Herzlichen Glückwunsch!: Was die Welt im Innersten zusammenhält
Im Rechtschreibduden finden sich zwei Einträge unter dem Stichwort "Quark". Zum einen vermerkt das Nachschlagewerk, dass es sich hierbei um ein aus saurer Milch hergestelltes Nahrungsmittel handelt, zum anderen, dass sich dahinter ein Elementarteilchen verbirgt. Dass der zweite Eintrag inzwischen mehr als nur eine theoretische Vorstellung beschreibt, ist sicherlich mit ein Verdienst des Conseil Européenne pour la Recherche Nucléaire – kurz: CERN.
"Der LHC läutet eine ganz neue Ära der Physik ein", ist sich Robert Aymar sicher. Der Generaldirektor vom CERN kann es kaum erwarten, dass der neue Beschleuniger in Betrieb geht. Er spricht vom Large Hadronen Collider (LHC): Die kreisförmige Materieschleuder soll ab 2007 erste Ergebnisse produzieren. Doch zunächst wird gefeiert – die europäische Forschungseinrichtung in der Nähe von Genf begeht ihr 50-jähriges Bestehen. Aber alles der Reihe nach.
Am 29. September 1954 ratifizierten Vertreter aus zwölf Nationen die Gründungsurkunde des größten europäischen Beschleunigerzentrums: CERN war geboren. Wie vor jeder Geburt, hatte sich der Sprössling zunächst kaum sichtbar, dann aber mit immer deutlicheren Strukturen entwickelt. Bereits im Dezember 1949, also nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, schlug Louis de Broglie, Vater der so genannten Wellenmechanik, vor, Europa solle seine Kräfte zur Erforschung der Teilchenphysik bündeln. Auf einer Sitzung der UNESCO am 15. Februar 1952 beschlossen dann verschiedene europäische Nationen, eine Organisation mit dem Namen Conseil Européenne pour la Recherche Nucléaire zu gründen. Unterstützt wurde diese Idee von so namhaften Physikern wie Niels Bohr, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Max von Laue und Paul Scherrer. 1954 war es dann so weit: Die ersten Bauarbeiten begannen.
Seit dieser Zeit hat sich das Forschungszentrum, dem mittlerweile zwanzig Mitgliedsstaaten angehören, einen Spitzenplatz in der Welt erarbeitet. "Trotz unserer langen Tradition ruhen wir uns nicht auf unsere Lorbeeren aus, sondern blicken nach vorne", sagt Aymar. Das Ziel ist dabei stets gleich geblieben: Die Beantwortung der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält – wie Goethes Faust es ausdrückt. Woraus besteht die Materie? Warum fällt sie nicht auseinander?
Die bisher erreichten wissenschaftlichen wie technologischen Resultate können sich sehen lassen, auch wenn sie vielleicht auf den ersten Blick nicht direkt Antworten auf die Frage liefern. So verdanken wir nicht zuletzt dem CERN das World Wide Web. Um einen schnellen und sicheren Datenaustausch zu gewährleisten, erfand der Physiker Tim Berners-Lee 1989 dort den ersten Browser sowie die html-Sprache und sorgte damit für den unvergleichlichen, weltweiten Siegeszug des Internets. Für diese Tat ist Berners-Lee von der englischen Königin mittlerweile zum Ritter geschlagen worden.
Höchste Ehren wurden auch anderen CERN-Forschern zuteil. Für die Entdeckung der so genannten W- und Z-Bosonen erhielten der Italiener Carlo Rubbia und sein niederländischer Kollege Simon van der Meer 1984 den Nobelpreis für Physik. Die von ihnen gefundenen Teilchen vermitteln die so genannte schwache Wechselwirkung. 1992 setzte Georges Charpak, Franzose polnischer Abstammung, noch einen drauf, als er den begehrten Forscherpreis für die Erfindung eines Nachweisgeräts – der so genannten Drahtkammer – erhielt.
Oft tummeln sich drei, vier oder mehr Nobelpreisträger auf dem Forschungsgelände, um über neueste Ergebnisse zu grübeln oder sie zu interpretieren. Unter ihnen Physiker wie Samuel Ting, der 1976 zusammen mit Burt Richter das aus einem Charm- und einem Anticharm-Quark bestehende J/Psi-Teilchen entdeckte und später am CERN das Team eines großen Nachweisgeräts leitete, oder Jack Steinberger, der zusammen mit Leon Lederman und Mel Schwartz für seine Neutrinoexperimente ausgezeichnet wurde und ebenso ein Experiment am CERN verantwortete.
