Pareidolie: Überall nur Gesichter von Männern
»Die Menschheit ist männlich.« Damit meinte die Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir (1908–1986), dass der Mann häufig für das Allgemeine steht. Frauen hingegen begreife man(n) als Abweichung vom Standard – sie seien eben »Das andere Geschlecht«. Eine Forschungsgruppe hat unerwartete Belege für diese Auffassung gefunden: in Kartoffeln, Pappkartons und Kaffeetassen.
Menschen können in den unterschiedlichsten Objekten Gesichter wahrnehmen. Hat man erst einmal die dunklen Augen einer Steckdose erkannt, fühlt man sich aus allen Ecken beobachtet. Das Phänomen nennt sich Gesichtspareidolie (siehe Kasten »Kurz erklärt«), und die Gründe für sein Auftreten sind gut erforscht (siehe Kasten »Warum wir überall Gesichter sehen«). Doch die Entdeckung der Neurowissenschaftlerin Susan Wardle und ihres Teams wirft neue Fragen auf. Grinsende Gemüsegesichter oder verwirrte Waschmaschinen-Visagen werden nämlich meistens als männlich wahrgenommen. Das beobachteten die Fachleute vom National Institute of Mental Health in Bethesda, als sie knapp 4000 Versuchspersonen 256 illusorische Gesichter nach Emotion, Alter und Geschlecht bewerten ließen.
Die Ergebnisse sind in mehrerlei Hinsicht beeindruckend. Obwohl die Forscherinnen und Forscher den Teilnehmenden freistellten, den vermeintlichen Antlitzen ein Geschlecht zuzuweisen, taten die Probanden genau das in etwa der Hälfte der Fälle, wobei über 80 Prozent dieser Bewertungen »männlich« ausfielen.
Aus den Angaben der Versuchspersonen berechneten die Wissenschaftler ein »gender rating« für jedes in dem Experiment gezeigte Foto. –1 bedeutete ein sehr weiblich wirkendes Gesicht und +1 ein maximal männliches. Der höchste Score für ein weibliches Antlitz lag bei –0,55, der höchste für ein männliches hingegen bei 0,93. Maskuline Gesichter wurden also eindeutiger als solche wahrgenommen als feminine.
Kurz erklärt: Gesichtspareidolie
Der Begriff beschreibt das Phänomen, Gesichter dort zu erkennen, wo überhaupt keine sind. Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff häufig fälschlicherweise mit der allgemeinen Pareidolie (von »para«, daneben, und »eídolon«, Erscheinung) gleichgesetzt. Diese tritt auf, wenn etwas Gehaltvolles in einen bedeutungslosen Reiz hineingedeutet wird. Neben visuellen gibt es auch akustische Pareidolien, etwa wenn man Worte oder Musik in Hintergrundgeräusche »hineinhört«.
Dieser letzte Befund stimmt mit einer Tübinger Studie von 2012 überein. Regine Armann und Isabelle Bülthoff vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik zeigten ihren Versuchsteilnehmern Abbildungen von menschlichen Gesichtern, die mal mehr und mal weniger Anteile von beiden Geschlechtern hatten. Ein solcher »Morph« konnte also zu 10, 20, 30 Prozent (und so weiter) weiblich sein. Auf die 18 Probanden und Probandinnen wirkten feminine Gesichter viel häufiger männlich als umgekehrt. Erst als die Forscherinnen »superweibliche« Morphs erstellten, wurden die Abgebildeten zuverlässig als Frau eingestuft.
Woher kommt die Präferenz für das Maskuline, der Männer ebenso unterliegen wie Frauen? Um das herauszufinden, führten Wardle und ihre Kollegen eine Reihe weiterer Versuche mit den illusorischen Gesichtern durch. Beeinflussten die gezeigten Objekte an sich, ob man sie mit dem Attribut »männlich« oder »weiblich« versah? So empfinden Menschen Armbanduhren oder Sportgeräte möglicherweise eher als maskulin. Dass eine solche inhaltliche Assoziation die Wahrnehmung beeinflusst hat, schloss das Team durch folgendes Experiment aus: Sie ersetzten die Bilder durch entsprechende Wörter (wie »Kartoffel«) und ließen die Probanden ein Geschlecht zuwiesen. Die Tendenz zum Männlichen trat hier nicht auf.
