Streitgespräch: Was haben Glaube und Vernunft gemein?
Frau Professor Drossel, Herr Professor Sommer – gibt es Gott?
Prof. Dr. Barbara Drossel: Ja. Denn was ist die letzte Realität? Was ist das, was absolut, ewig, aus sich heraus existiert, was ist der Urgrund von allem anderen? Dass die letzte Realität eine geistige ist und dass Materie vergänglich ist und von dieser geistigen Realität erschaffen wurde, finde ich jedenfalls plausibler als die gegenteilige Annahme.
Prof. Dr. Volker Sommer: Schon aus begrifflichen Gründen wäre ich skeptisch, mit einem uralten Dualismus der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zu argumentieren. Umgangssprachlich mögen wir »Materie« und »Geist« weiter unterscheiden, aber wissenschaftlich gesehen ist die Lage doch extrem unklar. Wenn wir sagen, Gott sei Geist, haben wir also nichts gewonnen.
Drossel: Viele Wissenschaftler vertreten die Auffassung, die Materie und die Naturgesetze seien die letzte Realität, und es gebe keine Absicht, keine Pläne, keinen Sinn dahinter. Für mich ist Gott mit Konzepten wie Absicht, Sinn oder Plan verbunden. Gott ist also eine Person, hat Bewusstsein, ist jedoch mitnichten an die materielle Welt gebunden.
Sommer: Auf Absicht hindeutende Konzepte wie Zweck, Ziel und Plan sind von uns Menschen gemachte Vorstellungen. Die müssen wir einfach benutzen, weil wir nicht anders denken können. Insofern übertragen wir unsere menschlichen Kategorien auf das, was wir als Realität bezeichnen, und dabei erfinden wir Gott.
Drossel: Die Tatsache, dass wir Pläne, Bewusstsein und Werte haben, weist für mich auf eine größere geistige Realität hin, ebenso wie unsere Sehnsucht nach Ewigkeit.
Sommer: Es sind unsere von der Evolution geprägten Gehirne, die uns in Kategorien wie vorher, heute oder zukünftig denken lassen. Zu meinen, die Wirklichkeit an sich müsse so sein, halte ich nicht für zwingend, auch wenn ich die Schönheit dieses Gedankens sehe.
Drossel: Und dennoch trauen Sie Ihrem Verstand so sehr, dass Sie Ihre Schlussfolgerung, wir hätten Gott erfunden, für gültig halten?
Sommer: Da haben Sie Recht, das ist ein Zirkelschluss. Aber zu meinen, nur weil Denken nicht ohne Voraussetzungen auskommt, müsse es Gott geben, halte ich nicht für plausibel.
Sind Glaube und Vernunft echte Antagonisten?
Sommer: Nein. Auch wer vernünftig sein will, setzt vieles voraus und glaubt deshalb manches. Der Unterschied zum religiösen Glauben liegt darin, dass rationaler Glaube sich darüber freut, prinzipiell hinterfragbar und revidierbar zu sein.
Was wären denn Glaubenssätze der Naturwissenschaft?
Sommer: Ob die Naturwissenschaft auf Glaubenssätzen beruht, sei dahingestellt. Aber zumindest haben die Forscher, die sie vorantreiben, für gewöhnlich welche. Zum Beispiel den Glauben daran, dass etwas existiert. Wenn wir ehrlich sind, sind wir darauf angewiesen, das einfach so anzunehmen.
Kann man überhaupt ohne solche Annahmen auskommen, wenn man die Welt verstehen will?
Sommer: Ich hoffe, dass die Mathematiker das können, doch diesbezüglich bin ich kompletter Laie. Jedenfalls, wenn ich einräume, dass auch in den Wissenschaften geglaubt wird, ist das doch etwas gänzlich anderes als die einander wild widersprechenden Formen religiösen Glaubens.
Fallen Naturwissenschaft und Religion also komplett auseinander?
Sommer: Historisch gesehen nicht, weil viele Pioniere der Wissenschaft die Natur untersuchten, um ihr religiöses System zu stützen, sprich: die Gedanken Gottes zu erkennen. Aber heute brauchen wir meines Erachtens die Gotteshypothese nicht mehr und sollten sie aufgeben.
