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Einsturz der Carolabrücke: Wo die Schwachpunkte von Spannbetonbrücken sind

Römische Brücken stehen 2000 Jahre – warum nicht unsere? Moderne Techniken machen hunderte Meter lange Brückenspannen möglich. Doch die erstaunlichen Bauwerke sind auch verwundbar.
Blick auf die abgesackte Spanne der Carolabrücke in der Elbe.
Bei Konstruktionen wie der Carolabrücke sind die Stahldrähte des Spannbetons für die Stabilität des Bauwerks entscheidend. Brechen sie, kann die Brücke ihr eigenes Gewicht nicht mehr tragen.

Man könnte auf die Römer neidisch sein. Ihre Bauwerke wie der spektakuläre Pont du Gard in Südfrankreich stehen seit beinahe 2000 Jahren, von Wind und Wetter scheinbar unberührt. Moderne Brücken dagegen bröckeln, rosten und werden sogar instabil, wie eben die Carolabrücke in Dresden. Tatsächlich aber sind moderne Brücken Meisterwerke der Technik, weit jenseits dessen, was sich römische Ingenieure erträumen konnten. Statt aus mehreren massiven Steinbögen bestehen sie aus grazilen, manchmal hunderte Meter messenden Betonspannen, die über Jahrzehnte unzählige Autos, Lastwagen und Eisenbahnen tragen. Der Preis dieser Kombination aus Leichtigkeit und Widerstandskraft: Moderne Brücken sind verwundbar.

Die Carolabrücke in Dresden besteht aus Spannbeton. Eine solche Konstruktion kann beträchtliche Strecken überwinden und benötigt dazu weder stützende Bögen noch eine massive Stahlkonstruktion oder Drahtseile an hohen Pylonen. Lediglich hohle Betonkästen an der Unterseite versteifen das Brückendeck. Das macht sie vergleichsweise preiswert und lässt sie leicht und grazil erscheinen. So auch die Dresdner Carolabrücke, die die Elbe überspannt: Sie besteht aus zwei parallelen Überbauten mit Fahrstreifen für den Autoverkehr und einem weiteren für die Straßenbahn, die auf zwei Betonpfeilern ruhen. Der rund hundert Meter messende Mittelteil dieser dritten Straßenbahnspur stürzte in der Nacht zum 12. September ohne Vorwarnung in die Elbe.

Die entscheidende Komponente des Spannbetons – und wichtigste Schwachstelle der Konstruktion – sind Spanndrähte, die im Beton selbst verbaut sind und ihn unter Spannung halten. Denn während Beton zwar immensen Druck aushält, ist das Material gegenüber Zugkräften vergleichsweise schwach. Weil die Brückenkonstruktion lediglich auf zwei Pfeilern an den beiden Enden ruht, biegt sich der Mittelteil durch. Dabei wird das Material besonders an der Unterseite der Kästen gedehnt, und Beton, selbst mit Stahlarmierungen, würde unter der Zugbelastung einfach durchbrechen. Deswegen zieht man bei dieser Bauweise stark gespannte Stahlseile durch den Beton hindurch. Das Material steht so überall unter Druck, selbst wenn sich der Brückenkörper durchbiegt. Auf diese Art können die fragil erscheinenden Brückenspannen ihr eigenes Gewicht tragen.

Wie eine Spannbetonbrücke entsteht

Die Spanne einer Stahlbetonbrücke baut man ausgehend von den Pfeilern Stück für Stück vorwärts. Die neuen Brückenstücke werden erst gegossen, dann werden die Drähte gespannt, erklärt Mike Schlaich, Professor für Massivbau an der TU Berlin. »Man betoniert immer wieder vier Meter dran, spannt den Draht ein bisschen, dann kommen noch mal vier Meter, dann spannt man wieder und so weiter«, erklärt er. »Oder man gießt alles auf einem Gerüst und lässt leere Rohre für die Drähte drin. Dann fädelt man die Drähte ein, setzt alles auf Spannung und kann das Gerüst wegnehmen.«

In Dresden machte man das aber nicht über die gesamte Länge der Brücke, sondern verwendete eine andere Technik. »Die Brücke hat einen so genannten Gerberträger. Dabei lässt man zwischen den von den Pfeilern ausgehenden Auskragungen eine Lücke, und in die setzt man dann ein vorgefertigtes Brückensegment, eben den Gerberträger«, erklärt der Bauingenieur Schlaich.

