Deep-Field-Aufnahmen: Die Faszination der Leere
Im Juli 2022 ließ das Team des James Webb Space Telescope (JWST) die Menschheit mit einem Foto überwältigend tief ins Weltall schauen. Das Bild zeigt einen Galaxienhaufen namens SMACS 0723, der vor 4,6 Milliarden Jahren entstanden ist. Dessen Schwerkraft wirkt wie eine Linse, die uns das Licht noch viel weiter entfernter Galaxien gebündelt und in verzerrten Formen präsentiert. Einige dieser hellen kosmischen Edelsteine funkelten bereits, als das Universum gerade einmal ein paar hundert Millionen Jahre alt war.
Um solche unvorstellbar abgelegenen Objekte sichtbar zu machen, musste das Weltraumteleskop über viele Stunden allmählich genügend von ihrem schwachen Licht einsammeln und aufsummieren. Das Unterfangen steht in der Tradition anderer so genannter Deep-Field-Aufnahmen mit Vorgängern des JWST, allen voran mit dem Hubble-Weltraumteleskop.
Das Hubble-Teleskop wurde 1990 gestartet und war in erster Linie für gezielte Beobachtungen konzipiert: Es richtete sich auf ein bestimmtes astronomisches Objekt an einem Punkt des Himmels und belichtete seinen Detektor eine gewisse Zeit lang, je nach Helligkeit der Quelle. Eine Deep-Field- oder Tiefenfeld-Aufnahme ist gewissermaßen das Gegenteil. Hier lässt man das Teleskop auf eine Region ohne irgendwelche sichtbaren Quellen blicken. Eine sehr lange Belichtungsdauer lässt extrem schwach leuchtende Objekte hervortreten, die sich in dem Ausschnitt befinden. Sie sind nur mit solchen Mühen zu erkennen, weil sie in der Regel sehr weit entfernt sind. Man dringt mit einer solchen Aufnahme also tief in den Weltraum vor – daher der Name der Technik. Hubble befindet sich in der Erdumlaufbahn außerhalb der Atmosphäre unseres Planeten. Ohne deren störendes Streulicht war das Teleskop damit in der bis dahin bestmöglichen Lage für so ein Vorhaben.
Allerdings glaubten nicht alle daran, dass es sich überhaupt lohnen würde, viel wertvolle Beobachtungszeit auf scheinbar leere Himmelsregionen zu verwenden. Beispielsweise argumentierte John Bahcall vom Institute for Advanced Study in Princeton 1990 gemeinsam mit zwei Kollegen in einer Publikation im angesehenen Fachjournal »Science«, eine Deep-Field-Aufnahme mit Hubble würde nicht wesentlich mehr Galaxien offenbaren als erdgebundene Teleskope. Bahcall war in der astrophysikalischen Gemeinschaft weithin anerkannt für seine Arbeiten zu solaren Neutrinos und seine Berechnungen zu Sternbewegungen im Umfeld massereicher Schwarzer Löcher. Außerdem hatte er von den 1970er Jahren an bis zu dessen Start maßgeblich Teil an der Konzipierung des Hubble-Weltraumteleskops. Bahcall hielt Deep-Field-Bilder zwar für durchaus sinnvoll zur Untersuchung der Größe und Form schwach leuchtender Galaxien und um Quasare zu zählen. Er bezweifelte jedoch, dass damit größere Mengen zuvor unbekannter Galaxien aufgedeckt würden. Solch prominent vorgetragene Bedenken nahmen dem Unterfangen jede Dringlichkeit.
Dennoch fand schließlich ein erster Versuch statt. Nach dem Abschluss notwendiger Reparaturarbeiten an der Optik richtete sich Hubble im Dezember 1995 zehn Tage lang auf das Sternbild des Großen Bären aus. Dort visierte das Teleskop einen winzigen Fleck am Himmel an, gerade einmal ein Dreizehntel so schmal wie der Winkeldurchmesser des Mondes. Als Wochen später das daraus resultierende Bild vorlag, war allen Beteiligten sofort klar: Das »Hubble Deep Field« war ein Weihnachtsgeschenk für die Ewigkeit. Fast 3000 schwach leuchtende Galaxien unterschiedlicher Form und Größe waren zu erkennen – viel mehr als erwartet und manche bis zu zwölf Milliarden Lichtjahre entfernt. Das Bild gestattete nicht nur einen oberflächlichen Blick in den Weltraum. Es ermöglichte eine Reise zurück zu Sternenlicht, das in frühen Epochen des Universums ausgesandt worden war.
Nun stellte sich die wichtige Frage, ob die galaxienreiche Region für das Universum insgesamt typisch ist oder nur zufällig ein so reicher Fang ins Netz geraten war. Deswegen nahm Hubble 1998 in der südlichen Hemisphäre, so weit weg wie möglich vom ersten Abschnitt, das »Hubble Deep Field South« auf. Das Ergebnis war nicht weniger spektakulär. Offenbar enthielt das Universum in großen Entfernungen generell weitaus mehr Galaxien als bis dahin angenommen.