Drossel: Es gibt Fragen, für die die Naturwissenschaft zuständig ist, zum Beispiel: Wie funktioniert die Welt, welchen mathematischen Gesetzmäßigkeiten unterliegt sie, was sind die Regelmäßigkeiten, was sind die Ketten von Ursache und Wirkung? Und es gibt Metafragen, für die die Wissenschaft grundsätzlich nicht zuständig ist. Das sind etwa solche: Wollte jemand diese Welt, hat jemand sie sich ausgedacht? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es einen Plan, gibt es eine Antwort auf das Leid in der Welt? Diese legitimen Fragen können weder die Physik noch die Biologie beantworten. Die Menschheit ist ja nicht weniger religiös geworden durch den Fortgang der Wissenschaft, eher im Gegenteil. Der Grund dafür ist meines Erachtens, dass die wichtigen Lebensfragen von der Wissenschaft nicht beantwortet werden.
Könnte man sagen, die echte Naturwissenschaft sei reine Empirie, also das Erkennen und Verstehen der Welt, indem man sie beobachtet – während Religionen von einer transzendenten, nicht versteh- und hinterfragbaren Wirklichkeit ausgehen?
Drossel: Reine Empirie gibt es nicht. Die Wissenschaftsphilosophen sagen, dass wir immer Vorannahmen machen müssen. Zudem legen Daten nicht eine Theorie eindeutig nahe, sondern lassen Raum für Interpretationen. Naturwissenschaftler formen aus empirischen Daten Theorien, die sie plausibel finden, aber letztlich ist das immer eine Induktion, die über das hinausgeht, was man streng logisch aus den Daten folgern muss. Nur in der Mathematik arbeitet man strikt deduktiv.
Sommer: In der Tat, es wird zwar oft gesagt, die Daten sprächen für sich selbst. Doch das tun sie eben nicht. Wir brauchen Hermeneutik, um nackte Information in für uns verständliche Form umzusetzen. Dabei entstehen wissenschaftliche Narrative. Die sind wiederum abhängig von sozioökonomischen Verhältnissen, vom Geschlecht, vom politisch gerade Akzeptablen und so weiter. Insofern ist Wissenschaft nicht objektiv.
Drossel: In Bezug auf die Physik sehe ich das differenzierter. Die Formeln, die wir benutzen, um physikalische Phänomene zu beschreiben, sind ein Stück weit zeitlos. Was sich ändert, sind die Weltbilder, die wir um unsere Theorien herum bauen. Nach Newton herrschte das deterministisch-mechanistische Weltbild vor, wonach alles, was in der Welt passiert, durch irgendwelche Kräfte bestimmt wird, die die Objekte bewegen. Damit hatte man ein kausal geschlossenes Weltbild, in dem alles durch die Physik bestimmt wurde. Auf die Theorien setzen also wissenschaftliche Narrative auf, die über die strikte Verifizierbarkeit hinausgehen und die ich heute überall sehe – gerade im populärwissenschaftlichen Bereich.
Was genau verstehen Sie unter einem wissenschaftlichen Narrativ?
Drossel: Um die Quantenphysik etwa rankt sich öfter die Erzählung, dass alles nur noch subjektiv und vom Beobachter abhängig sei und es überhaupt keine objektive Wirklichkeit mehr gebe. Oder nehmen Sie das Paradigma, die fundamentalen Teilchen und ihre Wechselwirkungen würden alles beschreiben und bestimmen, was in der Welt passiert. Oder der Gedanke, dass die Geschichte des Universums wie auch die Evolution blind und zufallsbestimmt ablaufen. Das sind alles toll klingende Narrative.
Der amerikanische Stringtheoretiker Leonard Susskind schlägt vor, wir sollten den Begriff »Realität« abschaffen und durch »Reproduzierbarkeit« ersetzen.
