Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen: Anfällige Seelen
Carina liegt auf dem Sofa und liest. Ab und zu greift sie zu einem Keks und beißt ganz vorsichtig ein winziges Stückchen der überhängenden Schokolade ab. Manchmal drückt sie bloß kurz die Zungenspitze dagegen. Stundenlang kann sich Carina mit dem Schokoladenkeks beschäftigen, manchmal knabbert sie tagelang daran.
Das war zu einer Zeit, als Carina sich überhaupt noch etwas Süßes genehmigt hat. Carina ist magersüchtig: Angefangen hat alles ganz harmlos, eines Tages beschloss die damals 16-Jährige, sich gesünder zu ernähren. Sie verzichtet beim Hauptgang erst auf den Nachschlag, dann auf den Nachtisch. Naschereien zwischendrin sind bald tabu, genauso wie die Hauptmahlzeit am Mittag. Nach kurzer Zeit stellt sich Erfolg ein. Carina fühlt sich fitter – und nimmt ab. Zu Beginn sind die Reaktionen positiv, Carina erhält viel Aufmerksamkeit, und dem Teenager gefällt das. Doch nicht nur die Komplimente von Freunden und Familie über ihre Figur schmeicheln ihr, sondern vor allem die Bewunderung ihrer Disziplin.
»Im Teenageralter spielt Anerkennung eine große Rolle«, sagt Beate Herpertz-Dahlmann. Sie ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Aachen. Sie weiß: Das macht Jugendliche besonders anfällig für psychische Erkrankungen.
Ein Fünftel aller Teenager ist psychisch auffällig
Untersuchungen des Robert Koch-Instituts in Berlin zufolge zeigen bundesweit bis zu 20 Prozent aller Jugendlichen psychische Auffälligkeiten. In der Pubertät beträgt die Prävalenz, also der Anteil an Jugendlichen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer psychischen Störung leiden, etwa zehn Prozent. Außerdem neigen Jugendliche eher dazu, Risiken einzugehen.
Davon ist auch Carina betroffen: Der Zwang, immer schlanker zu werden, hat sie bald ganz im Griff. Der Teenager hat kein Trauma erlitten, keinen Schicksalsschlag, ist in ihrer Clique beliebt, in der Schule bringt sie gute Leistungen. Einen offensichtlichen Grund für ihre Magersucht gibt es nicht. »In den meisten Fällen spielen Traumata oder ähnliche Erfahrungen keine Rolle«, so Herpertz-Dahlmann. Einen bestimmten Auslöser braucht es nicht, »es genügt, wenn ein Mädchen ein bisschen abnehmen möchte«. Wird dann ein bestimmtes Gewicht unterschritten, setzt die Spirale zur Magersucht ein. »Leider ist dies bei jedem anders, so dass wir nicht wissen, wann der Punkt erreicht ist«, sagt Herpertz-Dahlmann.
»Im Teenageralter spielt Anerkennung eine große Rolle«Beate Herpertz-Dahlmann
Gründe für seelische Erkrankungen im Jugendalter sind auf psychischer, gesellschaftlicher und neurobiologischer Ebene zu finden. Beim Erwachsenwerden müssen Jugendliche große Herausforderung meistern. Sie müssen ihren Platz in der Gesellschaft finden, sich von den Eltern abnabeln, einen Freundeskreis aufbauen, Zukunftspläne entwickeln. Hinzu kommt die körperliche Reifung und damit verbunden das Hineinfinden in die Geschlechterrolle. Diese Entwicklung läuft selten harmonisch und konfliktfrei ab.
Ungleichgewicht zwischen Gefühlen und Verstand
In der Adoleszenzphase zwischen dem 11. und dem 21. Lebensjahr kommt es zu einer grundlegenden Neuorganisation im Gehirn. Nervenverbindungen, die kaum in Gebrauch sind, werden abgebaut, wohingegen diejenigen, die häufig aktiv sind, sich optimieren. Diese Entwicklung läuft in den verschiedenen Hirnregionen unterschiedlich schnell ab. Zunächst reifen die subkortikalen Hirnareale, vor allem das limbische System und das Belohnungssystem, die beispielsweise an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt sind. Erst danach entwickelt sich der präfrontale Kortex an der Stirnseite des Gehirns, der für höhere kognitive Leistungen wie die Handlungsplanung verantwortlich ist. Im Jugendalter entsteht also ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Hirnregionen, vereinfacht gesagt zwischen Gefühlen und Verstand: »Jede Art von Belohnung ist dann wichtiger als die Risikoabschätzung einer Handlung«, erklärt Herpertz-Dahlmann.
Carinas Körper ist bald so geschwächt, dass sie ihrem Hobby Tanzen kaum noch nachgehen kann. Oft ist ihr schwindelig, doch das Mädchen erkennt nicht, dass es in Gefahr schwebt. Carina fühlt sich noch immer zu dick – und noch immer bekommt sie meist positive Aufmerksamkeit von ihrem Umfeld. Sie verbietet sich beim Essen immer mehr, hungert immer weiter. Ein Teufelskreis.
Jugendliche sind natürlich nicht grundsätzlich unfähig zu vernünftigen Entscheidungen. Es fällt ihnen in bestimmten Situationen – etwa wenn Gleichaltrige in der Nähe sind oder wenn eine Belohnung wahrscheinlich ist – bloß schwerer. Wie stark ihr Risikoverhalten ausgeprägt ist, hängt dabei nicht nur mit neurobiologischen, sondern auch mit sozialen und kulturellen Faktoren zusammen. Heranwachsende sind deshalb besonders anfällig für äußere Einflüsse wie die Meinung Gleichaltriger. Das hat auch sein Gutes, denn es eröffnet zugleich Chancen im Hinblick auf Erziehung und Bildung, etwa beim Erlernen einer Fremdsprache. Zugleich sind sie jedoch empfänglicher für die Verlockungen des Drogenkonsums.
