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Gentechnik: Unsere Kinder von morgen

Was bedeutet das Genome Editing mit CRISPR/Cas für die nächsten Generationen?
Mädchen auf Schaukel

Ruthie Weiss und ihr Basketballteam standen kurz vor der vierten Niederlage. Die Neunjährige machte nur Pause an der Seitenlinie – aufgegeben hatte sie noch lange nicht und überredete sogar ihren Coach, sie noch einmal ins Spiel zu lassen. Als die Spielzeit gerade ablief, warf sie noch einen Korb und holte damit für ihre Mannschaft den Sieg. Es war der erste in dieser Saison, und alle feierten ihn, als wäre es die Meisterschaft.

Noch außergewöhnlicher ist Ruthies Leistung aber, weil sie Albinismus hat. Auf Grund eines Sequenzfehlers in einem ihrer Gene produziert ihr Körper sehr wenig des Pigments Melanin, ihre Haut und Haare sind ganz hell, und sie ist praktisch blind. Ihre Sehschärfe ist zehnmal schlechter als beim Durchschnitt der Bevölkerung, sie lernt immer noch lesen und wird wahrscheinlich nie Auto fahren können – aber sie kann den Basketballkorb und ihre Teamspieler gut genug erkennen, um mitzuspielen, den Ball zu werfen und zu passen.

Im Januar fragte ihr Vater Ethan sie, ob es ihr lieber gewesen wäre, die Eltern hätten das verantwortliche Gen vor ihrer Geburt korrigieren lassen. Ruthie zögerte keine Sekunde und antwortete mit Nein. Und würde sie in Zukunft jemals in Betracht ziehen, die Gene ihrer eigenen Kinder zu verändern, um ihnen zum Sehen zu verhelfen? Ruthie antwortete wieder prompt mit Nein.

Die Antwort gab ihrem Vater, dem Arzt und Wissenschaftler Ethan Weiss von der University of California in San Francisco, zu denken. Er kennt die rasante Entwicklung der Gene-Editing-Technologien, deren Anwendung theoretisch verhindern könnte, dass Kinder mit tödlichen Erkrankungen oder Behinderungen, wie sie zum Beispiel seine Ruthie hat, geboren werden. Weiss glaubt auch, dass er und seine Frau die Chance ergriffen hätten, Ruthies Blindheit vor ihrer Geburt mittels Gentechnologie zu korrigieren, wenn sie diese Option gehabt hätten. Aber inzwischen ist ihm auch bewusst, dass es falsch gewesen wäre, weil damit vielleicht etwas ausgelöscht worden wäre, was Ruthie heute ausmacht – beispielsweise ihre Zielstrebigkeit und Entschlossenheit. In ihre Behinderung einzugreifen, "hätte uns und sie selbst vielleicht auf eine Weise verändert, die wir später bedauert hätten", sagt ihr Vater. "Irgendwie ist das unheimlich."

Solche Fragen treiben nicht nur Ethan und Ruthie um. Die sehr erfolgreiche, als CRISPR/Cas9 bekannt gewordene Gene-Editing-Technologie hat inzwischen eine heftige Debatte darüber entfacht, ob und wie sie zum Eingriff in das Genom menschlicher Embryonen eingesetzt werden kann und darf.

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Aber schon jetzt wird ausgelotet, wie weit die Leute gehen würden. Eltern haben heutzutage eine bisher nie da gewesene Kontrolle darüber, was sie an ihre Kinder weitergeben: Mittels Pränataldiagnostik kann man auf Downsyndrom testen und anschließend entscheiden, das Kind auszutragen – oder nicht. Die Präimplantationsdiagnostik erlaubt es Paaren, nach der Befruchtung von Eizellen im Reagenzglas Embryonen ohne erbliche Veranlagung für bestimmte Krankheiten auszuwählen. Manche Leute würden sogar den Eingriff in das vererbbare Genom akzeptieren – was letztlich beim Editing von Embryonen mittels CRISPR-Technologie geschieht.

Dem DNA-Editing bei menschlichen Embryonen stehen noch viele Hürden in Sachen Sicherheit, Methode und rechtlicher Bestimmungen im Weg. Doch nach Meinung mancher Wissenschaftler und Ethiker müssen wir uns schon jetzt Gedanken über mögliche Auswirkungen machen, noch bevor diese praktischen Hürden überwunden sind. Was für eine Welt würden wir damit wohl schaffen, nicht nur für die heute lebenden Menschen mit Störungen, sondern auch für zukünftige Generationen?