Drossel: Ich meine, es gibt eine objektive Realität, und unsere Theorien versuchen, sich ihr anzunähern. Manche setzen die Quantenphysik derart absolut, dass sie die absurdesten Schlussfolgerungen akzeptieren, nur weil diese aus den Formeln ableitbar sind – die Vielweltentheorie zum Beispiel. Die Quantenphysik hat aber ihre Gültigkeitsgrenzen, und nur wer das verkennt, kommt an den Punkt, die objektive Realität abschaffen zu wollen. Ich bin dazu nicht bereit.
Wie viel Vernunft steckt in der Religion?
Drossel: Aus meiner Sicht viel. Ich finde interessant, wie die Schreiber der Bibel argumentiert haben, dass es gute Gründe für den Glauben gibt – zum Beispiel der Apostel Paulus, als er versucht, die Korinther von der Auferstehung zu überzeugen.
Sommer: Da möchte ich widersprechen. Denken Sie an hinduistische Götter mit vier Armen und Köpfen – dass man die zu groben Himmelsrichtungen in Bezug setzen kann, ist doch genauso wenig eine Übung in Rationalität wie die paulinische Behauptung, von einem verschwundenen Leichnam auf die Auferstehung zu schließen. Für mich wird Religion geradezu ad absurdum geführt, wenn man sie als vernünftig verkaufen will. Denn es geht ja gerade um die Unvernunft, um das Irrationale. Das ist ja das Schöne an religiösen Ausdrucksformen, dass man darin so viel wunderbaren Unsinn wiederfindet, die Visionen, die Ekstasen, die Träume, das Grenzenlose.
Drossel: Ich benutze auch in Glaubensdingen meinen Verstand.
Sommer: Dann sind Sie nicht religiös, sondern nur nicht bereit, die Gotteshypothese aufzugeben. Was ist mit Gläubigen, die Voodoo praktizieren oder Genitalien verstümmeln, um Götter zu beschwichtigen? Irren die sich, und nur Christen kennen die Wahrheit? Ich meine: Wer seinen Verstand gebraucht, wird stetig weniger religiös. Das führt die protestantische Kirche Deutschlands vor Augen, die pietistisch-evangelikale Praktiken immer mehr aufgegeben hat zu Gunsten aufgeklärten Denkens.
Meinen Sie, dass vernünftig denkende Wissenschaftler gar nicht darum herumkommen, Atheisten zu sein?
Sommer: Ich bin kein Atheist. Damit würde ich der Gotteshypothese unnötig Gewicht verleihen, weil ich mich ja aus Opposition zu einem scheinbaren Argument definieren würde.
In dem Sinn wäre Atheismus selbst ein Glaube?
Sommer: Nein, aber er räumt der Gotteshypothese zu viel Kredit ein.
Das heißt, Sie halten sich aus der Frage heraus?
Sommer: Bestenfalls würde ich mich als Agnostiker bezeichnen, nach Griechisch »ágnōstos«, nicht erkennbar. Allerdings nicht in dem Sinn, dass Gottes Existenz weder beweisbar noch widerlegbar ist. Sondern dahingehend, dass Fragen für oder gegen die Existenz von übernatürlichen Wesen nicht in wissenschaftliche Diskurse gehören. Ich würde mir auch das Etikett »Naturalist« ankleben.
Wie beurteilen Sie Wissenschaftler wie Richard Dawkins, die quasi für den Atheismus werben?
Sommer: Den Grundgedanken finde ich lobenswert, einschließlich der Theorie, religiöse Vorstellungen könnten zu Viren werden, so genannten Memen, die sich in unseren Gehirnen als Parasiten einnisten. Dawkins jedoch liegt falsch, wenn er meint, Religion sei stets maladaptiv gewesen, also schädlich für ihre Träger. Das Gegenteil trifft zu: Menschen sind von Natur aus religiös. Denn Glaubensmuster sind sozial wirksam, schaffen Identität und Vertrauen innerhalb der eigenen Gruppe. Das macht Kooperation effektiver, wenn wir mit andersgläubigen Nachbarn um Ressourcen konkurrieren, eben bis hin zu Kriegen.
Hängt Religion beim Menschen nicht vielleicht mit unserem selbstreflexiven Bewusstsein zusammen – etwa mit der Erkenntnis, sterben zu müssen?
