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Kognition: Die Wurzeln der Intelligenz

Warum sind manche Menschen intelligenter als andere? Seit jeher rätseln Forscher über die Frage, was einen schlauen Kopf ausmacht. Eines ist inzwischen klar: Die Zutatenliste ist länger als gedacht!
Neurone abstrakt

Es war eine außergewöhnliche Leistung, die Wenzel Grüß an diesem Oktobertag des Jahres 2018 vor den Augen von Millionen von Fernsehzuschauern zeigte: Mehr als 50-mal köpfte der Schüler aus der Kleinstadt Lastrup im Oldenburger Münsterland einen Fußball in die Luft, ohne ihn fallen zu lassen oder aufzufangen. Dass die Besucher der russischen TV-Show »Amazing People« ihm danach so begeistert Applaus zollten, lag aber nur am Rand an Wenzels sportlichem Geschick. Er hatte nämlich während des Ballspiels so ganz nebenbei auch noch die fünfte Potenz der Zahl 67 berechnet – ein zehnstelliges Ergebnis, in nur 60 Sekunden.

Der heute 17-Jährige verfügt über ein ungewöhnliches Rechentalent: Er multipliziert, dividiert, zieht in Sekundenschnelle Wurzeln aus zwölfstelligen Zahlen, und das ohne Stift, Papier oder sonstige Hilfsmittel. Bei der letzten Kopfrechen-Weltmeisterschaft schaffte es Wenzel so auf den dritten Platz. Besonders komplexe Aufgaben könnten ihn auch schon einmal 50 oder 60 Minuten beschäftigen, sagt er, etwa wenn er eine 20-stellige Zahl in ihre Primfaktoren zerlege. Was ihm dabei helfe? »Das Kurzzeitgedächtnis ist wohl das Wichtigste.«

Wenzels Gehirn hat dem Denkorgan normal begabter Zeitgenossen augenscheinlich etwas voraus, zumindest beim Umgang mit Zahlen. Doch warum sind manche Menschen geistig leistungsfähiger als andere? Diese Frage trieb bereits vor 150 Jahren den britischen Naturforscher Francis Galton um. Dabei fiel ihm auf, dass Intelligenzunterschiede oft mit der Herkunft zu tun haben. In seinem Werk »Hereditary Genius« folgerte er, die menschliche Intelligenz sei vererbbar.

Er sollte mit dieser These Recht behalten, zumindest zum Teil. Die US-Psychologen Thomas Bouchard und Matthew McGue etwa analysierten 1981 mehr als 100 veröffentlichte Studien zu Familienähnlichkeiten bei der Intelligenz. Einige der Ergebnisse stammten zum Beispiel von eineiigen Zwillingen, die nach der Geburt getrennt worden waren. Trotzdem schnitten sie bei Kognitionstests sehr ähnlich ab. Zwillinge, die gemeinsam aufgewachsen waren, glichen sich hinsichtlich ihrer Geistesgaben allerdings noch deutlich mehr. Das Umfeld schien also ebenfalls einen nicht unerheblichen Einfluss zu haben.

Heute gehen Wissenschaftler davon aus, dass Intelligenz zu etwa 50 bis 60 Prozent erblich ist. Anders gesagt: IQ-Unterschiede zwischen zwei Menschen erklären sich gut zur Hälfte aus der DNA-Ausstattung, die sie von ihren Eltern mitbekommen haben.

Intelligenzgene dringend gesucht

Doch die Fahndung nach den dafür konkret verantwortlichen Erbgutabschnitten verlief bis vor wenigen Jahren ernüchternd. Zwar fand man eine Hand voll Anlagen, die augenscheinlich etwas mit Intelligenz zu tun hatten. Bei näherem Hinsehen löste sich dieser Zusammenhang allerdings regelmäßig in nichts auf. Es war paradox: Einerseits belegten zahllose Studien eine hohe erbliche Komponente der Intelligenz. Andererseits konnte niemand genau sagen, welche Gene ausschlaggebend sind.