Die am ehesten von dem Thema Betroffenen haben sich bisher nur wenig geäußert, und wenn man sie fragt, bekommt man sehr unterschiedliche Meinungen zu hören. Manche sind ganz ungeduldig und sehen es als Pflicht, schwer wiegende und potenziell tödliche Erkrankungen mittels Genome Editing auszulöschen. Andere bezweifeln, dass sich die Technik in der Gesellschaft überhaupt so weit durchsetzen wird wie oft befürchtet oder vielleicht erhofft.

Viele Menschen jedoch warnen vor gedankenloser Anwendung: Wenn Menschen mit Behinderung von den politischen Entscheidungsträgern nicht einmal gefragt werden, könnte das den Patienten und der Gesellschaft von heute und in der Zukunft auch schaden. "Wir müssen unbedingt jene Menschen anhören, die derzeit mit relevanten Störungen leben", sagt zum Beispiel der Medizinsoziologe Tom Shakespeare von der University of East Anglia in Norwich.

Passende Fälle

John Sabine ist inzwischen 60 Jahre alt, Jurist und galt einst als eine der Koryphäen seiner Generation in England. Inzwischen leidet er an der Huntingtonkrankheit in fortgeschrittenem Stadium und kann nicht mehr laufen oder reden, ist inkontinent und bedarf ständiger Pflege. Sein jüngerer Bruder Charles Sabine trägt denselben Gendefekt und weiß, dass ihn eines Tages dasselbe Schicksal treffen wird wie schon seinen Bruder und auch seinen Vater.

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In den Augen von Charles – und vieler anderer, die mit der Mutation leben – kann es keine ethisch legitime Diskussion darüber geben, ob das Gene Editing überhaupt eingesetzt werden darf, sei es um Menschen mit dieser Erkrankung zu behandeln oder um ihre Kinder davor zu behüten. "Jeder, der sich der Realität einer solchen Erkrankung stellen muss, wird nicht im Entferntesten dabei an moralische Probleme denken", sagt Sabine. "Wenn es einen Raum gäbe und jemand sagte 'Schau, da kannst du hineingehen und deine DNA ändern lassen', dann würde ich diese Tür sofort einrennen."

Der Technologie-Unternehmer Matt Wilsey aus San Francisco würde dasselbe tun. Seine Tochter Grace gehörte zu den ersten Patienten der ganzen Welt, für die eine Erkrankung diagnostiziert wurde, die durch eine defekte Variante des Gens NGLY1 ausgelöst wird. Wegen der Mutation haben ihre Zellen Schwierigkeiten beim Abbau fehlgefalteter Proteine. Grace ist inzwischen sechs Jahre alt und zeigt schwere Bewegungs- und Entwicklungsstörungen; sie kann kaum laufen und nicht reden. Und weil ihre Störung bisher unbekannt war, können die Ärzte auch keine Vorhersage zu ihrer Lebenserwartung machen.

Wilsey ist zuversichtlich, was CRISPR angeht. Wenn man die Mutation in Graces Genom vor ihrer Geburt hätte feststellen und ändern können, hätte er es getan, sagt er. Jetzt ärgert ihn aber, dass die Diskussionen über die Technologie nur von der Debatte über ein Editing bei Embryonen beherrscht wird. Er hofft nämlich, dass seine Tochter vielleicht in ein paar Jahren von einer CRISPR-Anwendung ähnlich einer Gentherapie profitieren kann, bei der sich Bedenken über die Veränderung vererbbarer Gene erübrigen. Er fragt sich auch, ob sich mit einem zeitweiligen Moratorium des Embryonen-Editings die Forschung nicht auch mehr mit anderen Anwendungen beschäftigen würde.

"Was sollte ich als Elternteil eines unglaublich kranken Kindes tun – daneben sitzen, während mein Kind langsam stirbt? Keine Chance", sagt Wilsey. "CRISPR ist wie ein Hochgeschwindigkeitszug, der den Bahnhof schon verlassen hat – keiner kann ihn mehr stoppen. Die Frage ist, wie wir die Methode nun für gute Zwecke einsetzen können."