Doch um den Fragen nach der Natur der Materie nachzugehen, mussten die Teilchenphysiker immer mächtigere Maschinen entwickeln. Am CERN wird dafür der weltweit größte und leistungsstärkste Kreisbeschleuniger gebaut. Der Large Hadronen Collider (LHC) hat einen Umfang von 27 Kilometern und ist im wahrsten Sinne des Wortes grenzüberschreitend: Der Ring verläuft teils auf schweizerischem, teils auf französischem Gebiet. Daher besitzen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom CERN alle eine Art Diplomatenpass, mit dem sie ohne Kontrollen die Grenze passieren können.
Einige Jahre lang wurden am Large Elektron Positron Collider (LEP) im gleichen Tunnel Elektronen auf Positronen – der Antimaterie zu Elektronen – geschossen, um aus den Kollisionen neue Teilchen entstehen zu lassen. Künftig wollen die europäischen Forscher Protonen mit Protonen, Anti-Protonen oder sogar Blei-Ionen zusammenprallen lassen. Das verspricht höhere Energiedichten. Aus derartigen Zusammenstößen erhoffen sich die Physiker weitere Erkenntnisse über den Aufbau der Materie.
Mit dem LHC sind dann Kollisionen von bis zu 14 Billionen Elektronenvolt möglich. Obwohl das – umgerechnet in herkömmlichen Energieeinheiten – nicht viel mehr ist, als wenn zwei Fliegen im Fluge zusammenstoßen, konzentrieren die Beschleunigerspezialisten diese Energie auf so kleinem Raum, dass sie ausreicht, um nach der Einstein’schen Formel E=mc2 neue Materie entstehen zu lassen. In dieser Art Mini-Urknall lassen sich mehr als 14 000 neue Teilchen erzeugen, die so schwer sind wie Protonen.
Doch sind die Experimentatoren an exotischer Materie interessiert, an Mesonen aus Top- oder Bottom-Quarks beispielsweise, die ebenfalls bei solchen Zusammenstößen entstehen – wenngleich wesentlich seltener. Sie erhoffen sich davon neue Erkenntnisse, die über das bisherige Standardmodell hinausgehen. Denn eigentlich sind die Teilchenforscher in einer misslichen Lage: Sie besitzen eine hervorragende Theorie, die alle bekannten Phänomene vorzüglich beschreibt. Doch zugleich wissen sie genau, dass das nicht der Stein der Weisen sein kann. Zu viele Parameter dieses Modells müssen sie als gegeben voraussetzen. Das wurmt Forscher wie Aymar ungemein.
"Mit dem LHC wollen wir zum Beispiel das lang gesuchte Higgs-Boson finden", erklärt der CERN-Chef. Es wird für die Massen aller Elementarteilchen verantwortlich gemacht, eine der bislang ungeklärten Fragen des Standardmodells. Das ist fast wie damals zu Beginn der Chemie, als man die Elemente – man beachte die Gleichartigkeit der Bezeichnungen! – zwar schön in ein Periodensystem sortieren, deren unterschiedliche Schwere aber zunächst nicht deuten konnte. Das gelang erst mit dem Atommodell.
Zugleich suchen die CERN-Physiker nach so genannten supersymmetrischen Teilchen, die von unterschiedlichen, weiterführenden Theorien vorhergesagt werden. Demnach soll es zu jedem Elementarteilchen mit halbzahligem Eigendrehimpuls ein entsprechendes Teilchen mit ganzzahligem Spin geben. Bislang ist jedoch keiner dieser supersymmetrischen Partner gefunden worden, obwohl Optimisten unter den Physikern entgegnen, dass die Hälfte der supersymmetrischen Teilchen ja bereits gefunden sei: Die uns bekannten Objekte nämlich...
Darüber hinaus erwarten die Experimentatoren von den Versuchen beim LHC Hinweise auf noch unbeantwortete Fragen der Kosmologie, zum Beispiel, was es mit der Dunklen Materie oder der Dunklen Energie auf sich hat. Phänomene des Mikro- und des Makrokosmos hängen eng miteinander zusammen, wie Versuche mit bestehenden Beschleunigeranlagen bereits gezeigt haben.
Die Teilchenphysiker am CERN sind zumindest sehr zuversichtlich. Nach ihren Kalkulationen liefert der LHC lang ersehnte Antworten. "Richtig spannend wird es für viele meiner Kollegen aber erst, wenn sich unsere Erwartungen nicht erfüllen", verrät Aymar. Dann dürften die Gesichter der Theoretiker ziemlich lang werden: Sie müssten zurück in ihre Denkerstuben und völlig neue Konzepte entwickeln.
Doch die nächste Generation an Beschleuniger ist bereits angedacht. Es wird ein Linearbeschleuniger in supraleitender Technik sein, an deren Entwicklung viele Physiker des Deutschen Elektronensynchrotrons DESY in Hamburg beteiligt sein werden. Doch auch das CERN schläft nicht. Dort konzipiert man für die Zeit nach dem LHC ebenfalls an einem Linearbeschleuniger namens CLIC. Die Wissenschaftswelt kann also gespannt auf die nächsten Jahre blicken.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.