Digitale Hilfe: Schlummern dank Einschlafvideos
Salma Hayek sitzt im roten Strickpulli vor einem pechschwarzen Hintergrund und haucht mal nach rechts, mal nach links in zwei Mikrofone. Sie flüstert, wo sie geboren wurde, welche Sprachen sie spricht. Da schwebt eine gelbe Tüte ins Bild. Mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln tippt Hayek dagegen. Es raschelt und knistert. Die Schauspielerin öffnet vorsichtig die Tüte und zieht einen Maischip heraus, der knackend in Stücke zerspringt, als sie hineinbeißt. Hayek haucht ins Mikro, sie hätte jetzt gern etwas Guacamole.
Zwei Frauen sitzen einander auf Stühlen gegenüber, und die eine bürstet der anderen das hüftlange Haar. Ganz langsam und immer wieder von oben nach unten. Während die Bürste durch die blonde Mähne gleitet, knistert es leise. Die Frau bürstet weiter, sie führt ihre Hand stumm auf und ab, über eine halbe Stunde lang.
Auf den ersten Blick wirken solche Filme befremdlich. Bizarre Aufnahmen, in denen Frauen mit langen Fingernägeln auf Cremedöschen trommeln, über Bürsten streichen, raschelnd Zeitschriften umblättern oder schmatzend in Gemüse beißen. Die Geräusche werden durch Mikrofone verstärkt, die selbst leiseste Töne einfangen. Derartige Bewegtbilder mit dem Label »ASMR«, für »autonomous sensory meridian response«, breiten sich zurzeit rasant im Internet aus. Sie sollen beim Einschlafen helfen, ja sogar Depressionen und andere Erkrankungen lindern. Inzwischen gibt es mehr als zehn Millionen verschiedene ASMR-Clips auf Youtube, in denen Menschen erschreckend langweilige Dinge tun. Täglich kommen tausende neue dazu. Einige ihrer Macher haben mehr als eine Million Abonnenten, so wie die 33-jährige Maria Viktorovna mit ihrem Kanal »Gentle Whispering ASMR«. Neuerdings interessieren sich auch Wissenschaftler dafür. Sie wollen herausfinden, ob die Videos tatsächlich halten, was sich Produzenten und Zuschauer davon versprechen.
Es begann um 2010 mit reinen Flüstervideos. »WhisperingLife« heißt einer der ältesten Youtube-Kanäle dieser Art. Wenig später prägte die US-Bloggerin Jennifer Allen den Begriff ASMR für jene besondere, euphorische Empfindung, die die Filme auslösen. Viele beschreiben sie als ein Kribbeln, das vom Kopf abwärts über Nacken und Schultern läuft. Das Gefühl könne so intensiv werden, dass es ein Schaudern oder sogar eine Art Trance auslöse. »Es ist wie ein Funkenregen«, sagt Maria. »Wie warmer Sand, der über dich gegossen wird. Wie eine Gänsehaut im Gehirn.«
Aus den Flüstervideos im Netz haben sich inzwischen vielfältige Genres entwickelt: von Schmatz- und Knisterclips über Kämmszenen bis hin zu Rollenspielen für medizinische Untersuchungen oder Fantasiereisen. Einige Youtuber schneiden auch vor laufender Kamera Seife in Stückchen, spielen mit Glibber oder beißen geräuschvoll auf Kreide.
In Deutschland erforscht der Psychologe Claus-Christian Carbon an der Universität Bamberg das große Onlinekribbeln. »ASMR hört sich wissenschaftlich an. Aber eigentlich ist der Begriff ›autonomous sensory meridian response‹ ziemlich aussagelos.« Autonom sei fast alles, was nicht kognitiv sei. »Wenn wir etwa eine Treppe hinuntergehen, berechnen wir nicht jeden Schritt, sondern machen das automatisch, sozusagen ›autonom‹.« Sensorisch beziehe sich einfach auf die Sinne, und »response«, also Reaktionen, gebe es auf beinah jeden Reiz. »Meridian« solle bedeuten, dass die betreffende Empfindung außergewöhnlich stark ist; allerdings sei das recht unspezifisch. »Wissenschaftlich ist dies kaum erforscht.«
Hat ASMR überhaupt einen nachweisbaren physiologischen Effekt? Wie Carbon wollte das auch die Psychologin Giulia Poerio von der University of Sheffield in England herausfinden. 2018 berichtete sie zusammen mit anderen Forschern, dass ASMR-Videos einen Entspannungszustand auslösen, begleitet von typischen körperlichen Veränderungen wie einer reduzierten Pulsrate. Kurz: ASMR beruhigt. In einer Untersuchung hatte Poerio gut 1000 Teilnehmer online zu ihren Erfahrungen mit den Filmen befragt. Die Probanden sollten sich zudem drei Videos mit unterschiedlichen ASMR-Triggern ansehen. Anschließend gaben sie jeweils an, wie fröhlich, aufgeregt oder entspannt sie waren. Was die Testseher nicht wussten: Unter den Filmen war ein Kontrollvideo, das den ASMR-Clips zwar ähnelte, aber keinen der typischen Trigger wie Knistern oder Flüstern enthielt. Der Entspannungseffekt war bei den anderen deutlich größer; es handle sich also um ein nachweisbares Phänomen, so die Forscherin.
