Interview: »Was ist eigentlich Extremwetter, Herr Sippel?«
Nicht jede heiße Woche ist schon eine außerordentliche Dürre, und auch starke Regenfälle, ja Überschwemmungen hat es immer schon gegeben. Was also unterscheidet einen starken Wolkenbruch von einem extremen Starkregenereignis? Zum Auftakt der Themenwoche »Extremwetter« erklärt der Klimaforscher Sebastian Sippel von der Universität Leipzig, was das Klima mit einem Kleiderschrank gemeinsam hat, weshalb Wetter nach einer Definition extrem sein kann und nach einer anderen nicht, und natürlich, was das alles mit dem Klimawandel zu tun hat.
Herr Sippel, was ist mit dem Begriff »Extremwetter« eigentlich gemeint?
Dazu sollten wir zunächst kurz den Unterschied zwischen Wetter und Klima klären. Klima beschreibt die allgemeine Verteilung einer bestimmten Variablen, beispielsweise eines Wetterparameters wie Temperatur. Dementsprechend beinhaltet Klima auch die Ränder dieser Verteilung: Was ist das Extremste, was wir erwarten können? Die konkrete Realisierung davon ist das Wetter. Man kann sich das vorstellen wie einen Kleiderschrank. Klima ist das, was ich im Kleiderschrank habe, also die gesamte Garderobe. Wetter ist das, was ich an einem bestimmten Tag trage.
Extremwetter wäre dann also der dickste Pulli, das bunteste Shirt oder der längste Schal im Schrank?
Das kommt auf die Parameter und die Grenzwerte an, aber ja, im Grunde schon. Also etwa: der heißeste Tag im Sommer oder der kälteste im Winter. Oder aber ein besonders warmer Oktober im Vergleich zu dem, was im Oktober auf Grund der bisherigen gemessenen Daten erwartbar wäre. Es geht dabei selbstverständlich nicht nur um Temperatur, sondern auch um viele andere Variablen: Niederschlag, Trockenheit und Dürre. Auch Phänomene wie Starkregen, heftige Schneefälle oder extrem große Hagelkörner gehören dazu.
Wo ziehen Fachleute die Grenze zwischen normalem Wetter und Extremwetter?
Das ist eine lange Diskussion, und es gibt in Fachkreisen verschiedene Herangehensweisen. Selbst der Weltklimarat diskutiert das sehr ausführlich. Es gibt kein Richtig und Falsch, sondern verschiedene Ansätze.
Reproduzierbare Definitionen von Extremwetter gibt es doch aber trotzdem, oder?
Ja. Ein möglicher Ansatz arbeitet mit so genannten Quantilen. Dafür wird zunächst eine Referenzperiode von mehreren Jahrzehnten festgelegt. Die Weltorganisation für Meteorologie (WMO) setzt die aktuelle Referenzperiode auf 1990 bis 2020 fest. Die Verteilung innerhalb dieses Zeitraums gilt als Maßstab. Will man dann eine Hitzewelle mit einer 99-Prozent-Quantile bestimmen, nimmt man zum Beispiel alle Julitage zwischen 1990 und 2020 und setzt den Grenzwert der Temperatur so fest, dass 99 Prozent aller Tage kälter sind. Alles, was dann diese 99 Prozent überschreitet, gilt als Extremereignis, in diesem Fall als Hitzewelle.
Inwieweit ist diese Methode wirklich aussagekräftig und vergleichbar? Schließlich beeinflusst die Festlegung der Referenzperiode maßgeblich das Ergebnis. Die aktuelle Referenzperiode der WMO beschreibt eine Zeit, die bereits stark vom menschengemachten Klimawandel geprägt ist.
Das stimmt. Deswegen definieren viele Klimatologen die Referenzperiode für ihre Modelle etwas früher, beispielsweise zwischen 1950 und 1980. Und im Vergleich mit dieser früheren Referenzperiode, während der ja große Teile unserer Infrastruktur gebaut wurden, sehen wir sehr deutlich, wie beispielsweise Hitzewellen und Starkniederschläge zunehmen.
Was tut sich gerade in der Forschung zu Extremwetterereignissen?
Seit einigen Jahren beschäftigt sich die Forschung immer intensiver mit so genannten »compound extreme events«, also Situationen, in denen zwei oder mehrere Variablen zu einer speziellen und extremen meteorologischen Situation führen. Ein klassisches Beispiel ist das gemeinsame Auftreten von Hitze und Dürre. Das kann verstärkt zu Waldbränden führen, weil sich durch die fehlende Feuchtigkeit im Boden, die normalerweise durch einen Verdunstungsstrom kühlen würde, Hitze und Dürre gegenseitig verstärken.
War das Hochwasser im Ahrtal 2021 ein solch besonderes Ereignis?
