Direkt zum Inhalt

Gletscher: Was löste gigantische Eisstürze aus?

Im Sommer 2016 kollabierten plötzlich zwei tibetische Gletscher und rasten als Lawinen zu Tal - trotz sehr flacher Hänge. Nun scheinen die Ursachen geklärt.
Eislawinen in Tibet

Im Juli 2016 ereignete sich in der Aru-Kette in Tibet eine eigentlich unfassbare Katastrophe: Auf einen Schlag kollabierte ein Gletscher, gewaltige Eismassen rauschten zu Tal und begruben neun Menschen unter sich. Mit 68 Millionen Kubikmeter Eis gehörte sie zu einer der größten Lawinen, die je registriert worden waren. Übertroffen wird sie nur von einem Eisabbruch am Kolka-Gletscher im Kaukasus, bei dem 2002 mehr als 130 Millionen Kubikmeter Eis abbrachen, und einem zweiten Ereignis nur wenig südlich in der Aru-Kette, bei dem im September 2016 noch mal mehr als 80 Millionen Kubikmeter abgingen. Satellitenbilder zeigen deutlich, wie groß die betroffene Fläche war. Die Lawinen überraschten Glaziologen völlig: Schließlich liegt die Region im Permafrostbereich, weshalb Schmelzwasser als Gleitmittel eigentlich ausgeschlossen wurde. Und das Gelände galt als nicht geeignet, um derartige Eisstürze zu begünstigen. Die Hangneigung liegt im betroffenen Gebiet bei nur 5 bis 6 Grad und ist damit sehr flach. Auch ein Erdbeben konnte als Auslöser ausgeschlossen werden.

Andreas Kääb von der Universität Oslo und sein Team konnten die beiden Megalawinen daher nicht mit herkömmlichen Modellen aufklären, wie sie in "Nature Geoscience" schreiben. Deshalb analysierten sie die Wetterdaten von Messstationen in der Aru-Kette und von Satelliten aus den Monaten vor der Katastrophe – und erlebten die nächste Überraschung. Denn ein gemeinsamer Auslöser beider Ereignisse existierte schlicht nicht. Doch beide weisen Gemeinsamkeiten auf. Die zwei kollabierten Gletscherzungen lagen nicht auf felsigem Untergrund, sondern auf feinkörnigem Boden; zudem war ihre Eisoberfläche zum Ende hin stark geneigt.

Auch das wäre wohl nicht zum Problem geworden, wenn nicht auch das Klima 2016 verrückt gespielt hätte: In der Region hatte es über den Sommer hinweg mit rund 200 Millimeter Niederschlag überdurchschnittlich viel geregnet. Dazu war es außergewöhnlich warm, so dass Tauwetter zeitweise bis zum Gipfel einsetzen konnte. Dadurch sickerte mehr Schmelzwasser bis an die Basis der Gletscher, was als Gleitmittel wirkte und zusätzlich das Fundament aus Ton und Schluff schmieriger machte – bis die Gletscherzunge mit Wucht abrutschte und kollabierte. Es war der Höhepunkt einer langfristigen Entwicklung, denn generell waren die Niederschläge und Sommertemperaturen in diesem Teil Tibets während der letzten Jahrzehnte angestiegen. Das hatte die Eiszungen steiler und somit auch instabiler gemacht.

Diese Art des Kollapses sei etwas völlig Unbekanntes für derart flache Täler, warnen die Forscher. Bislang habe man diese für Risikoabschätzungen noch nicht auf dem Schirm gehabt. Angesichts der Erderwärmung könnten daher auch Dörfer und Städte bedroht sein, die bisher als sicher galten. Sollte es zu einem Kollaps kommen, ist die Vorwarnzeit gering: An der Aru-Kette erreichten die Eislawinen Geschwindigkeiten von bis zu 300 Kilometer pro Stunde. Am Kolka-Gletscher schossen sie 13 Kilometer weit talwärts und töteten 120 Menschen in tschetschenischen Flüchtlingscamps, so die "New York Times".

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.