Angesichtes erheblicher Bedenken hinsichtlich Sicherheit und Ethik empfahlen die Chinesische Akademie der Wissenschaften und die Royal Society of London im Dezember 2015 bei einer Konferenz der US-amerikanischen National Academies of Sciences and Medicine solch ein Moratorium. Doch etliche Bioethiker und Wissenschaftler sprachen sich auch für die neue Technologie aus und würden die für lebensbedrohliche Erkrankungen und Behinderungen verantwortlichen Gendefekte möglichst schon im Embryo korrigieren wollen. Laut Shakespeare werden Bedenken und Kritik gegen das Gene Editing beim Embryo wahrscheinlich auch nach und nach zurückgehen. "Doch sobald es um weniger schreckliche Störungen geht, beginnt die Debatte wieder mit der Frage, welche davon noch erträglich sind."

Folgen für die Gesellschaft

Viele Leute fragen sich, wo die Grenze zu ziehen wäre. Im Moment kommen zwar nur ein paar wenige, sehr schwere Störungen für eine Behandlung durch Gene Editing in Betracht; Behindertenvertreter machen aber deutlich, dass die Liste der möglicherweise therapierbaren Erkrankungen langsam länger wird. "Immer häufiger sieht man schon Adipositas oder Neigung zum Alkoholismus als Erkrankung", erklärt die Sprachforscherin Carol Padden von der University of California in San Diego. Sie selbst ist taub und macht klar, dass viele taube Menschen ihr Handikap nicht als Behinderung ansehen. Diese Haltung führte immer wieder zu Kontroversen, wenn beispielsweise taube Eltern für ihre Kinder Technologien wie Cochlea-Implantate ablehnen. Es kam sogar schon vor, dass taube Menschen durch Präimplantationsdiagnostik speziell solche Embryonen auswählten, die sich zu tauben Kindern entwickelten.

Wie Padden sind auch andere Studieninitiatoren nicht völlig gegen die neue Technologie. Ihrer Meinung nach muss die Gesellschaft aber verstehen, dass wir unmöglich alle Störungen ausschalten können und dass etwas sehr Wichtiges verloren geht, wenn wir dies versuchen.

Padden macht auch deutlich, wie alle von den zunächst speziell für Behinderte gedachten Errungenschaften profitieren. Die Untertitel im Fernsehen beispielsweise wurden durch große Anstrengungen der Gemeinschaft der Hörgeschädigten und ein Gesetz aus den 1970er Jahren in den USA eingeführt. Heutzutage werden sie von vielen Leuten in einer Weise genutzt, die damals nicht vorhersehbar war, sei es an lauten Flughäfen oder in Sportkneipen, zum Lesenlernen oder beim Fremdsprachentraining.

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Die Literaturwissenschaftlerin Rosemarie Garland-Thomson ist Kodirektorin der Disability Studies Initiative an der Emory University in Atlanta in Georgia. Ihrer Ansicht nach haben Rechtsmandate wie das Schwerbehindertengesetz der USA (Disabilities Act) in den 1990er Jahren dazu beigetragen, Menschen mit Behinderung besser in die Gesellschaft zu integrieren, sei es am Arbeitsplatz, in der Schule oder in der Öffentlichkeit. Dadurch wurde die Welt für alle ein Stück weit humaner, sagt Garland-Thomson. "Der Umgang mit Behinderten verändert die Einstellung dazu, welche Menschen unsere Welt wirklich ausmachen."

Wenn Eltern alle Merkmale, die mit einer Behinderung einhergehen könnten, im Vorfeld bei ihren Kindern ausschalten, wirke das dem Inklusionstrend entgegen und könne zu einem für uns alle raueren sozialen Klima führen, befürchtet Garland-Thomson. Jeder wird einmal in irgendeiner Form beeinträchtigt sein, jeder macht irgendwann Erfahrungen mit Krankheit, Unfällen oder altersbedingten Schwächen. "Was wir da tun, ist gefährlich. Wir versuchen gerade darüber zu entscheiden, welche Lebensformen von der Welt zu beseitigen sind", warnt sie.

Padden fordert Ethiker, Patienten und Studieninitiatoren dazu auf, dringend für eine bessere Akzeptanz von Diversität in der Gesellschaft einzustehen. Hierum geht es doch schon lange, und so mancher sieht auch Fortschritte. Ein Beispiel ist der neue Denkansatz der Neurodiversität, der medizinische Störungen wie Autismus als Teil der normalen menschlichen Variation betrachtet. "Wir müssen mehr für Diversität eintreten, und das sehr schnell, denn CRISPR wird früher relevant sein, als wir alle meinen", gibt sie zu bedenken.

