Krieg in der Ukraine: »Mit einem Massenmörder geht man doch auch nicht in die Oper«
Als die russische Armee am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, war das ein Wendepunkt in der Zeitgeschichte. Während Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Land bleiben, sind Millionen andere geflohen. Auch Oleksiy Kolezhuk. Der theoretische Physiker ist nicht nur Professor, er ist auch Vorsitzender des Wissenschaftlichen Ausschusses des Nationalen Rates der Ukraine für die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie. Derzeit arbeitet er an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Was es bedeutet, Forschung und Kollegen von einem Tag auf den anderen zurückzulassen und wie es sich anfühlt, seine Studierenden in den Krieg ziehen zu sehen, erzählt Kolezhuk im Interview. Auch spricht er darüber, wie die internationale Gemeinschaft derzeit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Ukraine unterstützen und bei dem Wiederaufbau der Forschungslandschaft helfen kann.
»Spektrum.de«: Sie arbeiten derzeit von Mainz aus. Was hören Sie von Ihren Studierenden und Kollegen in der Ukraine über die Situation vor Ort?
Oleksiy Kolezhuk: Alles ist schwierig – von der Lehre, bis hin zu Experimenten. Meine Kollegen und ich unterrichten zwar längst online, aber dass die Stromversorgung immer wieder unterbrochen ist, macht selbst das kompliziert. Im Labor wiederum können sie ohne Strom nur bedingt experimentieren. Daten zu speichern und abzurufen ist ohne Computer und Internet ebenfalls unmöglich. In gewisser Weise zeigt der Krieg nicht nur, wie verwundbar die Wissenschaft, sondern auch die moderne Zivilisation ist.
Wissen Sie, wie viele Studierende und Lehrende die Universitäten verlassen haben?
Dank Covid waren viele Universitäten bereits auf Onlineunterricht eingestellt und Studierende haben sich aus verschiedenen Orten zugeschaltet. In Kiew sind die Zahlen auch deshalb stabil. Es geht aber ohnehin weniger um die Zahl an Studierenden und Lehrkräften als um die Qualität der Lehre. Diese hat eindeutig gelitten, und das ist traurig.
Weil Sie den Unterricht immer wieder unterbrechen müssen oder weil es schwer fällt, sich zu konzentrieren?
Beides. Und weil wir nie alle beisammen sind. Wenn man eine Gruppe von 15 Studenten hat, sieht man auf Zoom häufig nur 3 oder 5 Leute. Wir zeichnen die Kurse auf und stellen den Link zur Verfügung, damit später ebenso die teilnehmen können, die gerade einen Luftangriff erleben. Doch es ist schwierig festzustellen, wie viel Wissen bei den Studierenden angekommen ist und ob es gelingt, sie zum Denken und Forschen anzuregen.
Sprechen Sie in Ihrem Unterricht über die Situation?
Wir versuchen, uns auf die Inhalte zu konzentrieren. Fingen wir an, über den Krieg zu reden, würden wir unsere ganze Zeit dafür verwenden. Der Unterricht hilft, bei Verstand zu bleiben und sich in diesen außergewöhnlichen Zeiten noch einigermaßen normal zu fühlen. Das gilt nicht nur für mich, auch für die Studierenden. Der Krieg deprimiert. Es fällt ihnen schwer, sich auf die Stunden einzulassen, aber sie versuchen es zumindest, und das hilft ihnen, mit der Situation klarzukommen.
Kennen Sie Studierende und Wissenschaftler, die ihren Posten aufgegeben haben und zur Armee gegangen sind?
Ja, ich kenne einige Leute. Unter anderem mein Doktorand hat sich freiwillig für das Militär entschieden. Wie Sie vielleicht wissen, werden Studierende und Lehrkräfte bislang nicht einberufen. Er wollte sich jedoch nützlich machen, und das ist er nun. Er ist zum Glück bei einer Spezialeinheit, um Drohnen zu programmieren, und nicht bloß Soldat mit einem Gewehr. Das wäre eine Verschwendung gewesen.
