Evolution: Was Charles Darwin verpasst hat
Auf seiner legendären Fahrt mit der HMS Beagle besuchte Charles Darwin auch verschiedene Inselgruppen im Atlantik – ohne ihnen größere Aufmerksamkeit zu schenken. Das geschah teilweise gezwungen, weil die Besatzung wie auf den Kanaren das Schiff aus Quarantänegründen nicht verlassen durfte, oder weil Darwin die Tierwelt beispielsweise der Azoren zu sehr an seine englische Heimat erinnerte. In seinem Tagebuch vermerkte er nur Stare, Stelzen, Finken und Amseln, die es auch im Königreich häufig gab. Doch er kam einfach leider nur 500 Jahre zu spät an. Denn wie Knochenfunde von den Azoren und Madeira andeuten, beherbergten die Eilande bis in historische Zeit eine vielfältigere Fauna als heute: Mindestens fünf verschiedene Rallenarten besiedelten diese Inseln, bevor die ersten Menschen ankamen, so eine Studie von Josep Antoni Alcover vom Mediterranean Institute for Advanced Studies und seinem Team: Die Rallen und ihre Aufspaltung in verschiedene Spezies von einem gemeinsamen Vorfahren vom europäischen Festland hätten Darwin vielleicht ebenso starke Rückschlüsse auf evolutionäre Anpassungen gegeben wie die Spottdrosseln der Galapagosinseln, auf denen seine Evolutionstheorie unter anderem basiert.
Die fünf bislang unbekannten Rallenarten stammten wahrscheinlich ursprünglich von der Wasserralle (Rallus aquaticus) ab, die heute noch in Europa weit verbreitet ist. Auf den atlantischen Inseln verloren sie ihre Flugfähigkeit weitgehend oder sogar völlig, wie die Knochenfunde andeuten. Außerdem entwickelten sie sich körperlich auseinander, wobei sie alle kleiner wurden als ihre festländischen Verwandten. Zudem bildeten sie unterschiedliche Schnabelformen aus, was womöglich mit speziellen Nahrungsvorlieben und den besiedelten Lebensräumen zusammenhängt: Während die Wasserrallen – wie der Name andeutet – stark an feuchte Habitate gebunden sind, besiedeln viele heute noch lebende Inselrallenarten auch trockenere Regionen.
Wann und warum die Rallen ausstarben, ist noch unklar. Die flugunfähigen und bodenlebenden Tiere sind jedoch besonders anfällig gegenüber menschlichen Jägern und eingeschleppten Tieren wie Mäusen und Ratten: Diese konkurrieren um Futter, fressen Eier wie Küken und töten sogar erwachsene Exemplare. Auf Madeira brachten womöglich von Wikingern eingeschleppte Mäuse das Aus für die beiden neu nachgewiesenen Rallenarten, so die Autoren: Die Nordmänner besiedelten das Archipel wohl nicht oder zumindest nicht dauerhaft, statteten ihm jedoch einen Besuch ab und brachten dabei die Nager mit, wie DNA-Analysen andeuten. Auf den Azoren überlebte eine der Spezies womöglich sogar bis ins 15. Jahrhundert, bevor sie endgültig verschwand. "Wir sprechen von einer relativ jungen Geschichte des Aussterbens", so Alcover.
Nachdem die Menschheit ozeanische Inseln besiedelte, starben unter anderem zahlreiche Rallenarten aus. Knochenfunde aus Ozeanien deuten an, dass allein dort mehrere tausend Rallenarten verschwunden sein könnten. Auf den atlantischen Inseln ist diese Zahl kleiner, doch zeigen Ausgrabungen, dass es auf den Antillen, Bermuda, St. Helena und Ascension ebenfalls Rallen gab, die heute nicht mehr existieren. Womöglich besaß auf den Azoren sogar jede Insel eine eigene Spezies, so die Biologen um Alcover, die auf weitere Knochenfunde verweisen, die noch nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Zudem existierte mindestens eine ausgestorbene Zwergohreulen auf Madeira – was zusätzlich unterstreicht, dass die Fauna dieser Inseln wohl doch nicht so gewöhnlich war, wie Darwin feststellen musste.
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