Entscheidungen treffen

Bisher gibt es nur erste Ansätze für ein Genome Editing beim Embryo, aber die Vererbung einiger Störungen zu verhindern, ist bereits möglich. Beim Pränatalscreening lässt sich bereits die DNA eines Fötus anhand des Bluts der Mutter untersuchen; wird hier eine Erkrankung oder Behinderung diagnostiziert, können die Eltern über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden. Auswirkungen hierdurch auf die Bevölkerung sind schon zu erkennen.

So ist beispielsweise in Europa die Anzahl von Downsyndrom-Diagnosen während der Schwangerschaft von 20 Fällen pro 10 000 Schwangerschaften im Jahr 1990 auf heute 23 Fälle pro 10 000 Schwangerschaften gestiegen, nicht zuletzt weil das Durchschnittsalter der Schwangeren gestiegen ist. Die Zahl der tatsächlich mit Downsyndrom geborenen Kinder blieb dabei aber gleich mit etwa elf Fällen pro 10 000 Geburten, weil viele betroffene Frauen die Schwangerschaft abbrachen. In den USA werden Schwangerschaften mit Diagnose eines Morbus Down in 67 bis 85 Prozent der Fälle beendet.

Der medizinische Genetiker Brian Skotko vom Massachusetts General Hospital in Boston hat Frauen beobachtet, bei deren Föten oder Babys Downsyndrom festgestellt wurde; außerdem hat er ähnliche Untersuchungen aus der ganzen Welt zusammengetragen. Wie er feststellen konnte, wird Frauen manchmal auch von Ärzten direkt zum Schwangerschaftsabbruch oder zur Adoptionsfreigabe ihrer Babys geraten. Schon mit Phrasen wie "Es tut mir leid" oder "Ich muss Ihnen eine schlechte Nachricht überbringen" lässt sich die Entscheidung einer Frau stark beeinflussen. Von 71 holländischen Frauen, die ihre Schwangerschaft auf Grund der Diagnose Downsyndrom beendet hatten, berichteten 34 Prozent, dass ihr Arzt während der Beratung nicht einmal die Möglichkeit einer Fortführung der Schwangerschaft ansprach.

Mark Leach ist Rechtsanwalt aus Louisville in Kentucky, seine elfjährige Tochter hat das Downsyndrom. Er erzählt, wie er und seine Frau mehrmals gefragt wurden – besonders als seine Frau mit dem zweiten Kind schwanger war –, ob sie "schon vorher wussten", dass Juliet mit Downsyndrom geboren werde. (Sie wussten es nicht.) Manche Leute sind einfach nur neugierig und stellen diese Frage, sagt Leach, aber für andere entscheidet die Antwort über ihre Meinung von jemandem. Leach fügt hinzu: "Die Möglichkeit, etwas zu verändern, gibt dem Ganzen den Tenor von: Sie sollten nicht nur tun, was für Sie richtig ist, sondern was für die Gesellschaft richtig ist." Ihn ärgert, dass die Regierung und privaten Krankenversicherer zwar routinemäßig Pränataldiagnostik bezahlen, dass seine bisherige finanzielle Unterstützung für einen Sonderpädagogen, der Juliet in Mathematik und Lesen unterrichtete, aber beendet wird.

Dorothy Roberts ist Professorin für Recht und Soziologie von der University of Pennsylvania in Philadelphia und hält diese Art von Druck für beängstigend; noch Schlimmeres befürchtet sie, wenn das Editing beim Embryo leichter zugänglich wird. "Wir können nicht einfach den Frauen die Verantwortung für die genetische Fitness ihrer Kinder geben und behinderte Kinder nur mangelhaft unterstützen."

Barrierefreiheit | Fachleute befürchten, dass behindertengerechte Einrichtungen und Barrierefreiheit unter den Tisch fallen, wenn die Reparatur genetischer Defekte die Norm wird.

Leach weiß, dass Kinder mit Behinderungen ein erfülltes Leben führen können. Juliet mag besonders Ballett und Reiten, sie kennt die Namen der Personen und Tiere in ihrer Umgebung. In den Augen von Leach erinnert sie andere Leute immer daran, dass man sich um seine Mitmenschen kümmern muss. "Wenn das Downsyndrom immer mehr verschwindet, wird besonders das Mitgefühl für andere in unserer Welt verloren gehen", befürchtet er.

