Covid-19: Was Kinderärzte über das Kawasaki-Syndrom wissen
Am 7. April berichteten Ärzte aus dem kalifornischen Palo Alto im Journal »Hospital Pediatrics« von einem sechs Monate alten Mädchen mit Fieber, Appetitlosigkeit, Hautausschlag, Schwellungen an Händen und Beinen, Bindehautentzündung und geröteten, rissigen Lippen – allesamt klassische Zeichen des Kawasaki-Syndroms, einer akuten Entzündung der Gefäße, von der fast ausschließlich Kinder betroffen sind. Für die Ärzte war das nichts Neues; das Kawasaki-Syndrom ist zwar selten, aber in der Pädiatrie so etwas wie ein merkwürdiger alter Bekannter. Dieser Fall aber war ungewöhnlich. Denn das Kind zeigte im Röntgenbild der Lunge auch Anzeichen eines leichten Atemweginfekts. Ein Coronatest bestätigte den Verdacht: Das Kind hatte sich mit Sars-CoV-2 infiziert, dem neuen Coronavirus.
Die Ärzte führten die Standardbehandlung für das Kawasaki-Syndrom durch, und dem Mädchen ging es schnell besser, nach 48 Stunden konnte es in die Corona-Quarantäne im Kreis der Familie entlassen werden. Die Ärzte aber beschäftigte der Fall weiter: Sie vermuteten, dass ein Zusammenhang zwischen der Coronainfektion und den Kawasaki-Symptomen vorliegen könnte. Also schrieben sie vorsorglich den Fachartikel, als Hilfestellung für andere Kliniker, die junge Covid-19-Patienten behandeln.
Tatsächlich mehren sich seither Berichte von Kindern mit Kawasaki-ähnlicher Symptomatik bei einer Corona-Infektion. Am 7. Mai erschien im Fachjournal »The Lancet« ein Bericht von Ärzten und anderen Mitarbeitern des Evelina London Children's Hospital, denen binnen zehn Tagen Mitte April »eine beispiellose Gruppierung von acht Kindern« aufgefallen war, die dem Kawasaki-Syndrom und vergleichbaren Krankheitsbildern ähnelten. Normalerweise sehe man ein oder zwei Kinder pro Woche mit solchen Symptomen. Bei zwei der Kinder konnte Sars-CoV-2 nachgewiesen werden, vier weitere hatten nachweislich Kontakt zu einem Infizierten.
30-fach erhöhte Fallzahlen in Italien
Dramatisch liest sich auch das Ergebnis einer Studie, die wenige Tage später, am 13. Mai ebenfalls in »The Lancet« erschien. Darin berichten Ärztinnen und Ärzte vom Krankenhaus Papa Giovanni XXIII in Bergamo von einem »Ausbruch einer schweren Kawasaki-ähnlichen Erkrankung«. Während sie in den vergangenen fünf Jahren nur 19 Kinder mit Kawasaki-Symptomen in ihrer Einrichtung behandelten, waren es plötzlich innerhalb von zwei Monaten zehn Kinder, das entspricht einer Verdreißigfachung der relativen Fallzahlen. Acht der Patienten, die zwischen 2 und 16 Jahren alt waren, hatten eine nachgewiesene Infektion mit Sars-CoV-2.
Laut einer Risikobewertung, die das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) am 15. Mai herausgegeben hat, gibt es aktuell 86 Fälle in den USA, 12 in Kanada und in Europa insgesamt etwa 230. Leider waren darunter auch einige Todesfälle, drei in den USA, einer in Frankreich, einer in Großbritannien. Derartige Nachrichten sind beängstigend, besonders für Eltern, die ihre Kinder nun wieder in die Kita oder in die Schule schicken sollen. Ist Covid-19 doch nicht so harmlos für die Kleinen und Kleinsten, wie es bisher dargestellt wurde?
Der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Kardiologie (DGPK) vom November 2019 zufolge (Pdf) ist das Kawasaki-Syndrom eine Entzündung der Blutgefäße, bei der mittelgroße Arterien des ganzen Körpers betroffen sein können, besonders jene, die direkt aus der Hauptschlagader entspringen, wie die Herzkranzgefäße. Welche Ursache hinter dieser Erkrankung steckt, ist bis heute unbekannt. Laut einer verbreiteten Hypothese entsteht sie, wenn das Immunsystem nach einer Infektion überreagiert. Beobachtet wurde das Syndrom in Verbindung mit einer Vielzahl von Erregern, darunter Bakterien, Pilzen und Viren wie etwa Enteroviren, Adenoviren, humane Coronaviren, Parainfluenzaviren und das Epstein-Barr-Virus.
Fieber, Ausschlag, Schwellungen
Einen Labortest gibt es nicht. Mediziner diagnostizieren Kawasaki, indem sie eine Liste von Symptomen abfragen. Das Kind muss mehr als fünf Tage lang fiebern und mindestens vier der folgenden Krankheitszeichen aufweisen: Bindehautentzündung, Ausschlag der Schleimhäute, Ausschlag der Haut, Schwellung oder Rötung der Hände und Füße sowie Schwellung der Hals-Lymphknoten. Sind es weniger als vier, spricht man von einem inkompletten Kawasaki-Syndrom.