Sind es dann womöglich visuelle Eigenschaften wie Form oder Farbe der Gegenstände, die an Mann oder Frau denken lassen? Hierfür suchten die Versuchsleiter für jede Sinnestäuschung ein möglichst ähnliches Foto heraus, auf dem keine menschlichen Züge zu erkennen waren. Ohne derartige Merkmale erschien eine Waschmaschine aber nicht besonders männlich. Auch die Farbe spielte keine Rolle, wie sich in der Bewertung von Schwarz-Weiß-Fotos offenbarte.
Die Verzerrung entsteht auf kognitiver Ebene
Auf der Suche nach Erklärungen gingen die Fachleute noch einen Schritt weiter. Haben »männliche« Objekte vielleicht mehr Ecken und Kanten? Oder liegt es an der Positionierung von Augen und Mund? All diese Möglichkeiten überprüften sie mit verschiedenen Algorithmen – ohne Ergebnis. »Wir konnten keine visuelle Begründung dafür finden, warum die Gesichter eher als männlich als als weiblich wahrgenommen werden«, sagt Wardle in einem Fachvortrag auf Youtube. »Es ist also unsere kognitive Interpretation der Bilder, die sie uns als männlich sehen lässt.«
Die Psychologin April Bailey von der New York University erklärt das so: Die Verzerrung findet nicht auf der Wahrnehmungsebene statt, sondern darin, wie wir über das Konzept »Geschlecht« nachdenken. Gesichter sind männlich, und ein weibliches Gesicht definiert man in Bezug auf das männliche – womit wir wieder bei Simone de Beauvoir wären. Aus Mann wird Frau, indem ein Antlitz bestimmte Merkmale bekommt. »Denken Sie an Lego-Figuren. Dort haben die weiblichen Versionen oft zusätzliche Eigenschaften wie Lippenstift, Wimpern und lange Haare«, sagt Wardle.
Auch die beiden Hirnforscher Marco Gandolfo von der Radboud-Universität in Nimwegen und Paul Downing von der Bangor University in Wales schreiben in einer bisher noch nicht unabhängig geprüften Studie, dass »das weibliche Gesicht als Erweiterung eines männlichen Standards verarbeitet wird«. In ihrem Experiment sollten die Probanden und Probandinnen so schnell wie möglich jenen Reiz entdecken, der aus der Reihe fällt, hier konkret das eine weibliche unter vielen männlichen Gesichtern oder das eine männliche unter weiblichen Antlitzen. Bei einer weiblichen Ausnahme gelang das schneller.
Das passt zu den Ergebnissen der einflussreichen Aufmerksamkeitsforscherin Anne Treisman (1935–2018) aus den 1980er Jahren. Ihren Studien zufolge fällt es Menschen leichter, eine Ellipse zwischen Kreisen zu erkennen als andersherum. Sie erklärte das mit der Existenz einer Art Schablone eines Standardkreises im Gehirn – Ellipsen stellen davon eine Abweichung dar; das macht es leichter, sie zu erkennen. Genauso ist es laut Gandolfo und Downing mit femininen Gesichtern, die eine Abweichung vom Maskulinen darstellen.
Einen möglichen Grund dafür sehen manche Wissenschaftler im Erziehungsmodell vieler westlicher Gesellschaften. Dort kümmern sich Mütter in den ersten Jahren zu einem weit größeren Anteil um ihren Nachwuchs als die Väter. Deswegen könnten sich Kinder eine detailliertere Vorstellung eines weiblichen Gesichts machen. Was nicht diesem mütterlichen Typ entspricht, sortieren Menschen daher vielleicht automatisch in die Kategorie »Mann«. Im Gehirn laufe das ungefähr so ab, sagt Gandolfo: »›Ah, die besonderen Merkmale, die eine Frau ausmachen, sind nicht vorhanden, also muss es ein Mann sein.‹« Das könne man auch auf illusorische Gesichter übertragen. Weil diese meistens sehr abstrakt sind und es ihnen an typisch weiblichen Charakteristika mangelt, entscheide sich das Gehirn getreu dem Motto »Im Zweifel für den Mann«.