Auch etliche derer, die schon an lebensbedrohlichen Störungen leiden, würden gar nicht in die Genetik eingreifen wollen. Edward Wild arbeitet als Neurologe am University College London mit Huntingtonpatienten. Seiner Schätzung nach nutzen weniger als fünf Prozent der Patienten im Vereinigten Königreich das Präimplantationsscreening zur Auswahl mutationsfreier Embryos, um so die Erkrankung nicht an ihre Kinder weiterzugeben. Manche Menschen wissen gar nicht, dass sie die Mutation tragen, einige entscheiden sich auf Grund finanzieller Gründe oder Risiken gegen ein Screening, andere haben persönliche oder moralische Vorbehalte gegen die Methoden oder finden eine 50-zu-50-Chance zur Vererbung der Erkrankung gar nicht so schlecht. "Kinder auf natürlichem Weg zu zeugen, ist immer noch beliebter als das In-vitro-Verfahren, auch wenn sich durch Letzteres garantieren lässt, dass die Nachkommen nie an der Huntingtonkrankheit leiden werden", sagt Wild.

Aber selbst wenn das Gene Editing eine sichere, effektive und für jeden wählbare Methode wäre, ließen sich genetisch bedingte Erkrankungen damit nicht völlig ausrotten. Es wird nämlich noch sehr lange dauern, bis alle beteiligten Gene und Mechanismen bekannt und verstanden sind. Auch bei der schon recht gut charakterisierten Huntingtonkrankheit ist das Anvisieren des relevanten Gens nicht ganz einfach. Der Auslöser ist eine bestimmte Wiederholungssequenz; je mehr dieser Sequenzen hintereinandergeschaltet sind, desto schwerer sind die Symptome, und bei jeder nachfolgenden Generation werden weitere Wiederholungen angehängt. Es werden ständig neue Familien mit Huntingtonerkrankung diagnostiziert, sei es weil bisher eine falsche Diagnose gestellt wurde oder weil sich die Symptome verschlechtert haben und sich erst in den nachfolgenden Generationen bemerkbar machen. Auch wenn Wild an genetischen Techniken zur Behandlung von Morbus Huntington arbeitet, sieht er wenig Hoffnung für eine Zukunft frei davon. "Es ist sicherlich verlockend, darüber nachzudenken – es ist aber nicht mehr als ein Traum", sagt er.

Das Zusammenspiel vieler Faktoren in der Biologie des Menschen verkompliziert zudem die Diskussion. Wie Padden feststellte, kann eine Genveränderung wie die Sichelzellmutation, die den Einzelnen für eine genetische Erkrankung prädisponiert, auf Populationsebene doch von Vorteil sein, weil sie beispielsweise eine Resistenz gegen Malaria bewirkt. Das genetische Auslöschen der einen Erkrankung würde damit das Risiko für eine andere erhöhen. Paddens Meinung nach ist noch viel zu wenig über die möglichen Vorteile von krankheitsassoziierten Mutationen bekannt, so dass ein Eingriff mittels Genome Editing unerwünschte Konsequenzen haben könnte.

Und selbst wenn die Technologie tatsächlich zur Anwendung käme, dann sicherlich nicht gleichermaßen überall auf der Welt. Laut der Soziologin Aleksa Owen von der University of Illinois in Chicago würde das Genome Editing sicherlich zuerst in Ländern eingesetzt werden, in denen die Reproduktionsmedizin bereits erfolgreich ist. Zum Beispiel im Vereinigten Königreich, in anderen Staaten der Europäischen Union, in China oder in Israel. Für viele Entwicklungsländer wäre die Technik wahrscheinlich viel zu teuer.

Ungleicher Zugang

Die Medizin- und Handikap-Historikerin Sandy Sufian von der University von Illinois sieht breite Anwendungsmöglichkeiten der CRISPR-Technologie. Grund sei einerseits die Annahme, damit Geld sparen zu können, das sonst für die Betreuung Behinderter ausgegeben werden müsste, und andererseits die Angst der Leute vor einer Behinderung. Ob sich das Leben der Menschen damit aber wirklich verbessert, weiß sie auch nicht. Sufian leidet an Cystischer Fibrose. Diese Erkrankung wird durch Mutationen verursacht, welche die Lungenzellen anfälliger für Infektionen und Krankheiten macht. Sie verbringt jede Woche 40 Stunden mit der Inhalation von Medikamenten, um so ihre Lunge von Schleim zu befreien; dazu macht sie Sport und geht zur Physiotherapie – andere Menschen müssen sogar ihren Job aufgeben, um ausreichend Zeit für die Behandlung zu haben. Doch auch wenn es die Möglichkeit gäbe, die Erkrankung aus ihrem Blut zu verbannen, würde Sufian es nicht tun. "Eine genetisch bedingte Erkrankung hat auch ihre guten Seiten", findet sie.

