Stress und Erschöpfung: Eins nach dem anderen!
Als ich neulich abends schon tief schlief, klopfte meine Tochter Elsa leise an die Tür und flüsterte besorgt: »Papa, du musst noch die Spende für die Fernsehgala überweisen.« Ich erinnere mich so gut daran, weil es genau an ihrem siebten Geburtstag war. Ihr Gehirn hatte nun einen Reifegrad erlangt, der ausreicht, um sich nicht mehr nur mit dem Hier und Jetzt zu beschäftigen, sondern auch mit dem Anderswo und Später, mit den Konsequenzen ihres Handelns und ihrer Versäumnisse. Und das bringt etwas mit sich, worauf so mancher gern verzichten würde: mentale (oder: kognitive) Belastung.
Welche Teile in Elsas Gehirn bewegen sie, sich um die Zukunft und all die Dinge zu sorgen, die es auf keinen Fall zu vergessen gilt? Worin also besteht mentale Belastung aus biologischer und aus kognitiver Sicht?
Die Kognitionswissenschaften betrachten »mental workload« oder »cognitive load« gern im Zusammenhang mit so unterschiedlichen Phänomenen wie der Flugsicherung oder dem Memorieren mehrerer Telefonnummern. Typisch ist ein Unbehagen angesichts der Schwierigkeit, mehrere Aufgaben zeitlich zu koordinieren, die einzeln betrachtet nicht unbedingt kompliziert sind. Wollen wir diese Aufgaben gleichzeitig ausführen, kann es zu einer akuten Überlastung kommen, denn sobald das Gehirn sich zeitgleich auf zwei Aufgaben konzentrieren muss, stößt es an seine Grenzen. Das hindert uns oft nicht daran, es dennoch zu versuchen. Es scheint uns mehr Schwierigkeiten zu bereiten, eine mentale Unzulänglichkeit zuzugeben als eine körperliche – schließlich würde niemand meinen, gleichzeitig zwei Termine an zwei verschiedenen Orten wahrnehmen zu können.
Alles auf einmal: Akute mentale Überlastung
Versuchen Sie einmal, die Anzahl der Buchstaben »e«, »s« und »t« in diesem Absatz gleichzeitig auf einen Blick zu erfassen. Oder versuchen Sie den folgenden Absatz still zu lesen und dabei die Anzahl der Wörter laut mitzuzählen.
Diese Tätigkeiten beanspruchen dieselben neuronalen Netze und sind daher schwerlich miteinander vereinbar. Dasselbe ist der Fall, wenn Sie sich per Mail über ein komplexes Problem austauschen, jemand Sie außerdem am Telefon über ein anderes wichtiges Anliegen informieren will und Ihr Jüngster Ihnen zeitgleich eine panische SMS schickt, weil er das Badezimmer überflutet hat. Es kommt zu einer Blockade: Sie wissen nicht mehr, was Sie in Ihrer E-Mail schreiben sollen, finden am Telefon keine Worte und haben nicht die geringste Ahnung, was Sie Ihrem Kind sagen sollen. Es ist wie früher mit den alten Computern, die langsamer wurden, wenn wir zu viele Programme gleichzeitig ausführen wollten.
Eine häufige Ursache für akute Überlastung: gleichzeitig nachdenken und mit unserer Umgebung interagieren zu müssen. Zum Beispiel, wenn wir im Geist kontrollieren, dass wir alles für den Musikunterricht des Kindes eingepackt haben, dabei die Schlüssel suchen oder eine dringende Frage beantworten wollen. Diese Dinge beanspruchen zur gleichen Zeit Hirnareale, die keine zwei Dinge auf einmal ausführen können.
Gleichzeitig denken und handeln?
Um das Gehirn bei diesem Unterfangen live zu beobachten, haben wir die kortikale Aktivität einer Testperson mit funktioneller Magnetresonanztomografie gemessen und in Echtzeit auf einen Bildschirm übertragen. Das seitliche Stirnhirn reagierte immer dann, wenn die Testperson nachdenken und im Langzeitgedächtnis nach Informationen suchen musste, zum Beispiel um uns zu erzählen, was sie am Vortag gegessen hatte oder was sie auf eine Zugfahrt mitnehmen wollte. Der Bereich wurde außerdem auch aktiv, sobald die Person einen Gegenstand der Außenwelt vor sich sah und mit ihm hantierte, wie wir es beispielsweise beim Kramen nach unseren Schlüsseln oder beim Einräumen von Geschirr tun. Wie alle anderen konnte unsere Testperson nicht gleichzeitig denken und handeln, war also nicht in der Lage, auf Fragen zu antworten, während sie ein Geschicklichkeitsspiel auf dem Tablet spielte. Denn damit verlangten wir dem Gehirn ab, zwei verschiedene Dinge gleichzeitig zu tun.
