Meeresökologie: Das Dilemma der Blauwale
»Wir leben wahrlich in einer Zeit der Giganten.« Derart hochtrabende Zeilen liest man selten in der wissenschaftlichen Literatur. Biologe Jeremy Goldbogen, der den Satz niedergeschrieben hat, weiß aber, wovon er spricht: Wenn es um Wale geht, können ihre Dimensionen und das Rätsel ihrer Existenz kaum überbewertet werden.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Goldbogen und seine Mitarbeiter viel über folgende Frage geforscht: Warum sind Wale die größten Tiere, die je gelebt haben? Dies ließ sich bis zur letzten Jahrhundertwende nicht zufrieden stellend beantworten. Mittlerweile haben Forscher genügend Erkenntnisse gesammelt, um ein Gesamtbild zeichnen zu können.
Heute ist klar, dass die Riesenhaftigkeit der Wale mit zwei Dingen zusammenhängt: erstens mit der Beute, die sie jagen, und zweitens mit ihrer Evolution, die mit einem maritimen, globalen Phänomen verquickt ist – dem Auftrieb von nährstoffreichem Wasser aus den Tiefen des Ozeans.
Schlucken, filtern, fressen
Die größten Kolosse unter den Meeressäugern zählen zu den Bartenwalen. Und die frühesten bekannten Exemplare dieser Unterordnung ernährten sich, indem sie Plankton – im Wesentlichen winzige, im Meer treibende Seewanzen – aus dem Wasser filterten. Eine recht junge Abstammungslinie, die Furchenwale, entwickelte jedoch eine neue besondere Ernährungsstrategie: Sie schluckfiltern. Die Tiere können große Mengen Wasser in ihr Maul aufnehmen, indem sie ihren gefalteten Kehlsack füllen. Wenn sie das Wasser wieder herausdrücken, bleibt die Beute in ihren Barten hängen. Das ist die Reihe von Hornplatten, die den Gaumenrand besetzt. Damit haben die Furchenwale eine neue Beute erschlossen: Schwärme mit kleinen Fischen und Krill. Diese Fressstrategie funktioniert umso besser, je größer das Maul ist – und desto größer ist auch der Körper.
So lieferte die Entstehung des »Schluckfiltrierens« (vor etwa sieben bis zehn Millionen Jahren) die notwendige Energiezufuhr für eine enorme Körpergröße. Zugleich versorgte der neu entstandene Auftrieb (vor etwa fünf Millionen Jahren) die Wale mit reichlich Beute. Es war offenbar ein glücklicher Zufall, der das Rezept für die riesenhafte Größe lieferte. Damit stand den Furchenwalen genügend Nahrung zur Verfügung, um zu wachsen. Aus diesem Grund ist die Entstehung der weltweit größten Tiere ein vergleichsweise junges Ereignis. Wir leben also wahrlich in einer Zeit der Giganten.
Problemtier Blauwal
Aber es gibt ein schwer wiegendes Manko an dieser Erkenntnis: den Blauwal! Es ist zwar inzwischen klar, warum Furchenwale an sich sehr groß werden. Aber warum sind unter den Furchenwalen die Blauwale so viel größer als alle anderen? Ein Blauwal kann mehr als 30 Meter lang und über 130 Tonnen schwer werden. Ein Vergleich: Finnwale, die ebenfalls zu den Furchenwalen zählen, sind die zweitgrößten Tiere aller Zeiten. Sie messen durchschnittlich 25 Meter in der Länge und wiegen über 50 Tonnen – sie haben also weniger als das halbe Gewicht eines Blauwals. Was hat es damit auf sich? Was macht die Blauwale so besonders?
Eine Antwort auf diese Fragen lässt sich nur mit Blick auf die Evolutionsökologie finden. Keine Art lässt sich isoliert betrachten, denn eine jede entwickelte sich zusammen mit nahen Verwandten im Kontext einer sich ständig verändernden Umwelt.
Die Fressstrategie der Blauwale funktioniert umso besser, je größer das Maul ist – und desto größer ist auch der Körper
Die Entstehung des Schluckfiltrierens bei den Furchenwalen war folgenreich. Plötzlich standen dieser Gruppe von Säugern nicht nur neue Beutetiere zur Verfügung, sondern im Ozean hatte es auch zuvor keine derartigen Räuber gegeben. Die Furchenwale schwammen aber nicht allein im Meer herum. Andere Raubtiere – Fische, Seevögel und Robben – gingen dort ebenfalls auf die Jagd. Die Konkurrenz war also groß.