Dass das Geschlecht der Hauptbezugsperson einen Einfluss auf die Gesichtswahrnehmung hat, zeigt eine Studie von Jennifer Rennels von der University of Nevada, Las Vegas, aus dem Jahr 2008: Im Vergleich zu männlichen Gesichtern beobachteten drei bis vier Monate alte Säuglinge weibliche länger. Allerdings nur, wenn in erster Linie die Mutter die Care-Arbeit machte. Nahm der Vater eine größere Rolle im Leben des Säuglings ein, verweilte dessen Blick länger auf dem Bild eines Mannes.
Evolutionär womöglich vorteilhaft
Doch bislang fehlen Experimente, die so einen Zusammenhang auch bei Gesichtspareidolien untersuchten. Zudem lässt sich der Effekt auch evolutionär erklären: Ein Team von der Hebrew University of Jerusalem fand 2017 heraus, dass bedrohliche Gesichter schneller ins Bewusstsein gelangen. Vielleicht sehen wir also männliche Gesichter, wo überhaupt keine Menschen sind, weil wir sie mit Gefahr assoziieren. Evolutionär wäre es sinnvoll, sich einmal zu viel zu erschrecken, als eine Bedrohung zu übersehen. Wardle mahnt: »Man kann zwar evolutionär argumentieren, aber ich wäre vorsichtig damit, das zu überinterpretieren.«
Sie hält auch die soziale Konditionierung für einen wichtigen Faktor: Sprachen seien häufig androzentristisch, machten das Männliche zum Maßstab. Im Deutschen schlägt sich das im generischen Maskulinum nieder. Ein Team um April Bailey hat 2022 festgestellt, dass das Konzept »Person« in einem riesigen Textkörper von englischen Wörtern vor allem mit Männern verknüpft ist. »Ein illusorisches Gesicht ruft in einem Objekt den Begriff ›Person‹ hervor, der wiederum den Begriff ›männlich‹ aktiviert«, sagt Wardle.
Ein Experiment von Sapphira Thorne von der University of Surrey von 2015 stützt diese Deutung: Freiwillige sollten Gesichtern, die nicht eindeutig männlich oder weiblich waren, ein Geschlecht zuweisen. Sie sahen die Reize dabei nur in einer Hälfte ihres Gesichtsfelds. Solche auf der rechten Seite stuften sie eher als männlich ein. Die Signale kommen dann in der linken Hirnhälfte an; dort liegen die meisten Sprachregionen. Das Team vermutet, dass diese das Urteil beeinflussen und eine männlich dominierte Sprache es erleichtert, Gesichter als männlich zu deuten. Doch Wardle betont: »Wir können über die Gründe bisher nur spekulieren.«
Warum wir überall Gesichter sehen
Wenn wir menschliche Antlitze dort sehen, wo eigentlich keine sind, schlägt das Gesichtserkennungssystem im Gehirn falschen Alarm, erklärt Susan Wardle. Es gibt Regionen, die bevorzugt auf Gesichter reagieren, wie das fusiforme und das okzipitale Gesichtsareal, und andere Bereiche wie den lateralen okzipitalen Kortex im Hinterkopf, die für die Eigenschaften von Objekten empfänglich sind. Sehen wir beispielsweise Augen und Mund in einem Becher Kaffee, so verschwimmen die Grenzen zwischen Gesichts- und Objekterkennung.
In einer Studie von 2020 zeigte Wardles Team, dass illusorische Gesichter innerhalb der ersten Millisekunden eher wie menschliche Gesichter als wie Gegenstände verarbeitet werden. Nach 250 Millisekunden ordnet das Hirn sie wieder Objekten zu. Unser Denkorgan scheint also initial einen starken Hang zum Erkennen von Gesichtern zu haben, auch wenn es nur wenige Anhaltspunkte dafür hat. Aus evolutionärer Sicht sei es besser, Gesichter zu häufig als zu selten zu entdecken, erklärt Wardle. Das Erstaunliche: Gesichtspareidolien treten schon bei ungeborenen Babys auf. Ein Team um die Psychologin Nadja Reissland von der Durham University präsentierte Föten 2017 durch den mütterlichen Bauch drei Lichtpunkte, die wie ein Smiley angeordnet waren. Die Kinder drehten sich häufiger zu diesen Reizen um, als wenn die Punkte umgekehrt angeordnet waren.
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