Herz versagen als Folge des Infektionsgeschehens ihren Dienst. Eine Sepsis ist lebensbedrohlich. In Deutschland sterben jedes Jahr rund 70 000 Menschen daran.

Hier zu Lande sind häufig ältere Menschen betroffen sowie solche mit chronischen Erkrankungen, beispielsweise Diabetes, Krebs oder einer Immunschwäche. Auch Kinder im ersten Lebensjahr sind anfällig. Im Prinzip kann aber jeder Mensch erkranken und das nicht nur nach Operationen. Mehr als zwei Drittel der Sepsisfälle treten als Folge von alltäglichen Infektionen auf. Wenn also Bakterien oder auch Pilze, Viren oder Parasiten über die Haut, Harnwege, den Darm oder die Lunge in den Körper eindringen und sich dort ausbreiten, kann das einer Sepsis die Tür öffnen. Nur bei einem Drittel bis der Hälfte der Fälle können Tests die auslösenden Krankheitserreger aber tatsächlich konkret nachweisen.

»Der umgangssprachlich gebrauchte Begriff Blutvergiftung ist nicht ganz richtig«, sagt Tobias Schürholz von der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie an der Uni-Klinik in Rostock. Das Blut sei nicht vergiftet, sondern vom Krankheitserreger und vor allem von Botenstoffen des Immunsystems überschwemmt. Der rote Strich, der sich in der Nähe einer Wunde bilden und, so der Volksglaube, zum Tode führen könne, wenn er erst einmal das Herz erreiche, habe mit einer Sepsis nichts zu tun. »Bei diesem Phänomen handelt es sich eher um eine Venenentzündung, daran stirbt man nicht«, sagt der Intensivmediziner.

»Sepsis ist eine der am wenigsten nachgewiesenen und erfassten Krankheiten«Petra Dickmann, Universitätsklinikum Jena

Die Sepsis ist weltweit eine der häufigsten, in Deutschland nach dem Herzinfarkt und Krebserkrankungen die dritthäufigste Todesursache. 2013 erkrankten nach Zahlen deutscher Krankenhausstatistiken rund 280 000 Menschen an einer Sepsis, etwa ein Viertel starb daran. Doch die Angaben sind mit Vorsicht zu genießen und die Dunkelziffer womöglich hoch. Das bestärkt auch die aktuelle »Lancet«-Studie mit ihrer überraschend hohen Zahl an weltweiten Sepsisfällen.

»Sepsis ist eine der am wenigsten nachgewiesenen und erfassten Krankheiten«, betont Petra Dickmann vom Center for Sepsis Control and Care am Universitätsklinikum Jena. Weil der für Sepsis stehende Diagnoseschlüssel nur selten in die Patientenunterlagen eingetragen werde, kenne man die genaue Anzahl der Fälle nicht. Um zuverlässigere epidemiologische Daten zu bekommen, müssten die Zusammenhänge zwischen Infektionen und Organversagen im klinischen Alltag besser dokumentiert werden.

2. Wie genau äußert sich eine Sepsis?

Arne Trumann musste wegen eines grippalen Infektes ein paar Tage kürzertreten. Ab Mitte der Woche ging er wieder zur Arbeit, fühlte sich aber nach wie vor ungewohnt schlapp. Am Freitag legte er sich nach Feierabend sofort aufs heimische Sofa. Seine Verfassung verschlechterte sich zunehmend, er zitterte, war blass, verwirrt. Nur sechs Stunden später kämpfte er auf der Intensivstation in einem Bremer Krankenhaus um sein Leben. Der zunächst herbeigerufene Arzt erkannte den Ernst der Lage nicht und riet, erst einmal die Nacht abzuwarten. Trumanns Ehefrau rief dennoch kurz darauf den Krankenwagen. Der Notarzt, der diesen begleitete, schätzte die Situation sofort richtig ein und diagnostizierte eine schwere Sepsis.