»Ich schäme mich ein bisschen dafür, dass ich hier an einem sicheren Ort bin, während andere leiden«
Haben Sie noch Kontakt?
Ich versuche, über einen sicheren Messenger Kontakt zu halten. Weil das Signal dem Feind die Position verraten könnte und man riskiert, erschossen zu werden, ist es Soldaten aber nur selten erlaubt, ihre Telefone einzuschalten. Das letzte Mal habe ich vor ein paar Tagen von ihm gehört. Ich sah aber, dass er danach nochmal online war.
Wie fühlt es sich an zu wissen, dass andere im Krieg kämpfen?
Das ist eine schwierige Frage, denn ich bin hier in Deutschland in Sicherheit. Ich war zwar schon wegen eines Lehrauftrags im Ausland, als der Krieg begann, trotzdem schäme ich mich ein bisschen dafür, dass ich hier an einem sicheren Ort bin, während andere leiden. Nicht nur die, die zur Armee gegangen sind, sondern auch jene, die nun unter viel härteren Bedingungen überleben müssen.
Vor vielen Jahren haben Sie schon einmal in Deutschland gearbeitet. 2009 kehrten Sie in die Ukraine zurück und wurden Professor. Anfang diesen Jahres gingen Sie in die USA, um dort zu lehren. Dann begann der Krieg, und statt in die Ukraine zurückzureisen, kamen Sie dank der Hilfe ehemaliger Kollegen wieder nach Deutschland. Wie darf ich mir das vorstellen: Man lässt die Forschung in der Ukraine von einem Tag auf den anderen liegen, um sie dann woanders wieder aufzunehmen?
Für mich war es nicht so kompliziert. Die Gruppe in Mainz forscht ziemlich nah an meinem ursprünglichen Fachgebiet. Es geht um Magnetismus. Es arbeiten sogar einige ehemalige Kollegen dort. Entsprechend war es ein ziemlich reibungsloser Übergang, was die Arbeit angeht.
Wer Experimente und Feldforschung betreibt, hat es viel schwerer. Oft arbeitet man dann nicht allein, sondern in einer Gruppe. Jeder hat seine Aufgaben. Wenn das Team nicht mehr an einem Ort ist – was macht man dann? Außerdem braucht es in manchen Fällen bestimmte Gerätschaften, die nicht jedes Labor besitzt. In Kharkiw gab es zum Beispiel eine Versuchsanlage zur Erzeugung von Neutronen. Die ist jetzt zerstört. Das Gerät war einzigartig.
Und wieder andere Experimente sind lange geplant, laufen über bestimmte Zeiträume und basieren auf Wiederholungen.
Genau. Sie zu unterbrechen, bedeutet, von vorne anzufangen. Das muss man dann ja auch erst einmal bezahlt bekommen.
Sie sind ein Philipp-Schwartz-Stipendiat. Mit Hilfe dieses Programms sollen Wissenschaftler, die in ihren Herkunftsländern gefährdet sind, ihre Arbeit an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen fortsetzen können. Weitere Initiativen haben diesen Anspruch. MSCA4Ukraine etwa, Scholars at Risk Europe oder #ScienceForUkraine. Haben ukrainische Wissenschaftler damit genug Möglichkeiten, ihre Forschung fortzuführen?
Viele Programme sind eine große Hilfe. Sie bieten kurzfristig Unterstützung und damit viele Möglichkeiten. Aber es ist unklar, was mit den Leuten passiert, wenn der Krieg andauert. Zahlreiche Projekte sind nicht auf langjährige Förderung ausgelegt.
»Menschen mit einem Embargo zu treffen ist immer noch besser, als sie mit Raketen zu treffen«
Um wie viele Forscherinnen und Forscher geht es?
Es gibt keine offiziellen Zahlen. Die ukrainische Nationalakademie der Wissenschaften geht davon aus, dass bis zu zehn Prozent ihrer Leute ins Ausland gegangen sind. Unterschiedliche unabhängige Befragungen ergeben ähnliche Zahlen, 10 bis 15 Prozent, aber es bleibt eine grobe Schätzung. In absoluten Zahlen soll es dann 5000 bis 10000 Forscher sein, die auswanderten – das sind sehr viele, auch wenn die meisten in der Ukraine bleiben.