In jüngerer Zeit hat sich das Bild ein wenig gewandelt. Das liegt vor allem am technologischen Fortschritt. Der Bauplan jedes einzelnen Menschen ist in seiner DNA gespeichert – einer Art riesigem Lexikon mit rund drei Milliarden Buchstaben. Leider ist es in einer Sprache verfasst, die uns weitgehend fremd ist: Wir können zwar die Buchstaben lesen, der Sinn der Lexikoneinträge erschließt sich uns damit jedoch nicht. Selbst wenn Forscher die gesamte DNA einer Person sequenzieren, wissen sie nicht, welche Abschnitte davon für seine Geistesgaben verantwortlich sind.

Intelligenz und IQ

Das Wort Intelligenz kommt vom lateinischen Verb »intellegere«, das sich mit »einsehen, verstehen, begreifen« übersetzen lässt. Psychologen definieren Intelligenz als eine sehr allgemeine mentale Fähigkeit, die verschiedene Kompetenzen umfasst: etwa Probleme zu lösen, komplexe Ideen zu verstehen, abstrakt zu denken und aus Erfahrung zu lernen. Intelligenz beschränkt sich meist nicht auf eine einzige Domäne, etwa auf Mathematik. Denn wer in einem Bereich besonders gut ist, tut sich oft auch auf anderen Gebieten hervor. Reine Inselbegabungen sind dagegen selten. Viele Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass es einen allgemeinen Faktor der Intelligenz gibt, den so genannten g-Faktor.

Wer Intelligenz untersuchen möchte, braucht ein objektives Messverfahren. Der erste Intelligenztest geht auf die französischen Psychologen Alfred Binet und Théodore Simon zurück. Sie setzten ihn 1905 ein, um die kognitive Leistung von Schulkindern zu beurteilen. Die Aufgaben, die sie dazu entwickelten, fassten sie zu so genannten Altersreihen zusammen. So konnten sie das »Intelligenzalter« eines Kindes bestimmen. Das entsprach der Nummer der Aufgabenreihe, die es noch vollständig lösen konnte. Der deutsche Psychologe William Stern schlug 1912 ein neues Maß vor, bei dem das Intelligenzalter durch das Lebensalter geteilt wurde: den Intelligenzquotienten (IQ). Auch wenn der Name geblieben ist, beschreibt der IQ heute keinen Altersquotienten mehr. Stattdessen gibt er an, wie der Testwert einer Person im Vergleich zur Gesamtbevölkerung einzuordnen ist.

Menschen sind verschieden, und dementsprechend unterscheidet sich der Inhalt ihres DNA-Lexikons. Bei Personen mit einem hohen IQ sollten sich aber zumindest jene Passagen gleichen, die etwas mit Intelligenz zu tun haben. Und diese Grundannahme macht die Wissenschaft sich heute zu Nutze. Indem Forscher die DNA hunderttausender Studienteilnehmer an mehreren Millionen kleinen Abschnitten vergleichen, können sie Erbgutregionen identifizieren, die zu einer höheren kognitiven Leistungsfähigkeit beitragen.

In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe derartiger Studien erschienen. Die Analysen zeigen ein immer klareres Bild: Geistig besonders aufgeweckt zu sein, ist nicht eine Frage einzelner Erbanlagen, sondern hängt von tausenden verschiedenen Genen ab. Und jedes einzelne von ihnen leistet nur einen winzigen Beitrag zum Phänomen Intelligenz, manchmal bloß wenige hundertstel Prozent. »Man schätzt mittlerweile, dass zwei Drittel aller variablen Gene beim Menschen direkt oder indirekt etwas mit der Gehirnentwicklung zu tun haben und damit potenziell auch mit der Intelligenz«, betont Lars Penke, Professor für Biologische Persönlichkeitspsychologie an der Georg-August-Universität Göttingen.