Im Nachhinein erklärten sich seine Ärzte und Trumann selbst die Sache so: Beim Aufräumen des Kellers hatte sich der 45-Jährige an einem Draht verletzt. Über die unscheinbare Wunde waren Bakterien, Streptokokken, in sein Blut gelangt, auf die sein Immunsystem, das noch vom grippalen Infekt geschwächt war, nicht angemessen reagieren konnte. Heute engagiert sich Trumann im Verein Sepsis-Hilfe e. V. Mit seiner Krankheitsgeschichte will er auf das Problem aufmerksam machen und andere Menschen vor einem ähnlichen Krankheitsverlauf bewahren.

Achromobacter xylosoxidans | Die Innenseite eines Katheters ist mit einem Film von Bakterien überzogen, der eine Blutvergiftung auslösen kann.

In Sachen Sepsis gibt es noch viel Forschungsbedarf: Warum genau die Situation bei Trumann oder anderen Patienten eskalierte, weiß man auch nach rund 140 000 wissenschaftlichen Publikationen, die in den vergangenen zehn Jahren zum Thema Sepsis erschienen sind, noch nicht. In jedem Fall beschreibt die Sepsis einen krankhaften Prozess im Körper, der sehr unterschiedlich ablaufen kann. Ob sich infolge einer Infektion eine Sepsis entwickelt, hängt vermutlich vom Menge und Aggressivität der Krankheitserreger einerseits und dem Zustand der Immunabwehr andererseits ab ab.

Fest steht: In der ersten Phase einer Sepsis kommt es als Reaktion auf den Krankheitserreger zu einer heftigen Entzündungsreaktion. Gleichzeitig – oder kurz danach – steuert der Körper gegen: In dieser zweiten Phase werden Botenstoffe frei, die die Immunabwehr dämpfen sollen. Typisch ist auch ein Massensterben von T- und B-Lymphozyten, die zwei Hauptakteure der Immunreaktion sind. Schließlich ist der Aufruhr im Körper so groß, dass einzelne Organe (in 70 Prozent der Fälle beispielsweise die Nieren) nicht mehr richtig funktionieren.

»Wenn man eine Sepsis erkannt beziehungsweise einen Verdacht darauf hat, muss sofort aggressiv behandelt werden«Uni-Klinik in Rostock

Je besser man die immunologischen und zellulären Prozesse verstehe, um so größer sei die Chance, eine Sepsis zu verhindern, oder sie besser zu behandeln und das Sterberisiko zu senken, schreibt eine Gruppe europäischer Experten in einer aktuellen Veröffentlichung. Welche Faktoren fördern beispielsweise eine Sepsis, welche (Mikronährstoffe, Zink oder Vitamin D) steuern dagegen? Wie verhalten sich die Immunzellen in den Organen? Wie genau gestalten sich die zeitlichen Prozesse, wann beginnt eine Sepsis überhaupt? Welche typischen Merkmale zeigt die Immunabwehr von Überlebenden? Welche Rolle spielt das Mikrobiom bei der Entstehung und möglicherweise Überwindung einer Sepsis?

3. Wie gefährlich ist die Krankheit?

»Die Sepsis ist ein Notfall, fast die Hälfte der Patienten stirbt daran«, erzählt Tobias Schürholz. Wie bei einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall oder Blutungsschock müssten Ärzte sofort handeln. Innerhalb der ersten Stunde, spätestens in den ersten drei Stunden müssten sie ein Antibiotikum geben, den Kreislauf stabilisieren und eine Blutkultur angelegen, um so den Erreger identifizieren zu können.

Das bringt jedoch ein Problem mit sich: »Wir müssen handeln, bevor das Ergebnis aus dem Labor vorliegt«, sagt Schürholz. Verzögert sich die Behandlung, weil die Sepsis zu spät erkannt und die Anzeichen nicht richtig gedeutet werden können, was nicht selten der Fall ist, steigt das Sterberisiko mit jeder Stunde ohne Behandlung. Die Patienten sterben dann an Organversagen.