Kurz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verhängten unter anderem deutsche Wissenschaftsorganisationen ein Embargo gegen Russland. Das hat spürbare Auswirkungen auf die Forschung. Was halten Sie von der Entscheidung, russische Wissenschaftler auszuschließen?
Es war die einzig richtige. Wir sollten jedoch klar definieren, wen wir mit »russische Wissenschaftler« meinen. Sicherlich nicht diejenigen, die russischer Herkunft sind und etwa in den USA oder in Deutschland arbeiten. Ich spreche von denen, die offiziell mit russischen Instituten verbandelt sind. Ein Wissenschaftsembargo ist wie jedes andere eine valide Kriegsmaßnahme, die darauf abzielt, Russland als Staat zu schwächen. Treffen Sie die russische Wissenschaft, treffen Sie russische Technologie und damit das russische Militär. Sicher, solch ein Embargo bekommen auch unschuldige Menschen zu spüren. Menschen, die Putins Krieg nicht unterstützen. Wie viele das sind, weiß ich nicht. Es ist mir ehrlich gesagt aber auch egal. Denn Menschen mit einem Embargo zu treffen ist immer noch besser, als sie mit Raketen zu treffen.
Man könnte argumentieren, dass die Wissenschaft über der Politik steht, als Vorbild für eine Welt, die von Wissensaustausch lebt, anstatt von Individuen oder Nationen, die für sich selbst kämpfen …
Das ist eine Sicht, die nach dem Zerfall der Sowjetunion sehr beliebt war. Die Ereignisse der vergangenen Monate, gar Jahre zeigen aber sehr deutlich, dass es nicht wahr ist. Wir leben in geopolitisch angespannten Zeiten, es findet eine Polarisierung statt. USA, China, Russland, Europa. Auf gewisse Weise gibt es einen neuen kalten Krieg – möge er kalt bleiben. In solchen Zeiten kann es keine neutrale Schicht der Wissenschaften geben, weil die Wissenschaft eng mit Technologien wie Chips, Software, Hochleistungsmaterialien und so weiter verbunden ist, und immer auch dem Militär zugute kommen kann.
Aber was ist zum Beispiel mit der Impfstoffentwicklung, Feldforschung von Biologen oder Antarktisforschung – also Fachgebieten fernab des Militärs?
Auf den ersten Blick würde es tatsächlich Unterschied machen. Aber eine institutionelle Zusammenarbeit, auch in solchen vermeintlich harmlosen Fachgebieten, wird sofort instrumentalisiert, um ein politisches Zeichen zu setzen, dass Russland vom Westen als Partner doch akzeptiert wird, und es keine echte Isolation, sondern »business as usual« gibt. So wird suggeriert, dass andere Formen der Zusammenarbeit mit Russland ebenfalls akzeptabel sind, etwa Geschäfte mit Gas und Öl. Aber mit einem Massenmörder geht man doch auch nicht in die Oper, um Musik zu genießen, wie harmlos es auch aussehen mag.
»Wissenschaft galt in der Ukraine eher als so etwas wie dekorative Kunst«
Ukrainische und russische Wissenschaftler haben in einigen Bereichen zusammengearbeitet. Wird das wieder möglich sein?
Nicht in absehbarer Zukunft.
Der Krieg dauert an. Wie lange, kann niemand sagen. Nach dem Ende wird es um den Wiederaufbau der Ukraine gehen. In einem Meinungsbeitrag für »Science Business« schrieben Sie: »Vor dem Krieg hatte die ukrainische Wissenschaft unter vielen Problemen zu leiden, während sie gleichzeitig unter dem Radar der Politiker und der Zivilgesellschaft verschwand.« Sie erklären, dass eine Umgestaltung des Systems, eine Transformation, erforderlich ist. Bevor es um das »wie« geht, lassen Sie uns über die Vergangenheit und Ihr Ziel sprechen. Welchen Status hatte Wissenschaft in der Ukraine vor dem Krieg?