Lexikon mit sieben Siegeln

Bleibt noch ein großes Problem: Man kennt nun zwar Tausende von Stellen im DNA-Lexikon, die mit Intelligenz assoziiert sind. In vielen Fällen versteht man aber noch nicht, was diese Passagen bedeuten. Um das Rätsel zu lösen, schauen Intelligenzforscher etwa nach, welche Zellen die gefundenen Lexikoneinträge auffällig oft ablesen. Denn das bedeutet ja womöglich, dass diese Zellen irgendetwas mit dem Denkvermögen zu tun haben.

Immer wieder stoßen die Wissenschaftler dabei auf eine bestimmte Gruppe von Neuronen, die so genannten Pyramidenzellen. Diese wachsen in der Hirnrinde, jener äußeren Schicht von Groß- und Kleinhirn, die in der Fachsprache auch Kortex genannt wird. Er enthält vor allem die Nervenzellkörper, die ihm seine gräuliche Farbe – und damit den Namen »graue Substanz« – verleihen.

Möglicherweise kommt den Pyramidenzellen bei der Entstehung von Intelligenz eine Schlüsselrolle zu. In diese Richtung deuten zumindest Ergebnisse der Hirnforscherin Natalia Goriounova. Die Professorin der Freien Universität Amsterdam hat unlängst mit einer Studie Aufsehen erregt: Sie hat Pyramidenzellen von Versuchspersonen unterschiedlicher kognitiver Leistungsfähigkeit miteinander verglichen. Die Gewebeproben stammten größtenteils von Operationen an Epilepsiepatienten. In schweren Fällen versuchen Hirnchirurgen, den Herd der gefährlichen Krampfanfälle zu entfernen. Dabei wird immer auch gesundes Hirnmaterial entnommen. Und genau dieses Gewebe hat Goriounova untersucht.

Sie testete zunächst, wie sich die darin enthaltenen Pyramidenzellen elektrisch verhalten. Dann zerschnitt sie jede Probe in hauchdünne Scheiben, fotografierte diese unter dem Mikroskop und setzte sie schließlich am Rechner wieder zu ihrer dreidimensionalen Gestalt zusammen. So konnte sie beispielsweise feststellen, wie lang die Dendriten waren – das sind die baumartig verzweigten »Minikabel«, mit denen die Zellen elektrische Signale empfangen. »Dabei haben wir einen Zusammenhang zum IQ der Patienten festgestellt«, erläutert Goriounova. »Je länger und stärker verästelt die Dendriten waren, desto intelligenter war die jeweilige Person.«

Spurensuche im Gehirn |

Forscher untersuchten verschiedene neurophysiologische Merkmale sowie die kognitive Leistung von Probanden. Dabei ging ein niedriger IQ mit einem dünnen Kortex, kurzen Neuronenausläufern im Schläfenlappen und eher langsamen Aktionspotenzialen einher. Teilnehmer mit hohem IQ wiesen dagegen ein größeres Kortexvolumen, längere Dendriten und eine effizientere Signalübertragung auf.

Die Wissenschaftlerin hat dafür auch eine ganz einfache Erklärung: Lange, verästelte Dendriten können mehr Kontakte zu anderen Zellen aufbauen; sie erhalten also mehr Input, mit dem sie rechnen können. Hinzu kommt aber noch ein weiterer Punkt: »Dank ihrer starken Verzweigung können sie in unterschiedlichen Ästen gleichzeitig verschiedene Informationen verarbeiten«, betont sie. Durch diese Parallelverarbeitung haben die Zellen einfach mehr Rechenpower. »Sie sind schneller und leistungsfähiger«, sagt Goriounova.