Experimente mit bildgebenden Verfahren zeigen schon seit 30 Jahren, dass sich ein spezifisches Netzwerk von Hirnregionen nahezu systematisch deaktiviert, sobald sich ein Mensch einem Objekt in der Außenwelt zuwendet, zum Beispiel, um etwas zu suchen. Dieses Netzwerk, das als Default-Mode-Netzwerk bezeichnet wird, ist immer dann aktiv, wenn wir nichts tun. Es umfasst Hirnregionen, die beteiligt sind, wenn wir uns in die Vergangenheit oder in die Zukunft versetzen, uns Dinge oder Szenen vor dem inneren Auge vorstellen, beispielsweise was man für Musikunterricht so alles braucht. Solche Vorstellungsbilder bilden die Grundlage des menschlichen Denkens; wir greifen dafür auf das Langzeitgedächtnis zurück und setzen sie im Arbeitsgedächtnis neu zusammen. Hirnstrukturen wie den vorderen Teil des mittleren Schläfenlappens brauchen wir für das Langzeitgedächtnis und den Praecuneus für das mentale Zusammensetzen der Bilder. Wenn wir mit der Umwelt interagieren, werden diese Regionen jedoch deaktiviert, was unsere Denkfähigkeit einschränkt.
Die Elektroenzephalografie (EEG) zeigt darüber hinaus: Wenn wir uns mit Vorstellungsbildern beschäftigen, entstehen im visuellen Kortex vor allem Wellen von zehn Hertz, der so genannte Alpha-Rhythmus. Er sorgt dafür, dass visuelle Signale der Umwelt vorübergehend nicht im Kortex verarbeitet werden. Und zwar, damit unsere mentale Vorstellungswelt ungestört bleibt: Der visuelle Kortex, den wir gewöhnlich zum Sehen benutzen, wird dann teilweise genutzt, um Bilder vor dem inneren Auge zu erzeugen.
Von einer Aufgabe zur nächsten springen
Das Nachdenken erfordert also eine vorübergehende Loslösung von der Außenwelt. Das ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass Sie nicht immer sofort reagieren, wenn Ihre Kinder Sie ansprechen, während Sie gerade im Geist eine Einkaufsliste schreiben. Und deshalb wechseln wir ständig von einer Aufgabe zur nächsten. Das wiederum erfordert, dass wir keine vergessen. Unser Gehirn arbeitet dafür wie ein Artist im Zirkus, der mehrere Teller auf Stäben dreht: Er stupst immer wieder einen Teller an, ohne dabei die übrigen aus den Augen zu verlieren. Genauso müssen wir uns bei akuter Überlastung auf die jeweilige Aufgabe konzentrieren und gleichzeitig alle anderen als eine Reihe von Absichten im Gedächtnis behalten, etwa um nach einem Telefongespräch eine E-Mail fertig zu schreiben.
Das Erinnerungsvermögen für all das, was wir später tun müssen, heißt prospektives Gedächtnis. Verknüpft damit ist eine Region im so genannten Frontalpol. Die Funktionen dieser Region sind vielfältig und wenig erforscht. Sie reagiert unter anderem, sobald wir während einer Tätigkeit zusätzlich einen größeren Zusammenhang im Blick behalten müssen. Der Frontalpol scheint eine Art globale zeitliche Perspektive zu erzeugen, in die sich die momentane Aufgabe einfügt. Er schützt davor, sich komplett in einer Tätigkeit zu verlieren, ist damit aber auch ein Quell der Ablenkung. Denn sich zu konzentrieren bedeutet, sich voll und ganz dem zu widmen, was man gerade tut. Der Gedanke daran, noch etwas anderes tun zu müssen, lenkt die Aufmerksamkeit schlagartig ab, reißt sie hin und her zwischen dem, was wir gerade tun und was wir außerdem tun sollten.