Das ist ein großes Thema, ich fasse es möglichst kurz zusammen. Wissenschaft galt in der Ukraine eher als so etwas wie dekorative Kunst. Wie ein Bild, das man an die Wand hängt, weil man das eben tut. Sie wurde nicht als Notwendigkeit für Fortschritt und Innovation gesehen. Doch jetzt im Krieg zeigt sich, wie wichtig die Erkenntnisse der Forschung sind, um zu überleben.
Für gute Forschung in der Ukraine muss sich jedoch einiges ändern. Unser Wissenschaftssystem war mehr oder weniger ein Erbe der Sowjetunion. Ein Großteil der Forschung wurde damals vom Militär finanziert. Man arbeitete fernab der Industrie und ziviler Anwendungen. Mit dem Ende der Sowjetunion hat sich das allerdings nicht geändert, sondern das System wurde vielmehr über Jahrzehnte konserviert. Erst in den vergangenen Jahren hat ein Wandel begonnen. Universitäten, früher hauptsächlich auf Lehre fokussiert, begannen beispielsweise zunehmend Forschungskapazitäten zu entwickeln. Ein neues Instrument zu Finanzierung der Wissenschaft, Nationale Forschungsstiftung, unabhängig sowohl von dem Ministerium als auch von der Akademie der Wissenschaften, wurde gegründet.
Ein weiteres Problem, das Sie in Ihrem Beitrag erwähnen, sind mangelnde Fördermittel.
Das gesamte durchschnittliche Wissenschaftsbudget der Ukraine war vor dem Krieg kleiner als das einer einzelnen großen US-Universität wie Harvard oder Stanford. Manche Menschen in der Ukraine fragen: Wo sind unsere Nobelpreisträger? Da muss ich immer lachen. Es ist so teuer, solche Forschung zu betreiben. Die Leute haben gar keine Vorstellung.
Wie sollte das ukrainische Forschungs- und Innovationssystem also in Zukunft aussehen? Gibt es etwas, für das Sie Deutschland als Vorbild nehmen würden?
Es gibt einige Elemente, die ich mag. Mir gefällt etwa, dass es Institute von Max-Planck, Helmholtz und Fraunhofer gibt, die verschiedene Arten von Forschung betreiben und unterschiedlich finanziert sind. Auch ist es gut, dass man als Forschender an einem Institut beschäftigt sein und gleichzeitig eine Professur innehaben kann oder als Forscher eng mit der Industrie zusammenarbeiten und so gezielt Produkte mit klarem Zweck entwickeln darf. Wichtig ist auch, dass es viele Fördermöglichkeiten in jeder Karrierephase gibt, aus unterschiedlichen Quellen.
»Wir erleben gerade einen Krieg der Technologie, nicht einen Krieg der Menschen mit Gewehren«
In der Ukraine waren diese Bereiche bislang strikt getrennt, das muss sich ändern. Das bedeutet auch, zu evaluieren, welche Arbeitsgruppen sinnvoll sind. Die Ukraine kann es sich nicht leisten, auf allen Gebieten zu forschen, also müssen wir bestehende Exzellenzcluster erhalten, ineffiziente Gruppen auflösen und neue starke Gruppen bilden.
Wie soll das Realität werden?
Es braucht Reformen, krasse Umbrüche und Vertrauen, dass die Ansätze zum Besseren führen werden. Ohne Unterstützung aus dem Ausland wird es nicht gehen, sowohl finanzielle als auch personelle. Gleichzeitig ist es wichtig, dass unsere Politiker das Budget erheblich erhöhen, um die Bedeutung von Wissenschaft zu kräftigen, und sich ukrainische Wissenschaftler aktiv an der Umstrukturierung beteiligen. Dass wir gerade einen Krieg der Technologie, nicht einen Krieg der Menschen mit Gewehren erleben, könnte helfen, diese Botschaft durchzusetzen.
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