Sicherlich haben mehrere Faktoren dazu beigetragen, dass aus dem Starkniederschlag eine Katastrophe mit gewaltigen Schäden geworden ist. Dazu gehört auch Versagen von Warnsystemen und Behörden. Doch das Wetter war definitiv extrem. Zu einem schon feuchten Frühjahr mit wassergesättigten Böden kam der extreme Niederschlag. Dieser konnte dann ungehindert und schnell in steilen Mittelgebirgshanglagen abfließen.
Wieso wirkt der Klimawandel auf Starkniederschlag?
Bei Niederschlägen gilt die Clausius-Clapeyron-Gleichung: Je wärmer die Luft, desto mehr Wasser kann sie enthalten und desto mehr Regen kann – bei entsprechender Wetterlage – fallen. Laut Theorie können pro Grad Celsius Temperaturanstieg bis zu sieben Prozent mehr Niederschlag fallen. Wärmere Luft kann also mehr Wasserdampf aufnehmen, und damit hat die Atmosphäre auch einen höheren Wasserbedarf. Dementsprechend nehmen die Verdunstung und die Bodentrockenheit zu. Dieser Kreislauf wird sich in den nächsten Jahren bei uns vermutlich verstärken.
Themenwoche: Extremwetter
Starkregen, Hitze, Trockenheit – weltweit richtet Extremwetter aller Art immer größere Schäden an. Auch in Deutschland macht der Klimawandel das Wetter seltsam und gefährlich. Doch ab wann ist eine Dürre oder ein Regenguss mehr als nur eine Wetterkapriole? Was macht Extremwetter aus? Womit müssen wir in Zukunft rechnen? Und vor allem: Wie gehen wir mit der neuen Realität um – weltweit und bei uns?
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Mehr über Wetterextreme, ihre Ursachen, Folgen und wie sie mit dem Klimawandel zusammenhängen, finden Sie auf unserer Themenseite »Extremwetter«.
Neun der zehn heißesten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnung 1881 wurden nach 2002 gemessen. Nur ein Beispiel dafür, dass die Klimakrise Extremwetterereignisse begünstigt und verstärken kann. Sind denn alle Extremwetterarten gleichermaßen betroffen?
Ich denke, hier bei uns in Deutschland werden vor allem extreme Hitze, Starkniederschläge und Trockenheit häufiger und intensiver. Extrem kalte Winter hingegen werden in den meisten Klimamodellierungen seltener und schwächer. Wobei ich mit Kolleginnen und Kollegen gerade an einer Studie gearbeitet habe, die zeigt, dass wir auch im derzeitigen vom Klimawandel beeinflussten Klima extreme Niedrigtemperaturen im Winter bekommen können.
Sie spielen auf das Konzept der Klimavariabilität an.
Genau. Das kommt in den Debatten oft zu kurz.
Klimavariabilität
Ein Blick aus dem Fenster genügt, um zu wissen: Das Wetter ändert sich von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr. Es ist mal wärmer oder kälter, mal nasser oder windiger als im langjährigen Durchschnitt. Das Wetter ist charakterisiert durch Parameter wie Temperatur, Wind, Niederschlag, Luftfeuchtigkeit, Wolkenbedeckung und andere Merkmale. Den langjährigen Durchschnitt des Wetters wiederum, einschließlich aller Extremwerte, bezeichnet man als Klima und die Schwankungsbreite um den statistischen Mittelwert als Klimavariabilität. Die Schwankungen sind meist eine innere Eigenschaft des Klimasystems wie etwa der Unterschied zwischen Sommer und Winter. Sie können aber auch durch natürliche externe Faktoren wie veränderte Sonneneinstrahlung oder Vulkanausbrüche entstehen – und sie können vom Menschen verursacht werden. Zum Beispiel, weil wir Feuchtgebiete entwässern, Wälder abholzen und Flächen versiegeln und damit lokal Einfluss auf das Wetter nehmen.
Die Klimavariabilität erfasst die Häufigkeit von Extremwetterereignissen und bestimmt darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass neue Temperatur- oder Niederschlagsrekorde auftreten. Denn solche Extremereignisse haben vorhersagbare statistische Eigenschaften: Je stärker ein Wert vom langjährigen Mittelwert abweicht, desto seltener ist er. Und jeder neue Rekordwert ist noch seltener als der vorherige. Dadurch dauert es mit der Zeit immer länger, bis ein Rekord wieder übertroffen wird. Auf diese Weise lässt sich anhand der Klimavariabilität ein langfristiger Klimawandel erkennen. Rekordmarken bei Temperatur oder Niederschlag sind plötzlich viel häufiger, als sie statistisch sein sollten. Umgekehrt bedeutet das, dass mit dem Klimawandel automatisch immer mehr nie zuvor gesehene Wetterextreme auftreten.
Was steckt hinter dem Konzept?