Immer an alles denken: Chronische mentale Überlastung
Bislang ging es nur um akute mentale Überlastung: mehrere Aufgaben in einem bestimmten Moment gleichzeitig tun zu wollen. Eine chronische mentale Belastung kann hingegen entstehen, wenn wir an viele Kleinigkeiten hintereinander denken müssen. Gemeinsam ist ihnen, dass sich Aufgaben anhäufen, die, jede für sich betrachtet, nicht unbedingt kompliziert sind. Doch anders als bei der akuten Form tritt diese Anhäufung bei der chronischen Überlastung nicht nur in einem begrenzten Zeitfenster auf, sondern erstreckt sich über einen Zeitraum von bis zu mehreren Tagen. Wenn wir zu viele Dinge gleichzeitig im Kopf haben, überkommt uns das bedrückende Gefühl, an alles denken zu müssen.
Leider können beide Formen gleichzeitig auftreten. Das ist der Fall, wenn uns mitten in einer Tätigkeit, die unsere ganze Aufmerksamkeit verlangt, plötzlich etwas anderes einfällt, was wir auf keinen Fall vergessen dürfen. Wir müssen diese Aufgabe im Hinterkopf behalten, wo sich bald noch eine zweite und eine dritte hinzugesellen – und aus Angst, etwas zu vergessen, rufen wir uns das immer wieder ins prospektive Gedächtnis. Schon wenn wir die Liste häufig checken, befinden wir uns in einem Zustand akuter Überlastung. Wenn wir dann auch noch darüber nachdenken, wie wir sie am besten erledigen, ist die Überforderung komplett.
Es führt unweigerlich zu einem kognitiven Konflikt, wenn wir versuchen, bestimmte Hirnareale gleichzeitig für verschiedene Zwecke zu aktivieren. Etwa das seitliche Stirnhirn (zuständig für Denken und Handeln) und das Default-Mode-Netzwerk (zum Prüfen der Aufgabenliste): Ist Letzteres deaktiviert, können wir Aufgaben nicht mehr effektiv erledigen, für die wir uns auf die Außenwelt konzentrieren müssen. Das Stirnhirn arbeitet auf Hochtouren, was zu geistiger Erschöpfung führt, die wiederum zu Lasten des präfrontalen Kortex geht. Wenn er es nicht mehr schafft, Prioritäten zu setzen, verweigert er die Arbeit. Von hier ist es nicht mehr weit zur »ego depletion«, der Erschöpfung der geistigen Ressourcen.
Konkretes Beispiel: Vor Kurzem besuchte ich eine 5. Klasse. Lehrerin Anne meisterte eine ganze Reihe von Aufgaben: Matheunterricht halten, die Schüler auf ihrem Lernweg begleiten, auf ihre Fragen eingehen, gleichzeitig in den eigenen Ausführungen vorankommen, das Konzept ihrer Unterrichtsstunde nicht aus den Augen verlieren und pünktlich mit dem Klingeln der Pausenglocke fertig werden. Sie musste ständig überprüfen, was sie während des restlichen Unterrichts noch sagen und tun wollte, gegebenenfalls das nächste passende Unterrichtsmaterial suchen und zugleich darauf achten, ob die Klasse unruhig oder unaufmerksam ist.
Wie hält man Kurs?
Das prospektive Gedächtnis auf Hochtouren, ständige Wechsel zwischen mehreren Aufgaben und keine Pause in Sicht: Das alles trägt zu einer mentalen Überlastung bei, obwohl jede einzelne dieser Tätigkeiten Lehrerinnen und Lehrer nicht überfordern dürfte. Aber um gleichzeitig auf mehrere Dinge zu achten und viele Aufgaben parallel zu bewältigen, müssen sie die gesamte Situation ständig im Blick behalten, eine Fähigkeit, die in der Kognitionswissenschaft Situationsbewusstsein (situation awareness) genannt wird.
Annes Mission ist nur deshalb nicht völlig unmöglich, weil nicht immer alles gleichzeitig aus dem Ruder läuft, weil sie eine erfahrene Lehrerin ist und ihre Klasse gut kennt. Sie nimmt schon das kleinste Abdriften wahr und kann es rechtzeitig korrigieren, mit Tricks, die sie ohne lange nachzudenken abrufen kann. Da Anne weiß, dass jede Denkpause ihrerseits die Klasse unruhig werden lässt, hat sie sich außerdem sorgfältig vorbereitet.