Mädchen neigen zu introversiven Störungen
Jungen neigen dabei eher zu extroversiven, also nach außen gerichteten Störungen wie exzessivem Alkoholkonsum oder auffälligem Sozialverhalten. Mädchen hingegen neigen zu introversiven Störungen. Dazu gehören Depression, soziale Ängste und Essstörungen. Darunter fällt auch Magersucht. Doch ab welchem Zeitpunkt ist eine Diät krankhaft? Ab welchem Zeitpunkt ist exzessives Trinken ein Problem? Und warum leiden nicht alle Jugendlichen an Magersucht oder einer anderen psychischen Erkrankung? »Manche Jugendliche haben auch eine genetische Anlage dafür, andere nicht«, so Herpertz-Dahlmann.
Wenn Carina mit ihren Freunden abends ausgeht, trinkt sie Mineralwasser. Saft oder gar Alkohol sind tabu – zu viele Kalorien. Wenn sie mal einen Salat nimmt, isst sie am Tag zuvor und am Tag danach weniger, um das auszugleichen. »Weniger« – das bedeutet fast nichts. In der schlimmsten Phase ihrer Magersucht beschränkt sich Carina auf einen Apfel am Tag. Höchstens.
Irgendwann kippt die Stimmung. Familie und Freunde machen sich Sorgen, weil sich Carina nur noch mit ihrem Gewicht und ihrem Körper beschäftigt. Mehrmals am Tag kontrolliert sie ihr Gewicht auf der Waage. »Das ist ein typisches Anzeichen«, sagt Herpertz-Dahlmann. Woran Betroffene erkennen, dass die Situation ernst ist? »Wenn sich alles nur noch ums Gewicht, ums Kochen, um gesunde Ernährung dreht.« Das Selbstwertgefühl Betroffener wird dann ausschließlich von den Ziffern auf der Waage bestimmt. »Steigt das Gewicht, sinkt die Stimmung«, erklärt Herpertz-Dahlmann. Das bleibt Carinas Angehörigen nicht verborgen.
Der Druck auf Carina steigt, vor allem von der Mutter. »Ich werde dauernd von anderen angesprochen, was mit dir los ist.« Diese Reaktion macht Carina wütend. »Es kümmert dich mehr, was andere Leute sagen, als wie es mir geht«, wirft sie ihrer Mutter vor. Und der Vater? »Du wirfst einen Schatten wie eine Drachenschnur«, sagt er neckend – ein Versuch, Kontakt zur Tochter aufzunehmen und seine Sorge auszudrücken. »Das ist nicht sinnvoll, dafür ist die Krankheit zu ernst«, sagt Herpertz-Dahlmann.
Eltern sind oft überfordert
Doch die wenigsten Eltern wüssten, wie sie sich verhalten sollen. Auch Carinas Eltern sind hilflos, und Carina will das alles nicht hören. Erst wird sie aggressiv, dann weicht sie dem Druck aus. Der Teenager zieht sich zurück, wird still, trägt weite Kleidung. Um nicht ständig den Kommentaren ihrer Mitmenschen ausgesetzt zu sein, beginnt Carina, wieder in Gesellschaft zu essen. Ihrem Umfeld genügt das: Keiner bekommt mit, dass Carina sich nach der Mahlzeit regelmäßig zurückzieht. Carina rutscht ab in die Bulimie, isst größere Mengen und erbricht sich gleich wieder. Diese Phase dauert einige Wochen an.
Doch dann lernt Carina in einer Disco Marco kennen, die beiden verlieben sich auf Anhieb ineinander. Plötzlich sind die Schmetterlinge im Bauch wichtiger als die Anzeige auf der Waage. Fast von einem Tag auf den anderen ernährt sie sich wieder normal, den Weg zurück hat sie ohne Therapie gemeistert. »Das kommt vor«, sagt Herpertz-Dahlmann, »wenn im Leben plötzlich etwas Positives passiert.« Das kann auch die Aufnahme eines Studiums sein oder eine große Reise.
Darauf verlassen sollten sich Eltern nicht. Herpertz-Dahlmann rät Betroffenen, so schnell wie möglich professionelle Unterstützung zu suchen, etwa bei einer der zahlreichen Beratungsstellen. Wenn das Kind nicht mitkommen möchte, sollten Eltern sich dennoch beraten lassen – und dies dem Jugendlichen auch mitteilen. Wichtig sei, den Kontakt zum Nachwuchs nicht zu verlieren. »Eltern sollten immer wieder das Gespräch suchen, immer wieder Hilfe anbieten« – egal ob die Tochter ein gestörtes Essverhalten zeigt oder der Sohn über längere Zeit übermäßig viel Alkohol trinkt. »Bei Verdacht auf Lungenentzündung warten Eltern ja auch nicht, ob es vielleicht nicht doch nur eine Bronchitis ist.«
Carina hat Glück gehabt, ihre Lebensfreude kam zurück. Und ist geblieben: Heute ist sie gesund, empfindet gutes Essen als ein Stück Lebensqualität. Das Hungergefühl ist ihr indes zuwider – mit einem knurrenden Magen kann sie schlecht umgehen und braucht dann möglichst sofort etwas zu essen. Auf gesunde Ernährung achtet die junge Frau noch immer, doch in Gefahr eines Rückfalls wähnt sie sich nicht: Heute wiegt sie lieber drei Kilo zu viel als ein Kilo zu wenig.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.