Poerio führte mit einer kleineren Stichprobe von 110 Freiwilligen auch ein Laborexperiment durch. Die Probanden trugen dabei Sensoren, die ihre Herzfrequenz und Hautleitwerte maßen. Während sie die Videos anschauten, erhöhte sich ihr Hautleitwert, und gleichzeitig schlug ihr Herz im Schnitt drei Schläge pro Minute langsamer. Vergleichbare Werte erreichen auch konventionelle Entspannungsmethoden. Das Verblüffende daran: Eigentlich ist Gänsehaut ein Zeichen für Erregung, die Filme aber lösen meist einen positiven emotionalen Zustand der Ruhe aus. Laut Poerio verspüren einige Menschen Ähnliches, wenn sie musizieren.
Unklar bleibt, was die entscheidenden Faktoren sind. Manche Videos zeigen einfach einen Barbier bei der Arbeit. »Wenn ich ihm zusehe, beginnt meine Kopfhaut zu kribbeln, in meinem Körper breitet sich Wärme aus«, berichtet eine Zuschauerin im Netz. Gina Carla, ein Schweizer Youtube-Star, verdient mit solchen Filmen Geld. Sie fährt etwa im Auto über verlassene Landstraßen, lässt Blinker und Scheibenwischer klackern oder föhnt sich die Haare. Schon ein Räuspern wird in ihren Filmen zum sensorischen Erlebnis.
Synästhetiker sind besonders empfänglich
Die Psychologin Emma Barratt und ihr Kollege Nick Davis führten 2015 eine der ersten Studien zu dem Phänomen durch. Sie befragten 475 Teilnehmer zwischen 18 und 54 Jahren. Demnach ist Flüstern der häufigste ASMR-Trigger, weil es besondere Intimität suggeriert. Dann folgen Knackgeräusche und stereotype Bewegungen wie das meditative Falten von Handtüchern.
Unter den von Barratt und Davis untersuchten Nutzern waren Synästhetiker leicht überproportional vertreten. Diese sehen beispielsweise Farben, wenn sie bestimmte Wörter hören. Psychologische Tests lassen vermuten, dass ein solches Empfinden auf ungewöhnlich enge Verbindungen der sensorischen Areale im Gehirn zurückgeht, so dass bei den Betreffenden Reize von der einen in eine andere Sinnesmodalität überspringen.
Tickt das Gehirn von ASMR-Fans also einfach anders? Stephen Smith an der University of Winnipeg in Kanada wertete Hirnscans von elf Probanden aus, denen man in der Röhre eines Magnetresonanztomografen (MRT) ASMR-Trigger präsentiert hatte, und verglich die Befunde mit denen einer Kontrollgruppe. Viele der für ASMR empfänglichen Teilnehmer gaben an, die Intensität ihrer Empfindung aktiv beeinflussen zu können. Auch war bei ihnen das »default mode network« (DMN) vermehrt aktiv. Dieses Ensemble von Hirnarealen springt dann an, wenn das Gehirn nichts zu tun hat und in eine Art Ruhemodus umschaltet. Smith vermutet, dass jene Hirnregionen bei Menschen, die das mysteriöse Kribbeln spüren, besonders rege Informationen austauschen. Allerdings war seine Stichprobe zu klein, um tragfähige Aussagen daraus abzuleiten.