Sommer: Das ist mir als Erklärung zu singulär. Für mich spiegelt sich Religion bereits in Verhalten wider, für das es keinen praktischen Grund gibt – und das ist nicht auf Menschen beschränkt. Mancherorts etwa meiden Schimpansen geradezu panisch die Berührung mit Wasser, während ihre Artgenossen anderswo in Teichen baden. Die von mir untersuchten Schimpansen in Nigeria wiederum verzehren regelmäßig Ameisen, aber nie Termiten, während es bei denen in Ostafrika genau umgekehrt ist – die essen Termiten, aber nie Ameisen. Wären es Menschen, würden wir ihnen ein Wasser- oder Nahrungstabu zuschreiben. Ich vermute, solche kulturellen Variationen signalisieren Zugehörigkeit zu einer lokalen Gruppe. Das stärkt die Binnenmoral, wenn, was bei Schimpansen regelmäßig vorkommt, mit Nachbarn blutige Verteilungskämpfe ausgefochten werden. Darin sehe ich einen adaptiven Vorteil der Religion.
Gibt es bei Menschenaffen auch Hinweise auf rituelles Verhalten und ein Todesbewusstsein?
Sommer: Die Tabus bei Schimpansen sind ja schon so etwas wie Rituale, eben Verhalten, bei dem die Form wichtig ist und nicht eine praktische Funktion. Ein anderes Beispiel liefern Japanmakaken. In einigen Gebieten, aber eben nicht überall tragen diese Affen Kieselsteine mit sich herum. Die schlagen sie klackernd aneinander, tun aber sonst nichts damit. Auch das ist Verhalten ohne praktische Nutzanwendung und hat damit den Charakter eines Rituals.
Drossel: Ich möchte anmerken, dass es noch nichts über den Wahrheitsgehalt von Religionen aussagt, wenn man eine These dazu hat, wie sie historisch entstanden sind. Reduziert man Religion auf den Nutzen für die Gesellschaft, wird man ihr nur zum Teil gerecht. Für mich bedeutet Religion, dass ich für etwas lebe, was größer ist als ich selbst – nicht nur für die Gesellschaft, sondern für etwas, das den Rahmen unserer Welt und unserer Zeit sprengt. Gläubige Menschen tun oft Dinge, die dem Überleben überhaupt nicht dienlich sind, indem sie sich beispielsweise für andere opfern.
Ein solches extrem altruistisches Verhalten oder auch die tiefe menschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit – sind das Hinweise darauf, dass es mehr geben muss als die uns zugängliche Realität?
Sommer: Mein scheinbarer Altruismus, ob religiös motiviert oder nicht, ist fast immer verkappter Egoismus, weil er indirekt meinen Verwandten zugutekommt. Dass wir außerdem über den Osterhasen, den Weihnachtsmann oder die Wiedergeburt einen Diskurs führen können, ist keinerlei Beleg für deren Existenz.
Drossel: Man kann doch sinnvoll darüber diskutieren, ob die Existenz dieser Dinge plausibel ist!
Sommer: Aber wenn Sie sich dabei auf den auferstandenen Christus kaprizieren, müssen Sie behaupten, dass nur Christen einen offenbarten Zugang zur Wirklichkeit haben. Oder wie ordnen Sie es ein, wenn in präkolumbischen Andenkulturen Kinder geopfert wurden, um Götter zu beschwichtigen?
Drossel: Ich würde sagen, einerseits hatte ihr Glaube manche Ähnlichkeiten mit Dingen, die es auch im christlichen Glauben gibt, einschließlich des Wissens, dass Schuld Sühne verlangt und Leben kosten kann. Andererseits kenne ich Gott als Christin so, dass er keine Kinderopfer will. An dem Punkt haben die Andenkulturen tatsächlich geirrt.