Tückisch ist auch etwas anderes: Die Symptome, die eine Sepsis zunächst begleiten, sind nicht typisch, sondern können auch in anderen Situationen auftreten. Meistens hat der oder die Betroffene Fieber, einen äußerst niedrigen Blutdruck, schwachen, schnellen Puls. Daneben ist die Haut blass, bläulich, feucht, kalt. Die Patienten wirken unruhig und verwirrt. Die Blutgerinnung ist gestört, winzige Blutgerinnsel bilden sich in den feinen Gefäßen, die die Organe mit lebenswichtigem Sauerstoff versorgen. Wird der Sauerstoff knapp, sterben die Zellen.

Arne Trumann wurde schon im Krankenwagen mit einem breit wirkenden Antibiotikum behandelt. Er verbrachte vier Wochen im künstlichen Koma, danach mussten abgestorbene Glieder an sieben Fingern amputiert werden. Amputationen und schwere Organschäden sind nach einer überstandenen Sepsis nicht selten. Auch das Gehirn kann betroffen sein.

Manche Überlebende können nicht mehr arbeiten, weil es ihnen schwerfällt, sich zu konzentrieren. »Die Sepsis ist eine verheerende, lebensbedrohliche Erkrankung mit ernsten Langzeitfolgen«, sagt Reba Umberger, Intensivmedizinerin am University of Tennessee Health Science Center in Memphis. Sepsis-Überlebende litten unter individuellen psychischen und körperlichen Symptomen. Außerdem hätten sie ein erhöhtes Risiko, erneut an einer Sepsis zu erkranken. Das alles mache eine besondere medizinische Begleitung nach überstandener Erkrankung dringend nötig.

4. Wie behandelt man sie am besten?

»Wenn man eine Sepsis erkannt beziehungsweise einen Verdacht darauf hat, muss sofort aggressiv behandelt werden«, sagt Tobias Schürholz. Dazu zählt neben der schon genannten Gabe eines Antibiotikums, Flüssigkeit und gegebenenfalls Medikamenten zur Kreislaufstabilisierung auch die operative Entfernung eines möglichen Infektionsherdes. Weitere medikamentöse Möglichkeiten habe man zurzeit nicht, ergänzt Schürholz.

»Es ist nicht einfach, mit Medikamenten gezielt an einer Schraube des Immunsystems zu drehen und dadurch etwas zu verbessern«, sagt der Rostocker Sepsisexperte. Die Immunabwehr agiere höchst komplex. In einer Gesellschaft, in der immer mehr ältere Menschen lebten und die Sepsiszahlen anstiegen, müsse dringend stärker am Thema geforscht werden, fordert der Mediziner.

Dank der neuen Sepsis-Definition, die ihren Schwerpunkt auf das Organversagen bei einer Infektion lege, habe sich auch der Fokus für die Diagnose und Therapie verschoben, erläutert derweil Petra Dickmann aus Jena. »Es stellt sich nun nicht mehr nur die Frage nach dem richtigen Antibiotikum, sondern auch danach, wie die Organe im Krankheitsverlauf gezielt geschützt werden können.«

Ein Therapeutikum, das man beispielsweise in diesem Zusammenhang gerade testet, ist das Enzym alkalische Phosphatase. Dieses körpereigene Molekül kann Zerfallsprodukte von Bakterien oder auch Entzündungsstoffe der Immunabwehr unschädlich machen. In zwei kleinen klinischen Studien verbesserte die Gabe des Enzyms die Nierenfunktion von Patienten und erhöhte die Überlebenswahrscheinlichkeit, 40 Prozent weniger Patienten starben.

Rainer König, Leiter der Arbeitsgruppe »Systembiologie der Sepsis« am Universitätsklinikum Jena, geht einen anderen Weg. Mit Hilfe von Computerprogrammen wertet sein Team Patientendaten aus, um herauszubekommen, welche Behandlungen bei Infektionen oder nach Operationen verhindern, dass es überhaupt zu einer Sepsis kommt.