Nur ein Teil der Wahrheit

So überzeugend diese These klingt, wirklich belegt ist sie noch nicht, räumt die Hirnforscherin freimütig ein. Denn die von ihr untersuchten Gewebeproben stammen größtenteils aus einem sehr begrenzten Areal im Schläfenlappen. In diesem Gebiet entstehen die meisten epileptischen Anfälle; daher finden epilepsiechirurgische Eingriffe in aller Regel dort statt. »Wie es in anderen Hirnregionen aussieht, können wir noch nicht sagen«, gibt Goriounova zu. »Neue, bislang nicht publizierte Ergebnisse unserer Gruppe zeigen aber zum Beispiel, dass der Zusammenhang zwischen Dendritenlänge und Intelligenz in der linken Hirnhälfte stärker ist als in der rechten.«

Verallgemeinern lassen sich die Amsterdamer Ergebnisse also sicher nicht. Zumal es auch Daten gibt, die in eine ganz andere Richtung weisen. Sie stammen von dem Bochumer Biopsychologen Erhan Genç. Er hat sich 2018 zusammen mit Kollegen ebenfalls angeschaut, wie sich der Aufbau der grauen Substanz zwischen intelligenteren und weniger intelligenten Menschen unterscheidet, und kam dabei zu dem Schluss, dass eine starke Verzweigung der Dendriten dem Denkvermögen eher schadet als nützt.

Genç sah sich allerdings nicht einzelne Pyramidenzellen an, sondern schob seine Probanden in den Hirnscanner. Eigentlich eignen sich Magnetresonanztomografen nicht dazu, feinste Gewebestrukturen zu untersuchen – die Bildauflösung reicht in der Regel nicht aus. Die Bochumer Forscher nutzten stattdessen ein spezielles Verfahren, mit dem sich die Diffusionsrichtung des Gewebewassers sichtbar machen lässt.

Dendriten bilden für die Flüssigkeit eine Barriere. Aus den Diffusionsdaten kann man somit ablesen, in welche Richtung die Dendriten verlaufen, wie stark sie sich verzweigen und wie eng sie nebeneinanderliegen. Das Ergebnis: Bei intelligenteren Menschen sind die Dendriten der einzelnen Nervenzellen nicht so dicht gepackt und dröseln sich weniger stark in dünne »Käbelchen« auf. Eine Beobachtung, die den Erkenntnissen der Hirnforscherin Natalia Goriounova diametral widerspricht.

Gut sortiert und geistig fit | Laut einer Studie von Biopsychologen verlaufen die Kortexneurone von Menschen mit niedrigem IQ eher dicht und chaotisch, während ein hoher IQ mit einer geringeren Dichte und größerer Ordnung einhergeht.

Doch brauchen Pyramidenzellen nicht vielfältigen Input, um ihre Aufgaben im Gehirn erfüllen zu können? Wie lässt sich das mit dem beobachteten geringen Verzweigungsgrad vereinbaren? Auch Genç hält Vernetzung für wichtig, sie müsse allerdings gezielt sein. »Wollen Sie, dass ein Baum mehr Früchte gibt, schneiden Sie überflüssige Äste ab«, erklärt er. »Genauso ist es mit den synaptischen Verbindungen zwischen Neuronen: Wenn wir auf die Welt kommen, haben wir davon sehr viele. Im Lauf des Lebens dünnen wir sie jedoch aus und behalten nur diejenigen, die für uns relevant sind.«

Vermutlich können wir Informationen so effizienter verarbeiten. Es ist wie beim Kopfrechenwunder Wenzel Grüß, der beim Lösen einer Aufgabe alles um sich herum ausblendet. Die Verarbeitung von Hintergrundreizen wäre für ihn in so einem Moment kontraproduktiv. Tatsächlich haben intelligente Menschen eine fokussiertere Hirnaktivität als weniger intelligente, wenn sie eine schwierige Aufgabe lösen müssen. Zudem verbraucht ihr Denkorgan weniger Energie – zwei Beobachtungen, die zur so genannten neuralen Effizienzhypothese der Intelligenz führten: Entscheidend sei nicht, wie hart das Gehirn arbeite, sondern wie wirkungsvoll.

Viele Köche verderben den Brei

Genç glaubt, dass seine Befunde diese Theorie stützen: »Wenn Sie einen Dschungel von Verbindungen haben, wo jede ihren Senf zur Lösung einer Aufgabe dazugeben kann, dann stört das mehr, als es hilft«, sagt er. Es ist, als würde man vor dem Kauf eines Fernsehers alle Freunde um Rat fragen, selbst die, die sich gar nicht damit auskennen. Deshalb sei es sinnvoll, die Störeinflüsse zu unterdrücken, betont der Bochumer Hirnforscher. Bei intelligenten Menschen scheint das besser zu klappen als bei anderen.