Garland-Thomson denkt ganz ähnlich. Sie leidet an einem so genannten Reduktionsdefekt der Extremitäten und hat nur eineinhalb Arme und sechs Finger. Sie weiß bei sich selbst aber Eigenschaften zu schätzen, die sie sich auf Grund ihrer Behinderung erworben hat. So ist sie sehr kontaktfreudig, vielleicht genau deshalb, weil sie erst mühsam erfahren musste, wie sie anderen Menschen ihre Gesellschaft angenehm machen kann. "Jede Art der Einschränkung gab mir die Gelegenheit, neue Strategien zu entwickeln", erklärt Garland-Thomson.

Shakespeare leidet an Achondroplasie, einer genetisch bedingten Erkrankung mit Kleinwuchs. Seiner Meinung nach können Menschen mit Behinderung genauso mit ihrem Leben zufrieden sein wie andere Leute. "Ich habe in meinem Leben alles erreicht, was ich wollte, auch wenn ich klein gewachsen bin: Karriere, Kinder, Freundschaft und Liebe." Er würde seine Gene gar nicht geändert haben wollen, nur um größer zu sein, sagt er.

Die Rechte von Menschen mit Behinderung

Viele Leute unterschätzen die Zufriedenheit Behinderter mit ihrem Leben. Diese geben zwar eine etwas niedrigere allgemeine Lebensqualität an als Menschen ohne Handikap – der Unterschied ist aber nur gering. Nach einer Studie beurteilt die Hälfte aller Schwerbehinderten ihre Lebensqualität als "gut" oder "exzellent". Viele überschätzen auch den Einfluss der Gesundheit auf die Zufriedenheit im Vergleich zu anderen Faktoren wie finanzieller oder sozialer Unterstützung. Eine Studie aus dem Jahr 1978 verglich beispielsweise Menschen, die erst kurz zuvor durch einen Unfall gelähmt wurden, mit Leuten, die kurz vorher in einer staatlichen Lotterie zwischen 50 000 und einer Million US-Dollar gewonnen hatten. Die Menschen nach einem Unfall schätzten ihre aktuelle Zufriedenheit natürlich erst einmal niedriger ein als Leute nach einem Lotteriegewinn. Doch beide Gruppen schätzten ihr Zufriedenheitslevel für die Zukunft relativ gleich ein. Die Leute nach einem Unfall zogen dabei mehr Freude aus den täglichen Aktivitäten wie frühstücken und mit Freunden reden.

"Bei vielen dieser fantastischen Ansätze aus Forschung und Technologie muss man bedenken, dass die Meinung der Leute über das Leben auch durch Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung beeinflusst ist", sagt Lennard Davis, dessen Eltern beide taub sind und der heute an der University of Illinois am Thema Behinderung forscht.

Unter den Verfechtern für die Rechte von Behinderten heißt es "Nihil de nobis, sine nobis": Entscheidungen sind nur mit ihrer Beteiligung zu treffen. So sollten Wissenschaftler, Politiker und Bioethiker sicherstellen, dass die Debatte um CRISPR auch das reflektiert, was für die Patienten und ihre Familien am besten ist. Nur so ließe sich ein möglichst humaner Einsatz jetzt und für zukünftige Generationen gewährleisten.

Sie wünschen sich zumindest einmal, dass die Entwicklung der CRISPR-Technologie mit anderen Innovationen abgestimmt wird, um auch jenen zu helfen, die bereits mit Erkrankungen leben. Wichtig ist zudem, die direkt Betroffenen in die Entscheidungen über gezielte CRISPR-Eingriffe mit einzubeziehen.

Ruthie Weiss und ihr Vater haben sich schon entschieden. Ruthie muss sich bei ganz normalen Aktivitäten zwar mehr anstrengen als ihre Klassenkameraden – aber wenn sie das Basketballfeld dominiert, sieht Ethan Weiss sie nicht als Kind mit Behinderung. Er sieht nur seine Tochter, die das Beste aus ihrem Leben macht, indem sie alles gibt und sich allen Herausforderungen stellt. Und er ist sich sicher, er würde nie etwas ändern wollen.

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