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Antarktis: Was hinter der extremen Meereis-Anomalie steckt

Dem antarktischen Meereis fehlt eine Fläche so groß wie das Mittelmeer. Welche genaue Rolle Klimawandel und natürliche Schwankungen dabei spielen, ist unklar – und damit auch, wie die Zukunft des Eises aussieht.
Sturm über dem Antarktischen Ozean
Sturm über dem Südpolarmeer. Der Zustand von Atmosphäre und Ozean lässt die Dicke und Ausbreitung des Meereises von Jahr zu Jahr stark schwanken – sogar die Wassertemperaturen in tropischen Gebieten spielen eine Rolle.

Seltsame Dinge spielen sich in der Antarktis ab. Die Meereisanomalie, also der Unterschied zwischen dem Eis, das da ist, und dem, das zu dieser Jahreszeit da sein sollte, wird immer größer. Inzwischen hat die Differenz absurde Werte angenommen. Um mehr als fünf Standardabweichungen sei die Eisfläche derzeit geringer als das langjährige Mittel, rechnete der emeritierte Mathematikprofessor Eliot Jacobson auf Twitter vor. Das bedeutet: Statistisch tritt so ein Wert nur einmal in mehr als sieben Millionen Jahren auf.

Dabei ist es nicht so, dass das Eis gerade schmelzen würde, im Gegenteil. In der Antarktis herrscht tiefster Winter, und jeden Tag gefrieren riesige Flächen des Südozeans. Im historischen Vergleich jedoch wächst das Eis schon seit Beginn des Winters extrem langsam und bedeckt eine weit geringere Fläche als jemals seit Beginn der Aufzeichnungen. Im Vergleich zum langjährigen Mittel fehlen 2,5 Millionen Quadratkilometer Eis, das entspricht der Fläche des Mittelmeers.

Ein wahrscheinlicher Faktor für das extrem langsame Wachstum des Meereises sind die derzeit weltweit ungewöhnlich hohen Ozeantemperaturen. Große Teile des Südlichen Ozeans sind aktuell rund ein Grad wärmer als normal. Das klingt nicht nach viel, die zusätzliche Energie sorgt aber dafür, dass das Wasser langsamer gefriert. Es gibt ein Indiz für diese Vermutung: Die Amundsensee vor der Westantarktis ist die einzige Region, in der das Meereis über seine langjährige mittlere Ausdehnung hinausragt. Dieser Teil des Ozeans ist derzeit etwas kühler als sonst.

Jeden Winter wächst das Eis von den Küsten des gefrorenen Kontinents in den Südozean hinein und erreicht Ende September seine maximale Ausdehnung von durchschnittlich 18,5 Millionen Quadratkilometern. Über den Südsommer hinweg bricht das Eis schnell auf und schrumpft im Februar auf sein Minimum von im Mittel rund drei Millionen Quadratkilometern. Diese Werte schwanken recht stark von Jahr zu Jahr. So übertraf das Meereis im Jahr 2014 die Grenze von 20 Millionen Quadratkilometern, und im Jahr 2011 lag das Minimum bei nur etwa 2,3 Millionen Quadratkilometern.

Das antarktische Meereis ist extrem variabel

Diese Schwankungen haben mehrere Ursachen. Sind die Westwinde um den Kontinent stärker, ziehen sie kaltes Wasser von der Küste weg in den offenen Ozean und das Eis kann sich schneller ausdehnen. Drei große Tiefdruckgebiete, die stabil rund um die Antarktis positioniert sind, können kalte Luft nach Norden oder warme Luft nach Süden führen, und je nachdem, wo das geschieht, in einer Region deutlich weniger, in einer anderen deutlich mehr Meereis entstehen lassen. Schmilzt das Eis im Frühjahr durch so einen Warmlufteinbruch besonders früh, erwärmt die Sonne den Ozean, so dass im Winter darauf das Eis langsamer wächst. Sogar mehrjährige Schwankungen der tropischen Meerestemperaturen und Phänomene wie El Niño prägen dem Meereis ihre Muster auf.

Im Februar 2023 allerdings verblieben vor der Küste der Antarktis nur noch 1,8 Millionen Quadratkilometer eisbedeckter Ozean. Und schon 2022 war ein Rekordjahr im negativen Sinn, als das antarktische Meereis erstmals die Marke von zwei Millionen Quadratkilometern unterschritt. Das erinnert an die Serie von Negativrekorden, die den inzwischen wohl unaufhaltsamen Zusammenbruch des Meereises auf der Nordhalbkugel begleitet.

Die Situation in der Antarktis ist allerdings etwas komplizierter als in der Arktis. Auf der Nordhalbkugel ist das Meereis direkt mit der Erwärmung verbunden und funktioniert als ebenso einfach verständliches wie alarmierendes Sinnbild für die Folgen des Klimawandels in der Region. Das antarktische Meereis dagegen ist für diese Rolle ungeeignet. Der Trend der letzten Jahrzehnte zeigt nämlich, anders als in der Arktis, keineswegs durchgehend nach unten. Vom Beginn der Beobachtungen im Jahr 1978 bis etwa 2015 nahm das Meereis im Mittel sogar zu. Und besonders in den Jahren von 2008 bis 2015 bedeckte das Eis immer wieder weit überdurchschnittlich große Flächen.

Seit 2016 wiederum schwimmt auf dem Südozean fast dauerhaft deutlich zu wenig Meereis – ob das allerdings mit dem Klimawandel zusammenhängt oder mit natürlichen Schwankungen, ist bisher unklar.

Klimawandel oder natürliche Schwankungen?