Sommer: Nach meiner Meinung haben Menschen zu verschiedenen Zeiten schlicht unterschiedliche Glaubensinhalte gelebt. Eine universell gültige Unterscheidung von Gut und Böse an Religion zu knüpfen, muss scheitern, weil ja unterschiedlichste gegensätzlichste Moralkodexe entwickelt wurden. Das hat regelmäßig horrende Untaten gerechtfertigt, bei Christen ebenso wie bei Buddhisten und auch bei angeblich nichtreligiösen Ideologien wie Maoismus und Stalinismus. Am Ende geht es immer um Macht.
Drossel: Religion ist eine starke Kraft, die missbraucht werden kann. Aber sie kann auch wunderbare Dinge leisten. Paulus beispielsweise sagte, hier sind nicht Sklaven und nicht Freie, nicht Mann und Frau, sondern wir sind alle eins in Christus. Das ist doch ein starkes Bekenntnis – und es ist ein total wichtiger Gedanke, dass jeder Mensch wertvoll ist.
Sommer: Das hat die Christen nicht davon abgehalten, Juden zu verfolgen.
Drossel: Im Widerspruch zu ihrer eigenen Heiligen Schrift – eine schlimme Verirrung. Im Römerbrief heißt es doch, Gott liebt sein Volk. Jesus zufolge lautet das höchste Gebot, du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist eine zentrale biblische Aussage.
Sommer: Mit genau dem Liebe-Argument sind die Katharer ausgerottet worden. Es hieß, diese Häretiker liefen Gefahr, auf ewig in der Hölle zu schmoren. Deshalb müsse man sie schnellstmöglich umbringen, damit wenigstens einige noch in den Himmel kommen.
Drossel: Man kann alles missbrauchen. Aber ein wichtiges Gebot der jüdisch-christlichen Tradition lautet, du sollst nicht töten.
Sommer: Das bezieht sich nur auf die Binnengruppe. Die anderen sind damit nicht gemeint. De facto wird überall getötet, im Namen von Religionen genauso wie im Namen politischer Ideologien.
Angenommen, es gebe ein letztes Prinzip. Glauben dann alle Religionen im Grunde an dieses eine?
Drossel: Es gibt durchaus wichtige Unterschiede zwischen den Religionen, zum Beispiel in der Frage, wie Gott ist. Doch sie haben einiges gemeinsam in dem Sinn, dass sie glauben, die letzte Realität sei geistig – etwas, was mit persönlichen Attributen assoziiert ist. Man kann, entsprechend der mittelalterlichen scholastischen Tradition, nichts Größeres denken als Gott.
Sommer: Was soll Geist sein? Schon im Englischen gibt es den Begriff so nicht, während im Deutschen von geistigen Fähigkeiten gesprochen wird, von Geisteswissenschaften, vom Weltgeist. Was wird damit suggeriert? Verstand, Nichtmaterielles, Bewusstsein? Das sind problematische Begriffe, zumal wenn sie als Grundlage dienen sollen, um auf einen Schöpfer zu schließen.
Drossel: Aber wenn Materie nicht ewig ist, muss sie von etwas anderem in Existenz gerufen worden sein.
Sommer: Ich brauche solche Fragen nicht, um ein erfülltes Leben zu führen.
Drossel: Und was tun Sie, wenn Ihnen genommen wird, was Ihnen Lebenserfüllung gibt? Das Großartige am Glauben ist für mich, dass der Lebenssinn tiefer geht als die Dinge, die ich selbst in das Leben hineinlege.
Sommer: Mein Dasein hat keinen tieferen Sinn – so sehe ich das, und es gibt mir ein freies Gefühl von Zugehörigkeit zu genau dieser Zeit, in die ich zufällig hineingeboren wurde und die ich mit anderen teile, hoffentlich einigermaßen verantwortungsvoll.
Drossel: Für mich war die Sinnfrage der Anlass, zum Glauben zu finden.
Sommer: Das nehme ich ja auch ernst. Gewiss schöpfen viele religiöse Menschen aus ihrem Glauben Kraft und Halt und leben damit subjektiv besser. Aber andere sind gottlos glücklich und teilen meine Sicht, dass wir mit dem Tod erlöschen und dass danach nichts mehr ist.