Abgesehen von ihrem faszinierenden Anblick erbrachten diese und weitere Deep-Field-Kampagnen mit Hubble einen gewaltigen wissenschaftlichen Datenschatz. Sie produzierten Bilder von mehr als 10 000 Galaxien, deren Auswertung bis heute andauert. Hubble erfasst den Bereich des Spektrums rund um die sichtbaren Wellenlängen. Eine Tiefenfeld-Aufnahme jenseits dessen gelang um die Jahrtausendwende mit dem Chandra-Röntgenteleskop der NASA. Das »Chandra Deep Field South« entstand im Lauf eines rund elf Tage andauernden Blicks in eine Himmelsregion ohne störende Wasserstoffwolken und Staub aus der Milchstraße. Es zeigte die Tiefen des Universums in den extrem energiereichen Wellenlängen, in denen beispielsweise viele weit entfernte Schwarze Löcher ihr Umfeld zum Leuchten bringen.
Das Bild war rein visuell nicht so spektakulär wie die Hubble-Aufnahmen, aber wissenschaftlich ebenfalls von großem Wert. Später schaute Chandra noch einmal auf dasselbe Himmelsfeld mit einer siebenmal so großen Gesamtbelichtungszeit. 2003 kam ein anderes Foto namens Chandra Deep Field North mit mehr als 500 Röntgenquellen hinzu.
2006 war Hubble wieder an der Reihe. Bei einer Wartungsmission war 2002 die Advanced Camera am Teleskop angebracht worden, die nun das »Hubble Ultra Deep Field« lieferte. Die Aufnahme zeigt das Licht Tausender von Galaxien aus einer Zeit, in der das Universum weniger als eine Milliarde Jahre alt war. Daran lässt sich seine Entwicklungsgeschichte in zuvor unbekannten Details ablesen. Weit entfernte Galaxien erweisen sich als kleiner und unregelmäßiger geformt als nahe gelegene. Das untermauerte bestehende Theorien.
Das Hubble Ultra Deep Field ist das Maximum dessen, was sich im Bereich optischer Wellenlängen erreichen lässt. Wenn eine Galaxie zu weit weg ist, rückt ihr Licht aus dem sichtbaren Bereich ins langwelligere Infrarot. Dieser Rotverschiebung genannte Effekt ist eine Folge der Ausdehnung des Universums, wegen der sich die Wellenlängen von Licht strecken, während es den intergalaktischen Raum durchquert. Um weiter in die Vergangenheit zu schauen, braucht man also eine spezielle Infrarotkamera. 2009 erhielt Hubble ein solches Instrument, und gleich darauf gab es ein neues Ultra Deep Field im Infrarotbereich. Dort zeigt sich das Leuchten von Galaxien nur 600 Millionen Jahre nach dem Urknall. 2019 ergänzte das NASA-Infrarotteleskop Spitzer das Wissen über Galaxien in der kosmischen Morgendämmerung durch eigene Deep-Field-Aufnahmen.
Ein weiteres Hubble-Beobachtungsprojekt, Frontier Fields, legte schließlich die Grundlage für das erste Deep-Field-Bild mit JWST. 2017 war Hubble auf sechs große Ansammlungen von Galaxien gerichtet. Gemäß Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie kann eine stark konzentrierte Masse das Licht einer weiter im Hintergrund gelegenen Quelle unter günstigen Umständen als »Gravitationslinse« ablenken und verstärken. Die Frontier-Fields-Kampagne nutzte Galaxienhaufen als Vergrößerungsgläser, mit denen sich in noch weitere Ferne sehen lässt. Die Bilder wimmeln nicht bloß vor gewöhnlichen Galaxien, sondern enthalten überdies merkwürdig lang gesteckte Lichtbögen. Das sind gerade jene verzerrten Bilder von Objekten im Hintergrund, die viel entlegener sind als der Galaxienhaufen und die ohne den Linseneffekt womöglich zu leuchtschwach für eine direkte Beobachtung wären. Die Aufnahmen enthüllten neben einigen der am weitesten entfernten bekannten Galaxien sogar den Blitz einer Supernova. Nach der erfolgreichen Inbetriebnahme von JWST visierte das Teleskop für sein erstes Deep Field einen Galaxienhaufen an, der 2017 als eine solche Gravitationslinse im Fokus von Hubble lag – nämlich SMACS 0723.
Seit der Erfindung der Fotografie, mit der Menschen erstmals Licht aus ihrer Umgebung festhalten konnten, sind zwei Jahrhunderte vergangen. Heute fangen hochkomplexe Kameras an Bord eines 1,5 Millionen Kilometer entfernten Weltraumteleskops Photonen aus zuvor unkartierten Zonen des Alls ein. Aus kosmischer Sicht umfasst diese technische Entwicklung eine unwesentlich kurze Zeitspanne. Indes lässt sich kaum überschätzen, was sie für uns bedeutet: Indem wir das betrachten, was unsere Augen nicht sehen können, vertieft sich unser Verständnis der Natur mehr und mehr.
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