Um den Konkurrenzdruck zu senken, spezialisierten sich die verschiedenen Tierarten auf bestimmte Beutetiere. Denn nicht jede Beute, die in Schwärmen lebt, ist gleich. Damit sich ein Räuber auf eine einzige Beute spezialisieren konnte, war ein entscheidender Wettbewerbsvorteil vonnöten. Einige Furchenwale lernten, Schwarmfische ins Visier zu nehmen. Andere intensivierten ihre Jagd auf Plankton. Wiederum andere wurden Generalisten, sie passten sich so an, dass sie verschiedene Nahrungsquellen erschließen und gegebenenfalls ihr Beuteschema ändern konnten.
Seit die Furchenwale ihre Nahrung per Schlucken und Filtern aus dem Meer fischten, sind dutzende Arten von ihnen entstanden und wieder ausgestorben. Die wenigen Arten, die heute noch existieren, stellen nur einen sehr geringen Teil dieser alten Vielfalt dar. Sie haben aber nur deshalb überdauert, weil sie durch ihre Spezialisierung auch nebeneinander existieren konnten.
Nur Krill – sonst nichts
Von allen heute noch lebenden Arten des Furchenwals haben sich die Blauwale wohl am stärksten spezialisiert. Sie fressen Krill und zwar nur Krill – mit sehr wenigen Ausnahmen. Und das ist der Grund für ihre außerordentliche Größe.
Diese Spezialisierung hat es in sich. Krill kann im Überfluss vorkommen, aber nur in bestimmten entlegenen Regionen der Weltmeere, wo es einen Auftrieb gibt und wo polares Klima herrscht. Um große Mengen Krill aufzutreiben, müssen Blauwale äußerst mobil sein und auf ausreichende Energiereserven zurückgreifen können. Beides gelingt den Tieren durch ihre enorme Größe, ihren schlanken Körper und ihre kleinen, hydrodynamischen Schwimmflossen. Durch ihre Körperform bewegen sich die Blauwale sehr energieeffizient. Energie zehren sie auch aus ihren dicken Fettschichten, dem so genannten Blubber.
Stoßen die Tiere auf Krill, ist die Beute aber kein leichter Fang. Ein Blauwal muss sich dafür schnell und mit einem Überraschungsmoment auf den Schwarm stürzen. Einige Wale wie der Buckelwal sind mit ihren langen Flossen in der Lage, den Krill auszumanövrieren. Aber Blauwale sind effiziente Langstreckenschwimmer und deshalb weniger manövrierfähig. Um möglichst viel Krill zu schnappen, setzte sich beim Blauwal ein bestimmtes Merkmal durch: Er hat ein riesengroßes Maul, das die Folge eines sehr großen Körpers ist. Es ist also wieder einmal die Körpergröße, die das Tier erfolgreich machte.
Seit die Furchenwale das Schluckfiltrieren entwickelt haben, sind dutzende Arten von ihnen entstanden und wieder ausgestorben
Doch eine ökologische Spezialisierung ist ein zweischneidiges Schwert. So bietet die Konzentration auf ein bestimmtes Beutetier zwar eine gewisse Nahrungssicherheit, sie macht die Tiere aber auch anfällig. Sobald sich ein Ökosystem wandelt, trifft es zuerst und am stärksten die Spezialisten. Denn je mehr sich ein Räuber auf eine Beute verlegt, desto schwieriger wird es für ihn, sich umzustellen. Doch paradoxerweise scheint ein Raubtier erfolgreicher auf die Jagd zu gehen, wenn es sich noch stärker spezialisiert. Auf diese Weise dreht sich die evolutionäre Selektion im Kreis.