Möglicherweise kommt beides zusammen. 2021 analysierte ein Team um Clare Eayrs von der New York University Abu Dhabi in »Nature« den Eisverlust seit 2016. Demnach spielten schwache Westwinde und im Frühjahr nach Süden vordringende warme Luft die Hauptrolle, aber auch die langfristige Erwärmung der Ozeane habe dazu beigetragen. »Der jüngste schnelle Rückgang war überwiegend das Ergebnis gleichzeitig auftretender natürlicher Schwankungen, doch die Rolle menschengemachter Klimafaktoren kann nicht beiseitegelassen werden«, heißt es in der Veröffentlichung. Außerdem müssten dringend mehr Daten her.

Weil das Gebiet so abgelegen ist, gibt es erst seit 1978 brauchbare Datenreihen über die Meereisausdehnung. Das macht es schwierig einzuschätzen, wie sich das Eis auf Dauer entwickelt – der Zeitraum ist so kurz, dass man nicht weiß, was langfristiger natürlicher Zyklus und was ungewöhnlicher Trend ist. Das gilt auch für die Schwankungen selbst. Einerseits könnten die starken Ausschläge nach oben und nach unten schlicht eine Eigenheit des von vielen verschiedenen Faktoren beeinflussten Meereises sein. Andererseits könnte sich in den Eisdaten eben doch der Einfluss des Klimawandels abzeichnen – und womöglich drastische Änderungen ankündigen.

Der Klimawandel ist jedenfalls in der Antarktis bereits deutlich spürbar. Gut untersucht ist das beim rapiden Rückzug der Schelfeise und der ins Meer fließenden Riesengletscher der Westantarktis. Wie sich allerdings die globale Erwärmung auf das Meereis auswirkt, ob sie für das Wachsen und Schrumpfen des Eises überhaupt schon eine merkliche Rolle spielt, weiß man im Detail nicht.

Ein möglicher Kipppunkt

Während die Arktis ein von Land umgebener Ozean ist, ist die Situation auf der Südhalbkugel genau umgekehrt. Das Meereis erstreckt sich vom zentralen Kontinent aus in einen immensen Ozean hinein. Meeresströmungen, Wind und die Temperaturen von Luft und Wasser beeinflussen gemeinsam, wie das Meereis wächst und schrumpft. Welche Rolle die einzelnen Faktoren spielen, ist bisher nur unzulänglich bekannt. Das liegt auch daran, dass der Südozean abgelegen, schwer zu erreichen und enorm groß ist. Es gibt vergleichsweise wenig Messdaten aus dem riesigen Meeresgebiet, und Klimamodelle tun sich schwer, die historischen Eisdaten nachzubilden.

Deswegen rätseln Fachleute, was die (zu) kleinen Meereisflächen der Jahre 2022 und 2023 wirklich bedeuten. Eine Hypothese ist, dass auch das antarktische Meereis jetzt zu kippen beginnt: Die bisher das Meereis bestimmenden Faktoren treten hinter die global steigenden Temperaturen zurück, die nun zum wichtigsten Faktor für die weitere Entwicklung werden.

Möglicherweise war die ungewöhnlich große Schwankungsbreite des Meereises zu Beginn dieses Jahrhunderts, die zu überdurchschnittlich hohen Eisausdehnungen führte, bereits Teil dieses Musters. Sie könnten anzeigen, dass der Klimawandel das Meereis nach und nach an einen Kipppunkt bringt: Komplexe Systeme, die vor einem dramatischen Wechsel von einem Zustand zum anderen stehen, zeigen als »critical slowing down« bezeichnete statistische Besonderheiten, die den Übergang ankündigen.

Womöglich sind die sehr niedrigen Eismengen seit 2022 nun der Übergang zu einem Zustand, in dem die Antarktis von viel weniger Meereis umgeben ist. Oder aber das Eis kehrt nach diesen zwei starken Ausschlägen nach unten zum Normalzustand zurück – auch das schließen Fachleute nicht aus. Im Moment ist völlig unklar, was passieren wird.

Folgen für die ganze Welt

Klar ist jedoch, dass ein Übergang zu einem Südozean mit deutlich weniger Meereis im Winter weltweit Auswirkungen hätte. Beim Gefrieren des Ozeans bildet sich nämlich nicht nur Eis. Weil das Salz des Meeres im Kristallgitter des Eises keinen Platz findet, bleibt bei der Entstehung kaltes, salzreiches Wasser zurück, das durch seine Dichte zum Meeresboden sinkt. Dort bildet es das antarktische Bodenwasser, das sich nach Norden ausbreitet. Dieser Prozess der Tiefenwasserbildung ist ein entscheidender Antrieb der thermohalinen Zirkulation – jenes Systems aus Meeresströmungen, das weltweit das Klima beeinflusst.

Bildet sich weniger Meereis, entsteht weniger Tiefenwasser und die globale Zirkulation wird langsamer. Einige der wenigen Datenpunkte aus der Tiefsee vor der Antarktis deuten darauf hin, dass dort schon jetzt weniger kaltes Tiefenwasser entsteht. Und das ist genau das ist, was Klimamodelle für eine wärmere Welt vorhersagen.

Fast überall in der Antarktis zeigen die Simulationen bereits heute den klaren Fingerabdruck des Klimawandels. Dass die globale Erwärmung auch das Meereis beeinflusst, bezweifeln Fachleute nicht. Allerdings entzieht sich der im Jahresrhythmus wachsende und schrumpfende, von Wind und Strömungen getriebene Eisgürtel um den gefrorenen Südkontinent einfachen Interpretationen. Die extrem niedrigen Eisflächen der letzten Jahre sind zwar alarmierend, aber vor allem auch außerordentlich rätselhaft.

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