Doch wie passt das mit den Befunden der Amsterdamer Gruppe um Natalia Goriounova zusammen? Erhan Genç verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf die völlig unterschiedliche Messmethodik. Anders als die niederländische Forscherin hat er sich schließlich keine einzelnen Zellen unter dem Mikroskop angesehen, sondern die Bewegung der Wassermoleküle im Gewebe gemessen. Und er betont, dass der Verzweigungsgrad der Pyramidenzellen an unterschiedlichen Stellen des Gehirns durchaus verschieden sein könne. »Wir haben es mit einem Puzzle zu tun, bei dem noch viele Teile fehlen.«

Eindeutiger ist die Befundlage dagegen bei einem anderen Punkt: Die Dicke der grauen Substanz hat einen maßgeblichen Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit, vermutlich deshalb, weil in einer voluminösen Hirnrinde mehr Neurone stecken, sie also insgesamt mehr »Rechenpower« hat. Dieser Zusammenhang ist inzwischen gut belegt, und auch Natalia Goriounova hat ihn in ihrer Arbeit wieder demonstriert. »Size matters« – das hat schon vor 180 Jahren der deutsche Anatom Friedrich Tiedemann festgestellt. »Zwischen der Größe des Hirns und der Energie der intellektuellen Vermögen waltet unläugbar eine Beziehung ob«, notierte er 1837. Er hatte für seine Volumenmessungen Schädel von Toten mit trockenen Hirsekörnern gefüllt; moderne Hirnscannermessungen bestätigen diese Beziehung. Schätzungsweise sechs bis neun Prozent der IQ-Abweichungen lassen sich demnach auf Unterschiede in der Hirngröße zurückführen. Und der Dicke der Hirnrinde scheint hierbei die Hauptbedeutung zuzukommen.

»Wir haben es mit einem Puzzle zu tun, bei dem noch viele Teile fehlen«

Allerdings stellt auch diese Beobachtung Rätsel auf. Sie gilt für Männer und für Frauen gleichermaßen, denn bei beiden Geschlechtern geht ein kleineres Gehirn im Mittel mit einer geringeren Intelligenz einher. Andererseits haben Frauen zwar durchschnittlich 150 Gramm weniger Gehirnmasse, schneiden in IQ-Tests dennoch im Schnitt genauso gut ab wie Männer.

»Gleichzeitig ist die Hirnstruktur von Männern und Frauen unterschiedlich«, erklärt Lars Penke von der Universität Göttingen: »Männer haben mehr graues Hirngewebe, also eine etwas dickere Hirnrinde, Frauen hingegen mehr weiße Hirnsubstanz.« Und auch die ist augenscheinlich für unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen, ausgesprochen wichtig. Dabei spielt sie eine auf den ersten Blick weit weniger spektakuläre Rolle als die graue Masse. Die weiße Substanz besteht zum Großteil aus langen Nervenfasern. Sie können elektrische Signale über weite Strecken transportieren, manchmal über zehn Zentimeter oder mehr. Damit sie das schaffen, sind sie hervorragend gegenüber ihrer Umgebung isoliert, und zwar durch eine fettreiche Schicht, das Myelin. Diese Myelinscheide ist auch für die weiße Färbung des Gewebes verantwortlich. Sie verhindert Spannungsverluste durch Kurzschlüsse und beschleunigt zudem die Informationsweiterleitung.

Kabelbrüche im Gehirn

Wenn die Pyramidenzellen die Prozessoren des Gehirns sind, stellt die weiße Substanz den Datenbus dar: Dank ihr können weit entfernte Hirnzentren miteinander kommunizieren und bei der Lösung eines Problems zusammenarbeiten. Trotzdem wurde sie von der Intelligenzforschung lange Zeit ein wenig vernachlässigt.