Blauwale sind der Inbegriff dieser rätselhaften Spezialisierungsschleife. Um Krill zu fressen, haben sie sich auf Kosten der Manövrierfähigkeit zu Langstreckenschwimmern entwickelt. Dafür ist der Körper der Blauwale sehr gut geeignet. Müssten die Säuger aber um eine andere Beute in Konkurrenz zu den übrigen Furchenwalen treten, würden sie den Kürzeren ziehen. Die anderen schwimmen wendiger, können dadurch weitaus mehr verschiedene Beutetiere fangen und müssen dafür sogar weniger Energie aufbringen. Die Folge: Der Blauwal ist noch abhängiger von seiner Spezialisierung – und damit vom Krill.
Der Teufelskreis der Körpergröße
Hinzu kommt, dass die Körpergröße zwar die Ernährungsweise des Blauwals bedingt, aber sie erhöht auch dessen Energieverbrauch. Ein größerer Körper benötigt mehr Nahrung, die zudem nur an wenigen Orten in den Weltmeeren vorkommt. Doch um die langen Distanzen dorthin zurückzulegen, muss der Körper groß genug sein und ausreichend Energie speichern können. Aber ein großer Wal braucht zum Überleben wiederum mehr Krill … Die Strategie des Blauwals erweist sich demnach als extrem anfällig.
Der Blauwal ist gefangen in seiner eigenen Spezialisierung: Er muss groß genug sein, um ausreichend fressen zu können – damit er groß ist. Mittel und Zweck sind also ein und dasselbe. Die ökologische Nische ist zur Falle geworden. Der einzige Ausweg: größer werden. Und genau deshalb hat sich der Blauwal erst zur weitaus größten Walspezies entwickelt.
Wie es mit den Populationen der Blauwale weitergeht
Was heißt das für die Zukunft der Meeressäuger? Die heutigen Blauwale leben in einem von anderen Walen bevölkerten und sich erwärmenden Ozean. Nur ein kleiner Bruchteil der Blauwale hat die Zeit des kommerziellen Walfangs überlebt. Im Südpolarmeer blieben nur etwa 0,1 Prozent übrig. Insgesamt wurden weltweit 2,9 Millionen dieser Wale erlegt. In einigen Gebieten vermehrten sich danach mittelgroße Raubtiere und füllten die durch den Walfang hinterlassene ökologische Lücke. Dadurch haben sich die Populationen der größten Meeressäuger nur stockend erholt.
Im selben Zeitraum verringerte sich langfristig das Phytoplankton und der Krill. Verschiedene Gründe lassen sich für den Rückgang anführen: Zu einem Klimawandel und Überfischung – das heißt, es verändern sich genau jene Bedingungen, die ursprünglich dazu führten, dass der Blauwal seine Übergröße entwickelte. Zum anderen sind immer mehr Schiffe auf den Meeren unterwegs, die Lärm verursachen und auf die großen Wale treffen. Außerdem gelangen dauerhaft Schadstoffe in die Nahrungskette und reichern sich dort an; das Meer versauert und so weiter. Die Liste ist lang.
Einige Walarten können sich leichter an diese veränderten Bedingungen anpassen, zum Beispiel der Buckelwal oder der kleine Zwergwal (Minkwal). Aber was ist mit dem Blauwal, einem Spezialisten für kalte und nährstoffreiche Gewässer, dessen einzige Anpassungsmöglichkeit darin besteht, größer zu werden – und daher noch mehr Nahrung zu benötigen?
Der Blauwal ist in seiner eigenen Spezialisierung gefangen: Er muss groß genug sein, um genug fressen zu können – damit er groß ist
Der Blauwal steckt in einem doppelten Dilemma – zum einen seine besondere Spezialisierung, die von seiner Körpergröße abhängig ist; zum anderen schwinden die Beutemengen in den Ozeanen. Und der Blauwal kann der Situation nicht entkommen, er kann weder woanders hin noch kann er weiter wachsen.
Wie Jeremy Goldbogen und sein Team festgestellt haben, geht es bei all dem auch darum, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Was passiert in einer Meereswelt, in der zunehmend die Alleskönner begünstigt sind, mit den Spezialisten wie dem Blauwal? Sie sind Zeugen dafür, wie sich das Leben auf der Erde entwickeln kann, wie groß das Potenzial ist. Wahrlich, wir leben in einer Zeit der Giganten! Sorgen wir dafür, dass es so bleibt.
Anmerkung: Der Autor dankt seinen Kollegen Lisa Ballance, Jay Barlow, John Calambokidis und der verstorbenen Gretchen Steiger.
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