Drossel: Wäre das nicht furchtbar ungerecht? Manche haben sehr viel Leid ertragen, andere viel Leid verursacht, und das soll dann einfach alles weggewischt sein? Kein Ausgleich, keine Antwort, keine Auflösung? Da finde ich die biblische Verheißung »Gott wird abwischen alle Tränen« viel stimmiger.
Brauchen wir Religion, um moralisch zu sein?
Drossel: Die Tatsache, dass wir moralisch sind, weist auf eine Instanz hin. Wir alle haben moralische Maßstäbe, ob wir es wollen oder nicht, und bei bestimmten Dingen sind wir uns einig, dass sie objektiv böse sind. Offenbar gibt es eine uns prägende Instanz, die moralisch ist.
Sommer: Moral konstituiert sich über Normen, die wir übernehmen, ohne selbst darüber nachgedacht zu haben. Denn es wäre viel zu unökonomisch, müssten wir stets alles selbst abwägen. Moral ordnet sich keinen objektiven Kriterien unter, sondern ist zeit- und ortsgebunden. Im hinduistischen Indien galt es als moralisch, dass Witwen sich auf dem Scheiterhaufen des verstorbenen Gatten verbrannten. Vielen Christen und orthodoxen Muslimen gilt es als moralisch, gegenseitig ihre Gotteshäuser zu zerstören oder Homosexuelle und Menschen mit Albinismus zu diskriminieren. Das ist in Afrika an der Tagesordnung. Im Deutschland des 21. Jahrhunderts gilt das weithin als inakzeptabel. Sittliche Normen können einander also fundamental widersprechen. Das beißt sich mit der Annahme, Religionen würden eine gleichsinnige Moral stiften, die auf einen gütigen »Anreger« hindeutet. Ganz im Gegenteil – gepredigte Werte nähren sich aus dem jeweiligen Wir-Verständnis.
Eine letzte Frage: Weisen die Gesetze der Naturwissenschaft den Weg zu einem Schöpfergott?
Drossel: In gewissem Sinn ja. Die Physik wirft Fragen auf, die über sie selbst hinausweisen. Allein dass die Welt rational verstehbar ist, in einer mathematischen Sprache beschrieben werden kann und es Naturgesetze gibt, deutet auf einen rationalen Gesetzgeber hin. Weshalb es Naturgesetze gibt, kann innerhalb einer naturgesetzlich bestimmten Welt nicht beantwortet werden – genauso wenig wie die Frage, warum wir diese Gesetze verstehen können. Für Einstein war die Verständlichkeit des Universums ein großes Rätsel. Ich halte die Antwort für plausibel: Das ist so, weil es einen Gott gibt, der uns erlaubt, seine Gedanken ein Stück weit nachzuvollziehen. Oder nehmen Sie die Feinabstimmung der Naturkonstanten, also das anthropische Prinzip, wonach das Universum offenbar mit der Absicht gemacht wurde, dass Leben darin entsteht. Die Frage nach Gott ist freilich eine Metafrage, keine physikalische.
Sommer: Was gewinnen Sie mit der Annahme, es gebe einen rationalen Schöpfer? Das ist keineswegs eine Antwort, sondern Sie verschieben das Problem damit nur.
Drossel: Sie nehmen also einfach alles so hin, wie es ist, ohne tiefere Erklärung?
Sommer: Ja, ich lebe gut und ohne Sehnsucht nach so genannten tieferen Erklärungen. Nehmen wir das anthropische Prinzip: Woher wollen Sie wissen, dass es nicht Milliarden verschiedener Paralleluniversen gibt und unseres bloß zufällig eines ist, in dem Menschen leben können? Nur weil wir das nicht wissen, den Schluss zu ziehen, es müsse einen planenden Gott geben, tut der Religion keine Ehre. Das ist eine Lückenbüßer-Philosophie.
Drossel: Sie meinen, die Frage nach der letzten Realität sei illegitim?
Sommer: Ich halte die Frage für unnötig, aber vor allem halte ich die Gottesantwort für inhaltslos.
Die Fragen stellten die »Spektrum«-Redakteure Frank Schubert und Carsten Könneker.
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