Psychische Gesundheit: »Niemand nimmt ungestraft Hormone ein«
Psychische Erkrankungen haben meist mehrere Ursachen: zum einen die Gene, zum anderen belastende Lebensereignisse. Selten wird darüber gesprochen, wie die Hormone dazu beitragen können. Dabei sind sie nicht minder am seelischen Wohlbefinden beteiligt, wie die Psychologieprofessorin Ulrike Ehlert von der Universität Zürich berichtet. Sie erforscht seit mehreren Jahrzehnten die Beziehung zwischen Psyche und Hormonhaushalt.
»Spektrum.de«: Frau Professor Ehlert, Hormone steuern unser Leben. Sie bestimmen, wann wir hungrig sind, müde werden oder Lust auf Sex haben. Inwiefern können Hormone auch an psychischen Erkrankungen beteiligt sein?
Ulrike Ehlert: Man weiß heute aus der Forschung, dass sie bei sehr vielen psychischen Erkrankungen eine ganz wichtige Rolle spielen. Nehmen Sie zum Beispiel Autismus-Spektrum-Störungen: Dort vermutet man heute, dass zu wenig des so genannten Bindungshormons Oxytozin vorhanden ist (Anm. d. Red.: siehe Glossar). Ein anderes Beispiel sind Depressionen, Suchtmittelabhängigkeit oder Essstörungen, da weiß man, dass der Kortisolspiegel bei den Betroffenen viel zu hoch ist. Bei psychosomatischen Erkrankungen wie chronischen Schmerzstörungen ist der Kortisolspiegel wiederum viel zu niedrig.
Beeinflusst die Erkrankung den Hormonhaushalt oder der Hormonhaushalt das Wohlbefinden?
Beides ist möglich. Unsere Hormonausschüttung ist immer in Interaktion mit der Umwelt zu betrachten. Wir befinden uns in einem dauernden Austausch mit unserer Umgebung. Jeder Mensch reagiert auf seine Umwelt, weil er sie auf eine bestimmte Weise wahrnimmt. Diese Reaktionen führen dazu, dass Hormone freigesetzt werden, und diese Hormone wiederum können das nächste Verhalten steuern.
Gibt es Anomalien in der Hormonausschüttung, die direkt psychische Beschwerden auslösen können?
Bei manchen Störungsbildern finden sich konkrete Studienbefunde dazu. Ein Beispiel aus unserer aktuellen Forschung: Meine Doktorandinnen und ich haben uns angeschaut, wie Frauen die hormonellen Veränderungen in der Menopause bewältigen, also ob sie entweder psychisch widerstandsfähig bleiben und gut durch diese Lebensphase kommen oder ob sie mit einer Depression reagieren. Wir haben versucht herauszufinden, ob der hormonelle Abfall der Sexualhormone, was ja die Wechseljahre ausmacht, in irgendeinem Zusammenhang mit der psychischen Befindlichkeit steht. Was wir gesehen haben: Wenn bei Frauen das Östrogen sank, dann war dies nicht per se das entscheidende Kriterium für ihr Wohlbefinden. Vielmehr kam es auf die Hormonfluktuation während des Absinkens an, also ob es darin ein größeres Auf und Ab gab. Die Frauen, die beim Absinken des Östrogens stärkere Schwankungen durchlebten, zeigten eher depressive Gestimmtheit.
»Eine Frau, die die Pille nimmt, hat keinen Östrogen-Peak und erlebt damit auch nicht das körpereigene Hoch«
Und das kann ein Hormon allein verursachen?
Tatsächlich wäre es extrem vereinfachend, wenn wir uns bei psychischen Erkrankungen jeweils nur ein Hormon anschauen würden. Wir schauen uns das Konzert der Hormone an. Es sind immer mehrere Hormone beteiligt, die wir zusammen betrachten müssen. In unserer Studie zu den Frauen in der Menopause haben wir beispielsweise festgestellt, dass diejenigen die größte Resilienz zeigten, bei denen zugleich der Progesteronspiegel weniger stark abfiel.
Bleiben wir noch kurz bei den Frauen: Kann die Pille wirklich depressiv machen, wie es zuletzt oft in Medienberichten hieß?