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären: Seit den 1930er Jahren lag der Temperaturrekord in Kanada bei 45,0 Grad Celsius. Bis zu einer Hitzewelle im Sommer 2021. Ende Juni wurden im Süden des Landes plötzlich 49,6 Grad Celsius gemessen. Ein fast 100 Jahre alter Rekord wurde also nicht nur knapp gebrochen, sondern deutlich überboten. Das ist zwar ziemlich ungewöhnlich, kann aber passieren. Einerseits, weil die meteorologische Konstellation, die zu diesen Temperaturen geführt hat, im bisherigen Messzeitraum vielleicht einfach nicht aufgetreten ist. Andererseits kommt der starke Hitzetrend der letzten 20, 30 Jahre hinzu. Beides zusammen führte zu Rekordhitze. Wie stark Klimawandel und Klimavariabilität auf konkrete Wettersituationen einwirken, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Trocken- oder Hitzeperioden könnten also auch ohne den Klimawandel stattfinden; dieser macht das extreme Wetter allerdings häufiger und intensiver.
Haben die Wettervorhersagen dieses Extremereignis, das es ja so in Kanada noch nie gegeben hat, prophezeit?
Ja, und zwar mehrere Tage vorher und sehr akkurat. Die physikalischen Prozesse hinter dieser Wetterkonstellation wurden also verstanden. Zum Glück. Denn so konnten Städte wie Seattle oder Vancouver rechtzeitig klimatisierte Turnhallen für Menschen bereitstellen.
Selbst wenn es im Fall der kanadischen Rekordhitze oder auch beim Ahrtalhochwasser funktioniert hat – wo stößt die klassische Wettervorhersage derzeit an ihre Grenzen?
Der meteorologische Vorhersagehorizont ist meist auf eine Woche beschränkt. Mit der Steigerung der Computerrechenleistung stieg das in den letzten Jahren minimal an, doch das geht nicht beliebig weiter. Die atmosphärischen Prozesse sind unwahrscheinlich komplex und chaotisch. Eine minimale Unsicherheit in den Anfangsbedingungen, sei es ein Messfehler, eine Ungenauigkeit beim Runden oder schlicht eine Ungewissheit, führt in der Wettermodellierung nach einer Woche oder spätestens zehn Tagen zu extrem unterschiedlichen Vorhersagen. Das grundlegende Klima ist zwar gleich, nicht aber das konkrete Wetter.
Kann maschinelles Lernen diese Unsicherheiten beseitigen?
Die Modellierungen mit Hilfe künstlicher Intelligenz werden immer besser, allerdings sind sie aktuell noch nicht viel besser als klassische physikalische Wettermodelle. Ich denke nicht, dass es in absehbarer Zeit eine Revolution geben wird. Dafür ist die physikalische Wettervorhersage einfach ziemlich gut.
Wie und bis zu welchem Punkt können wir uns als Gesellschaft auf Extremwetterereignisse vorbereiten beziehungsweise daran anpassen?
Aus meiner Sicht ist es wichtig, sehr breit für verschiedene extreme Wetterereignisse zu planen. Paris demonstriert mit Planspielen, was passieren würde, wenn die Stadt in einer – hypothetischen – Hitzewelle in den 2030er Jahren 50 Grad Celsius erreichen würde. Dies ist sicher sehr sinnvoll, obwohl der bisherige Temperaturrekord in Paris aktuell bei etwas mehr als 42 Grad Celsius liegt. Das Entscheidende ist allerdings: Neue Studien zeigen, dass es physikalisch möglich ist, dass dieser Rekord deutlich überboten würde – daher ist es sinnvoll, auch für solche noch nie da gewesenen Ereignisse zu planen. Ähnliches gilt selbstverständlich für Extremniederschläge.
Worauf liegt der Schwerpunkt von Forschung und Entwicklung im Bereich der Meteorologie und Klimawissenschaft?
Da gibt es einiges. Viele Kolleginnen und Kollegen arbeiten an der Frage, wie sich Statistik, maschinelles Lernen und klimaphysikalische Ansätze besser kombinieren lassen, um Vorhersagen von Wetter- und Klimaextremen zu verbessern. Ein paar neue EU-Projekte nehmen sogar einen noch größeren Zeithorizont ins Visier und wollen herausfinden, was wir über die nächsten Jahre hinweg erwarten können.
Wie sieht die Zukunft in Bezug auf Extremwetter aus?
Es wird weiter sehr viel geforscht. Ein zentraler Aspekt dabei ist der Zusammenhang zwischen meteorologischen Extremereignissen und Ökosystemen, Biodiversität sowie zahlreichen Aspekten unserer Gesellschaft, etwa Infrastruktur, Energie- und Gesundheitsversorgung. In einem aktuellen EU-Projekt namens XAIDA entwickeln Kollegen und Kolleginnen und ich außerdem Methoden, die eine Abschätzung so genannter Worst-Case-Szenarien ermöglichen: Wir möchten herausfinden, welches die extremsten meteorologischen Ereignisse sind, die in einer Region vorkommen könnten, und was deren Ursachen sind.
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