Doch als Anfänger kann man sich aus zwei Gründen schnell überfordert fühlen: Erstens verfügt man nicht über intuitive Kniffe, um schwierige Situationen aufzufangen. Zweitens kann man noch nicht sowohl Konzentration auf eine konkrete Aufgabe als auch Situationsbewusstsein aufrechterhalten. Ohne diese Fähigkeit mit der Zeit zu erlernen, würden sich Lehrer schnell verausgaben.
Automatisieren und antizipieren
Einer der Schlüssel liegt darin, komplexe Abläufe zu automatisieren – eine Fähigkeit, die wir gemeinhin Berufserfahrung nennen. Der andere Schlüssel ist ein umfassendes Bewusstsein für die Situation. Aber auch das reicht nicht immer aus, wenn 1000 Kleinigkeiten dazukommen. Dann bleibt noch ein Ausweg: die mentale Last zu teilen – mit sich selbst!
Eine Art zweites Ich übernimmt einen Teil der Aufgaben und reduziert so die akute Belastung; ein »persönlicher Assistent« beugt chronischer Belastung vor, indem er uns rechtzeitig daran erinnert, was wir und wie wir es zu tun haben. Dazu müssen wir selbst abwechselnd in eine der Mithelferrollen schlüpfen. Die ganze Denkarbeit sollte bereits vorher in Ruhe bei einer Tasse Tee, Kaffee oder Kakao geschehen sein. Das entspannt nachdenkende Ich ist unser persönlicher Assistent, der die Früchte seiner Überlegungen zu Papier bringt oder in den Computer eintippt, um das prospektive Gedächtnis zu entlasten.
Die Drei-Uhr-nachts-Regel
To-do-Listen sind jedoch nur dann hilfreich, wenn die Aufgaben sehr einfach sind oder ihre Erledigung präzise beschrieben ist, denn später bleibt nicht unbedingt Zeit zum Nachdenken. Die Drei-Uhr-nachts-Regel: Jede Tätigkeit muss so geplant sein, dass wir auch dann wissen, was zu tun ist, wenn wir mitten in der Nacht geweckt würden. Der persönliche Assistent muss also jede komplexe, vage Aufgabe in kurze, klare und konkrete Teilaufgaben zerlegen. Ein Beispiel für eine schlecht formulierte Aufgabe wäre: »sich um das Auto kümmern« – besser: »mit der Werkstatt Termin für den Batteriewechsel vereinbaren«.
Diese Miniaufgaben kann das zweite Ich in Ruhe erledigen, ohne anderweitig beschäftigt zu sein. Dies ist eine gute Möglichkeit, Druck abzubauen: Wenn wir wegen chronischer Überlastung über zu viele Dinge gleichzeitig nachdenken müssen, entsteht akute Überlastung oft aus dem vagen Gefühl heraus, alles müsste sofort oder so schnell wie möglich erledigt werden. Das Ich steht dann unter einem unerträglichen Druck, weil alle Last auf diesem Moment liegt. Es hilft, sich ein Team von solidarischen Ichs vorzustellen, die jedes einen kleinen Teil dieser mentalen Bürde übernehmen.
Jede komplizierte Aufgabe in kleine, überschaubare Teile zu zerlegen, mag abschreckend und etwas bürokratisch erscheinen. Aber unser Leben ist so hektisch geworden, dass Listen voller komplizierter und ungenau formulierter Aufgaben oft nicht mehr weiterhelfen.
Solche im Arbeitsleben beliebten Organisationstechniken lassen sich auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Dank Smartphones haben wir jederzeit clevere Tools bei uns, die uns zur richtigen Zeit daran erinnern können, einfache Maßnahmen zu ergreifen, um komplizierte Aufgaben zu erledigen. So können wir uns voll und ganz auf den Moment konzentrieren, ohne ständig ein besorgtes Auge auf den Berg von Verpflichtungen zu werfen. Und wir können auf diese Weise realistisch einschätzen, was überhaupt zu schaffen ist – und auch einmal Nein sagen, wenn es wirklich zu viel wird.
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