Im normalen hormonellen Zyklus der Frau, die keine Pille nimmt, wird zum Zeitpunkt des Eisprungs sehr viel Östrogen freigesetzt. Das führt dazu, dass die Haut und die Haare schöner sind und, wie einige Kollegen schon nachgewiesen haben, Frauen in dieser Zeit von Männern als attraktiver wahrgenommen werden. Die Pille unterdrückt diesen normalen Menstruationszyklus. Eine Frau, die die Pille nimmt, hat keinen Östrogen-Peak und erlebt damit auch nicht das körpereigene Hoch. Ein stimmungsverschlechternder Effekt der Pille – ähnlich wie bei den Frauen in der Menopause – ist aber eher darauf zurückzuführen, dass das in der Pille enthaltene Progesteron bestimmte Hirnregionen bei manchen Frauen stimmungsdämpfend beeinflusst.
Wie ist das bei Männern? Gibt es da auch einen Hormoncocktail, der sie aus dem seelischen Gleichgewicht bringen kann?
Man weiß ja, dass ab dem 40. Lebensjahr bei Männern der Testosteronspiegel kontinuierlich absinkt. Wir konnten aber in Studien zeigen, dass dieser jährliche Rückgang um ein bis anderthalb Prozent gar nicht per se ein Problem ist. Problematisch war bei Männern die Kombination von stark abfallendem Testosteron und steigendem Kortisol, also dem Stresshormon. Diese eigentlich gesunden Männer sind psychisch weniger stabil, als wenn sie einen geringeren Testosteronabfall und einen weniger starken Kortisolanstieg erleben würden.
»Problematisch war bei Männern die Kombination von stark abfallendem Testosteron und steigendem Kortisol«
Sie haben vorhin Suchterkrankungen mit Stresshormonen in Zusammenhang gebracht. Was ist dazu bekannt?
Man weiß, dass infolge von beispielsweise Alkoholismus der Kortisolspiegel eines Menschen sehr stark erhöht ist. Das ist unter Umständen die Folge von dem massiven physiologischen Stressor, den eine Alkoholsucht auf der einen Seite für den Körper darstellt, und der psychischen Belastung auf der anderen Seite, die bei Suchtmittelabhängigen ganz stark auftritt, auch weil sie in Konflikt mit ihrer Umwelt geraten.
Was weiß man über Depressionen im Zusammenspiel mit Hormonen?
Wir müssen natürlich immer die wahren Hormonstörungen von sonstigen Abweichungen trennen, die im Hormonspiegel auftreten können. Wenn im Körper von jemandem sehr wenig TSH freigesetzt wird, also das stimulierende Schilddrüsenhormon, dann sind diese Personen meist sehr schlank, haben eine beschleunigte Herzrate, und sie sind oft ängstlich, fühlen sich getrieben. Hier liegt eine Schilddrüsenüberfunktion vor. Eine Schilddrüsenunterfunktion geht einher mit stärkerem Kälteempfinden, Gewichtszunahme und eher depressiver Gestimmtheit. Beide Störungen müssen von Endokrinologen behandelt werden, nicht von Psychotherapeuten. Wenn Menschen aber in der Kindheit traumatisiert oder stark vernachlässigt wurden, kann es sein, dass sie in der Jugend weitere Belastungen erleben und dann eine Depression oder Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Bei diesen Erkrankungen gibt es charakteristische hormonelle Auffälligkeiten.
Welche zum Beispiel?
Wir haben vor einiger Zeit eine Untersuchung zu traumatischen Erfahrungen von Anfängern bei der Berufsfeuerwehr durchgeführt. Hier stellten wir fest, dass die jungen Männer, bei denen der Spiegel des Stresshormons Kortisol während dieser ersten belastenden Anfangsmonate stufenweise anstieg, psychisch gesünder waren. Junge Feuerwehrmänner, bei denen es zu einem ganz steilen Anstieg direkt nach den ersten belastenden Einsätzen und dann zu einem Abfall im Hormonspiegel kam, zeigten nach zwei Jahren viele Symptome der PTBS, der Posttraumatischen Belastungsstörung.
Wie kann man sich das erklären?