Demnach profitierte eine Untergruppe von Patienten mit Lungenentzündung, aber ohne Herzerkrankungen, wenn ihnen zur Behandlung der Infektion ein Makrolid-Antibiotikum gegeben wurde. Ähnliche Hilfestellungen für die ärztliche Praxis erhofft sich König auch bei der umstrittenen Frage des Einsatzes von immundämpfendem Kortison. Seine Analyse-Ergebnisse sollen demnächst die Frage beantworten, ob die Kortisongabe bei der Behandlung einer Sepsis Sinn ergibt, und wenn ja, bei welcher Patientengruppe.

5. Wie kann man die Sepsis-Sterblichkeit senken?

Die Sepsis sei die Hauptursache vermeidbarer Todesfälle in Deutschland, sagte Konrad Reinhart, Vorsitzender der Sepsis-Stiftung, der »Deutschen Ärztezeitung«. 15 000 bis 20 000 Todesfälle hier zu Lande ließen sich verhindern, wenn höhere Impfquoten gegen Grippe und Pneumokokken erzielt, Fachkräfte besser in der Früherkennung ausgebildet und die Bevölkerung stärker über Warnsymptome und Vorbeugungsmaßnahmen aufgeklärt würden. »Bis wirksame Antisepsis-Medikamente verfügbar sind, bleibt das rasche Erkennen der potenziell tödlichen Störung das A und O«, folgerte kürzlich auch ein Fachjournalist der »Neuen Zürcher Zeitung«.

Wegen der nicht immer eindeutigen Symptome wäre es ideal, Biomarker für die Schnelldiagnostik zur Verfügung zu haben. »Bisher gibt es solche molekularen Marker, die mit 100-prozentiger Sicherheit eine Sepsis anzeigen, leider nicht«, sagt Tobias Schürholz.

»Wir müssen schneller werden«, findet auch Petra Dickmann, Medizinerin und Expertin für Risikokommunikation am Uniklinikum Jena. Sie untersucht, was auf der Ebene des Gesundheitssystems geschehen muss, damit eine Eskalation der Situation, wie sie bei einer Sepsis auftritt, rasch bemerkt wird.

Ihr Ansatz, der sich auch in Westafrika beim Umgang mit der Ebola-Epidemie bewährt hat: »15 bis 18 Personen, die unmittelbar mit dem Thema befasst sind – zum Beispiel Patienten, Angehörige, Pflegepersonal, Notärztinnen, Intensivmediziner, Laborpersonal – setzen sich für anderthalb Tage an einen Tisch und tauschen ihre Erfahrungen und ihr Wissen aus.« Der Blick aus verschiedenen Richtungen auf die Sepsis helfe, ein kompletteres Bild der Situation zu bekommen, ohne die jeweiligen blinden Flecke der Beteiligten.

»Wir nutzen das Wissen der Experten, ihre Gruppenintelligenz, um den Informationsfluss, die Kommunikation und Koordination zu verbessern«, sagt Dickmann. Auf diesen drei Ebenen gebe es – nicht nur im Umgang mit der Sepsis – ständig Probleme. Nach einigen Treffen, kristallisierten sich bereits erste Maßnahmen heraus, die bald auf ihre Wirksamkeit hin getestet werden sollen, berichtet die Forscherin.

Oftmals arbeiten die Fachkräfte beispielsweise wie am Fließband, also nacheinander statt miteinander. »Hilfreich, um die Sterblichkeit zu senken, könnte es sein, dass es Mitarbeiter gibt, die sich stationsübergreifend, also von der Aufnahme im Krankenhaus bis zur Intensivstation mit Patienten beschäftigen, deren Situation sich rasch verschlechtert«, sagt Dickmann. Am Uniklinikum Greifswald gebe es beispielsweise mittlerweile eine Sepsis-Krankenschwester – als wohl erste und derzeit einzige Fachkraft in Deutschland, die einen solchen Ansatz verkörpere.

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