Dass sich das inzwischen geändert hat, ist auch Lars Penke zu verdanken. Wie er vor einigen Jahren zeigte, ist bei weniger intelligenten Menschen die weiße Substanz in einem schlechteren Zustand. Bei ihnen verlaufen die einzelnen Verbindungen oft wirr durcheinander statt ordentlich parallel, die Myelinschicht ist nicht optimal aufgebaut, und hin und wieder kann es sogar zu Kabelbrüchen kommen. »Wenn sich solche Fehler häufen, dann führt das zu einer langsameren Informationsverarbeitung und letztlich dazu, dass die Betroffenen in kognitiven Leistungstests schlechter abschneiden«, erklärt der Persönlichkeitspsychologe. Rund zehn Prozent der IQ-Variationen gehen vermutlich auf das Konto der weißen Substanz.

Doch noch einmal zurück zum Unterschied zwischen den Geschlechtern: Laut Studien können Frauen Denkaufgaben zwar genauso gut bewältigten wie Männer, nutzen dafür aber teilweise andere Gehirnareale, so Penke. Über die Ursache kann man nur spekulieren. Zumindest zum Teil könnte diese Abweichung auf die unterschiedliche Struktur der weißen Substanz zurückgehen – des Kommunikationskanals zwischen den verschiedenen Hirnzentren. »Auf jeden Fall sehen wir an diesem Befund sehr schön, dass es nicht nur eine Möglichkeit gibt, Intelligenz zu realisieren«, betont der Göttinger Forscher. »Stattdessen können unterschiedliche Kombinationen von Faktoren zum gleichen Intelligenzlevel führen.«

Ein kluger Kopf hat also viele Zutaten, wobei das Mischungsverhältnis variieren kann: effiziente Prozessoren – die Pyramidenzellen der grauen Substanz –, ein schnelles Leitungssystem – die weiße Substanz –, ein gut funktionierendes Arbeitsgedächtnis. Dazu kommen eine optimale Hirndurchblutung, ein schlagkräftiges Immunsystem, ein leistungsfähiger Energiestoffwechsel und so weiter. Je mehr die Wissenschaft das Phänomen Intelligenz zu fassen versucht, desto klarer wird, dass es sich nicht an einer Komponente festmachen lässt – übrigens auch nicht an einem bestimmten Hirnareal.

Wenn aber alles passt, dann ist das menschliche Gehirn zu erstaunlichen Leistungen fähig. Das zeigt etwa das Beispiel des südkoreanischen Kernphysikers Kim Ung-yong, der einer der intelligentesten Menschen der Erde sein soll. Bereits mit sieben Jahren löste er in einer japanischen Fernsehshow komplizierte Integralgleichungen. Als Achtjähriger wurde er von der NASA in die USA eingeladen, wo er zehn Jahre lang arbeitete.

Allerdings warnt Kim auch immer wieder davor, dem IQ eine zu große Bedeutung beizumessen. So sagte er etwa in einem 2010 erschienenen Artikel im »Korea Herald«, hochintelligente Menschen seien nicht omnipotent. Wie die Weltrekorde von Athleten sei ein hoher IQ nur ein Ausdruck menschlichen Talents. »Wenn es ein breites Spektrum von Begabungen gibt, ist meine lediglich ein Teil davon.«

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  • Quellen

Genç, E. et al.: Diffusion markers of dendritic density and arborization in gray matter predict differences in intelligence. Nature Communications 9, 2018

Goriounova, N. A., Mansvelder, H. D.: Genes, cells and brain areas of intelligence. Frontiers in Human Neuroscience 13, 2019

Goriounova, N. A. et al.: Large and fast human pyramidal neurons associate with intelligence. eLife 10.7554/eLife.41714, 2018

Lee, J. J. et al.: Gene discovery and polygenic prediction from a genome-wide association study of educational attainment in 1.1 million individuals. Nature Genetics 50, 2018

Plomin, R., von Stumm, S.: The new genetics of intelligence. Nature Reviews Genetics 19, 2018

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