80 Prozent der Erkrankungen treten laut der DGPK-Leitlinie bei Kindern unter fünf Jahren auf. Die Häufigkeit schwankt allerdings stark mit dem ethnischen Hintergrund: So fanden Forscher bei einer Überblicksstudie, die sie 2019 im »Korean Journal of Pediatrics« publizierten, dass in Japan im Jahr 2014 von 100 000 Kindern unter fünf Jahren 308 erkrankten, in Südkorea waren es 195. In Europa sind es deutlich weniger: In den Niederlanden erkranken etwa 5,8 und in Deutschland 7,2 von 100 000 Kindern. Der Anteil mit schweren Verläufen mit Schocksyndrom, einer bedrohlichen Absenkung des Blutdrucks, ist nochmal geringer. Die American Heart Association schätzt ihn in einer Überblicksstudie von 2017 im Journal »Circulation« auf sieben Prozent der Erkrankten. Die Sterblichkeit lag in den Jahren 2011 bis 2014 in Deutschland laut der DGPK-Leitlinie bei 2 von 1000 Erkrankten.
Zusammengefasst ist das Kawasaki-Syndrom eine extrem seltene Erkrankung, die noch seltener schwer verläuft und noch viel seltener tödlich. Selbst wenn ihre Häufigkeit, wie in Bergamo, um den Faktor 30 zunimmt, ist die Zahl erkrankter Kinder immer noch sehr gering.
Erhöhte Aufmerksamkeit bei Fachgesellschaften
»Dass sich die Häufigkeit der Kawasaki-Erkrankung während der Corona-Pandemie überhaupt erhöht hat, ist noch nicht sicher«, sagt Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. »In Deutschland erwarten wir pro Jahr 430 bis 500 Kinder unter fünf Jahren mit Kawasaki«, sagt Krägeloh-Mann. »Aktuell wissen wir von zehn Fällen.«
Trotzdem seien die Fachgesellschaften aktuell »hyperalert«. So sammle die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie in ihrem Register für Covid-19-Patienten nun alle Kawasaki-artigen Erkrankungen, ob mit oder ohne nachgewiesenem Covid-19-Virus. Das ist wichtig, denn eine Covid-19-Infektion konnte bisher nicht bei allen Kawasaki-ähnlichen Fällen bestätigt werden.
Außerdem haben viele der aktuellen Fälle ein inkomplettes Kawasaki-Syndrom. Laut dem ECDC hatten die meisten Kinder »eine Mischung aus Anzeichen für die Kawasaki-Krankheit und Schocksyndrom«. Die Kinder in den aktuellen Fallhäufungen scheinen tendenziell auch etwas älter zu sein. In der Studie aus Bergamo lag der Altersdurchschnitt zum Beispiel bei 7,5 Jahren. Und es gibt Hinweise darauf, dass schwere Verläufe mit Herz-Kreislauf-Problemen häufiger auftreten als beim klassischen Kawasaki-Syndrom. In seiner Covid-19-Risikobewertung vom 15. Mai spricht das ECDC wohl auch deshalb nicht vom Kawasaki-Syndrom, sondern von einem »Pädiatrischen entzündlichen Multisystem-Syndrom, das zeitlich mit einer Sars-CoV-2-Infektion assoziiert ist«, kurz: PIMS-TS.
Etablierte Kawasaki-Behandlung schlägt meist gut an
Widerlegt ist ein Zusammenhang zwischen Covid-19 und der Häufung von Kawasaki-ähnlichen Fällen damit nicht. »Da die Erkrankung meist im Schlepptau von Infektionskrankheiten auftritt, ist es plausibel, dass im Rahmen einer Pandemie auch solche Sekundärerkrankungen häufiger auftreten«, sagt Krägeloh-Mann. Auch dass Covid-19 bekanntermaßen eine Immunüberreaktion auslösen kann, passe zu der Hypothese. Und da es zumindest Hinweise darauf gibt, dass bei den aktuellen Ballungen schwere Verläufe mit Herzproblemen häufiger auftreten als beim klassischen Kawasaki-Syndrom, ist eine frühe Erkennung von Kawasaki-ähnlichen Symptomen so oder so sinnvoll.
Grund zur Sorge gibt es dennoch nicht. Nur bei den wenigsten Kindern, die mit Sars-CoV-2 infiziert sind, zeigen sich nennenswerte Krankheitszeichen, und der Anteil der Infizierten mit Kawasaki-ähnlichen Symptomen ist nochmal geringer. Mit Stand vom 20. Mai entfallen laut Robert Koch-Institut 3405 oder 1,9 Prozent aller deutschlandweiten Covid-19-Fälle auf Kinder unter zehn Jahren. Der Anteil jener mit Kawasaki-ähnlichen Symptomen liegt nach aktuellem Stand bei etwa 0,3 Prozent (10 von 3405). Wichtiger noch: Es gibt anders als bei Covid-19 eine etablierte Therapie. Die Kinder werden mit Immunglobulinen, Kortison sowie Aspirin behandelt, was meist gut anschlägt. »Von einer generellen Gefährdung der Kinder kann aktuell nicht gesprochen werden«, schreibt denn auch die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) in einer Stellungnahme vom 6. Mai. »Die absoluten Fallzahlen sind sehr gering und sollen daher zu keiner generellen Sorge der Eltern führen.«
Das sieht Krägeloh-Mann ähnlich: »Dass solche Syndrome im Verlauf von Viruserkrankungen auftreten, ist schon lange bekannt.« Und die Nähe von PIMS-TS zum Kawasaki-Syndrom spreche dafür, dass auch die wenigen Fälle, die aktuell auftreten, gut behandelbar sind.
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