Auf Grund der berufsbezogenen Belastungen und möglicherweise aufgetretenen Traumatisierungen im Berufsalltag kam es zu einer Überlastung, die auch im stressbezogenen Hormonsystem sichtbar war. Es war überstrapaziert. Der Kortisolspiegel stieg sehr stark an, fiel dann aber unter den Normwert ab. Ob das Kortisol allein eine PTBS auslösen kann, ist noch nicht geklärt. Entscheidend war in dem Fall auch das Zusammenspiel mit anderen Faktoren, in diesem Fall vor allem mit Persönlichkeitseigenschaften wie der Selbstwirksamkeitserwartung und Feindseligkeit. Wenn ich wenig an mich selbst glaube und meine Umwelt als sehr feindselig erlebe, dann bin ich natürlich in sehr hohem Ausmaß gestresst.
»Eine Psychotherapie kann hormonelle Fehlregulationen normalisieren«
Wenn man heute weiß, dass Hormone bei vielen psychischen Erkrankungen mitmischen, inwiefern kann das in der Therapie berücksichtigt werden?
Es ist kein Standard. Das Problem ist, dass das ziemlich viel Finetuning braucht. Hormone kann man nicht einmal pro Tag in großen Mengen verabreichen, sie müssen sehr, sehr gut dosiert werden. Das ist äußerst schwierig. Zudem bergen Hormongaben meistens ein Risiko. Geben Sie zum Beispiel Frauen in der Menopause zu viel Östrogen, dann entwickeln sie mit größerer Wahrscheinlichkeit Unterleibskarzinome. Niemand nimmt ungestraft einfach Hormone ein, das hat immer irgendwelche Nebenwirkungen.
Inwiefern kann Psychotherapie auf den Hormonhaushalt einwirken?
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen auf dem Sessellift beim Skifahren und es ist extrem kalt. Dann können Sie mit Gedanken, mit wärmenden Gedanken, unter Umständen Ihren Hormonhaushalt beeinflussen. So ist das auch bei Psychotherapie. Sie führt zu einer veränderten Stresswahrnehmung und damit indirekt zu einer Verringerung der Stresshormonfreisetzung. Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder Yoga zum Beispiel tragen dazu bei, dass die Atmung ruhiger wird, dass weniger Adrenalin und andere Stresshormone freigesetzt werden. Wenn ich im Rahmen einer Psychotherapie frühe Traumatisierungen bearbeite, dann geht es dem Patienten in der Akutphase der Therapie meistens erst mal deutlich schlechter, weil wir eine Wunde aufkratzen. Aber mittelfristig kommt es zu einer psychischen Entlastung. Studien zeigen: Eine Psychotherapie kann hormonelle Fehlregulationen normalisieren.
Das Interview führte Jana Hauschild.
Glossar
Kortisol. Das Stresshormon bereitet den Körper auf eine Flucht- oder eine Kampfsituation vor. Das kann sich in Nervosität und Schlafproblemen äußern. Der Körper setzt durch das Hormon Energiereserven frei und fährt dafür andere Prozesse im Körper zurück, etwa das Bedürfnis nach Sexualität.
Östrogen. Das weibliche Geschlechtshormon steuert den Menstruationszyklus.
Oxytozin. Das oft Kuschel- oder Bindungshormon genannte Oxytozin wird beim Sex ausgeschüttet und fördert das Gefühl von Verbundenheit zwischen Partnern. Es stärkt aber auch die Bindung zwischen Mutter und Kind. Das Hormon fördert empathische Reaktionen, mindert Stress, Ängste und Aggressionen.
Progesteron. Das Geschlechtshormon bereitet die Gebärmutter auf eine Schwangerschaft vor und erhält sie aufrecht.
Testosteron. Die Ausschüttung des männlichen Geschlechtshormons lässt in der zweiten Lebenshälfte sowie unter Stress nach. Das kann mit Verstimmungen und schlechterer Schlafqualität einhergehen.
TSH. Das Thyreoidea-stimulierende Hormon, kurz TSH, wirkt auf die Schilddrüse und reguliert so die Bildung der Schilddrüsenhormone. Bei einer Schilddrüsenüberfunktion ist der TSH-Spiegel zu niedrig, bei einer Schilddrüsenunterfunktion erhöht. Ersteres geht oft mit Ängstlichkeit einher, Letzteres eher mit Depressivität.
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