Zudem war in Giulia Poerios Studie immerhin rund jeder fünfte Proband gar nicht für ASMR-Reize empfänglich. Längst nicht jeden versetzen die Filme also in Verzückung. Der Psychologe Carbon stellte außerdem fest, dass viele Probanden zuerst skeptisch darauf reagieren. Sie finden die Videos irritierend oder sogar abstoßend. Erst wenn sie sich nach einer Weile daran gewöhnen, setzt der Entspannungseffekt ein. Je repetitiver und langweiliger der Inhalt, desto eher sei dies der Fall. »Trotzdem gibt es Menschen, die die Videos auch nach mehrmaligem Ansehen nicht leiden können.«
Warum es nützlich sein kann, minutenlang Schmatzlauten zu lauschen, offenbarten die Teilnehmer in Emma Barratts Studie. So sagten 82 Prozent der Befragten, die Filme dienten ihnen als Einschlafhilfe, und bei 70 Prozent dämpften sie allgemein das Stressempfinden. Carbon bestätigt diese Wirkung, warnt aber davor, psychische Erkrankungen damit selbst zu behandeln. Die Aussagen mancher Anbieter, ihre Videos würden Depressionen, Ängste oder Schlafstörungen heilen, seien fahrlässig.
Für Mittel, die beim Einschlafen helfen, gibt es heute einen Riesenmarkt. In der modernen Industriegesellschaft avancieren Schlafstörungen zur Volkskrankheit: Rund acht von zehn Deutschen haben nach eigener Aussage zumindest phasenweise Einschlafprobleme. Die Diagnose »Insomnie« nahm seit 2002 um 66 Prozent zu, fast jeder Zehnte fühlt sich laut dem »DAK-Gesundheitsreport 2018« davon beeinträchtigt.
Als sich der Schlafforscher Hans-Günter Weeß zum ersten Mal selbst ein ASMR-Video ansah, wühlte ihn das allerdings eher auf, statt ihn zu beruhigen. Der Somnologe hat Verständnis dafür, dass die skurrilen Filme vor allem bei Jüngeren beliebt sind. Den wissenschaftlichen Anspruch kann er aber kaum nachvollziehen. ASMR sei »eine Möglichkeit von vielen, um sich zu entspannen«. Entscheidend für das Einschlafen sei die Beruhigung, egal ob man sie durch ein Bibi-Bloxberg-Hörbuch, autogenes Training oder eben solche Videos erziele. Auch Weeß selbst geht vor dem Einschlafen gern auf Fantasiereise, nur dass er diese vor seinem inneren Auge selbst erschafft.
Die Werbung hat das Potenzial von ASMR längst erkannt. So produziert das Modemagazin »W« Flüsterinterviews mit Salma Hayek und Paris Hilton. Ein Video des Möbelherstellers Ikea mit über zwei Millionen Klicks zeigt eine Frau dabei, wie sie Matratzen streichelt und liebevoll an Bettwäsche zupft. In anderen Filmen werden Lampenhälse oder Lichtschalter getätschelt, während eine Stimme aus dem Off die Preise wispert. Der Whisky-Hersteller Glenmorangie wiederum setzt auf ASMR-Videos, in denen sich Getreide rieselnd zum Firmenlogo anordnet oder der hellbraune Single Malt knisternd über Eiswürfel läuft.
Wenn die Betrachter zur Ruhe kommen, wirken manipulative Techniken besser.
»Werbebotschaften, denen wir intensiv lauschen, werden im Gehirn tiefer verarbeitet. Diese Beschäftigung erzeugt auch eine starke Bindung zum Produkt«, meint Carbon dazu. »Der Zuschauer fühlt, riecht und schmeckt mit, das vergisst er nicht so schnell.« Wenn die Betrachter auf diese Weise zur Ruhe kommen, wirken manipulative Techniken zudem besser. Der Forscher sieht darin nicht grundsätzlich ein Problem. Inzwischen produzierten selbst Pfarrer ASMR-Podcasts zu Bibelgeschichten.
Noch steht die Forschung zu dem Phänomen am Anfang. Claus-Christian Carbon hält sie für wichtig: »Wissenschaft hat auch die Aufgabe, solche viralen Masseneffekte zu erklären. Sonst überlassen wir das dem Halb- oder Unwissen im Internet.« Der Psychologe sieht hinter solchen Trends ein gesellschaftlich verbreitetes Bedürfnis: »Es geht bei ASMR um Entschleunigung und Informationsarmut bei gleichzeitiger Stimulation.«
Viele Menschen, die permanent unter Zeitdruck stehen, fänden so etwas attraktiv. Als Ersatz für eine Psychotherapie tauge es aber kaum, denn man müsse für AMSR nur den Bildschirm anschalten und konsumieren. An den eigenen Belastungen und wie man ihnen begegnet, ändere das allein noch nichts. Und um besser einzuschlafen oder auf andere Gedanken zu kommen, genüge häufig schon ein Spaziergang an der frischen Luft.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.