Heutzutage sehe man diese Konstruktionsweise etwas kritisch: » Sie haben ja das Fertigteil reingesetzt. Das heißt, Sie haben dort eine Schwachstelle.« Mittlerweile sei es üblich, die gesamte Brückenspanne als ein einziges Teil ohne Fugen zu betonieren. Eine solche Konstruktion habe bei Schäden eine größere Chance, stehen zu bleiben. »Beim Gerberträger haben Sie den Träger in der Mitte. Und wenn irgendwo über der Stütze das Material der Brücke versagt, dann plumpst Ihnen alles ins Wasser.«

Im Fall der Carolabrücke deutet viel darauf hin, dass die Spanndrähte brachen, die den Beton unter Druck und die Brücke damit stabil hielten. Bemerkenswert ist, dass es keinen äußeren Anlass gab. Zum Zeitpunkt des Einsturzes war keine Straßenbahn auf der Brücke, es gab keinen starken Wind, der das Material besonders belastet hätte. Die Drähte sind, so die bisherige Vermutung, einfach nach und nach immer schwächer geworden, bis die Zugspannung ihre Tragkraft überstieg. Die wahrscheinlichste Ursache ist Korrosion – die Stahlseile werden unter bestimmten Bedingungen chemisch zerstört, sie rosten. Schon wenn wenige Stränge des aus mehreren Drähten gewundenen Drahtseils verloren gehen, kann die gesamte Brückenkonstruktion katastrophal versagen.

Warum Chlorid gefährlich ist

Die wichtigste Ursache für die Korrosion ist Wasser, das durch Risse und die Poren des Betons zu den Stahlseilen gelangt und meist Chlorid mit sich führt. Chlorid ist der negativ geladene Teil von Kochsalz und in der Umwelt reichlich vorhanden. Auch die Carolabrücke hatte nach Angaben der Stadt Dresden seit Jahren Probleme mit eindringendem Salz.

Natürlich betreibt man beim Bau solcher Brücken erheblichen Aufwand, um Wasser von den Stahlseilen fernzuhalten. »Wenn sie die Stahldrähte durch ein Leerrohr im Brückenteil führen, dann verpresst man die Rohre nach dem Spannen der Stahlseile mit Mörtel, um den Draht zu schützen«, sagt Schlaich. Außerdem verwendet man korrosionsbeständigen nicht rostenden Stahl, der durch eine dünne Schicht aus Chromoxid vor chemischen Einflüssen geschützt ist. Zusätzlich kann man die Drähte mit Epoxidharz umhüllen oder mit einer dünnen Zinkschicht überziehen. »Aber selbst wenn das Stahlseil gut geschützt und gut mit Mörtel verpresst ist, kann es Risse geben, durch die Wasser kommt und damit Chlorid«, sagt Schlaich.

Chlorid ist besonders gefährlich für Spanndrähte aus rostfreiem Stahl. So brach im Jahr 2000 eine private Fußgängerbrücke im US-Bundesstaat North Carolina nur fünf Jahre nach ihrer Konstruktion zusammen, weil Zement an der Oberseite der Brücke große Mengen des Salzes Kalziumchlorid enthielt, das die Stahlkabel in kurzer Zeit zerstörte. Wegen seines geringen Durchmessers dringen Chloridionen leicht in die Chromoxid-Schutzschicht rostfreier Stähle ein, schwächen sie und verschaffen so auch dem Wasser Zugang zum Stahl selbst.

Dadurch setzen an dieser Stelle elektrochemische Korrosion und Lochfraß ein, der die Drähte schwächt. Besonders heimtückisch für stark gespannte Stahldrähte ist eine andere Form der Korrosion, verursacht durch atomaren Wasserstoff. Das Element kann durch chemische Reaktionen am Metall entstehen und dann ins Kristallgitter des Stahls eindringen, was ihn weniger elastisch macht. Auf diese Weise können sich winzige Risse in den Drähten ausbreiten, bis sie schließlich abreißen.

Das Rätsel der Carolabrücke

Das einzige Gegenmittel dagegen ist, Brücken permanent zu kontrollieren und Schäden zu reparieren, bevor sie zu Problemen führen. »Alle technischen Anlagen müssen regelmäßig geprüft und gewartet werden«, erklärt Schlaich. Es gebe eine Norm für Brückenprüfungen; vorgeschrieben seien alle drei Jahre eine Normalprüfung und alle sechs Jahre eine Hauptprüfung, bei denen auch die Spanndrähte auf Schäden untersucht werden. »Es gibt viele Methoden, mehr oder weniger genau, um den Drahtbruch zu identifizieren. Man kann zum Beispiel akustische oder elektrische Signale durch das Kabel schicken und prüfen, ob sie sich mit der Zeit verändern«, sagt Schlaich. Man könne auch außen mit großen Magneten vorbeifahren, die einen Strom in den Drähten induzieren, und prüfen, ob sich stellenweise das Magnetfeld ändert.

Eigentlich stürzen Brücken daher nicht plötzlich ein. Einige äußere Faktoren können sie katastrophal beschädigen. Schiffe zum Beispiel rammen erstaunlich oft Brückenkonstruktionen. Hochwasser kann die Fundamente unterspülen und intensive Brände unter der Brücke das Material fatal schwächen. Doch dass einer der drei Brückenteile ohne äußeren Anstoß und jede Vorwarnung in die Elbe fiel, macht das Unglück in Dresden außergewöhnlich. »Das ist das Beunruhigende bei der Carolabrücke, dass man das trotz Prüfung, trotz Monitoring, nicht hat kommen sehen«, erklärt Schlaich.

»Normalerweise kündigt sich Bruch an, da platzt was ab, da sieht man Rostfahnen, da gibt es Verformungen, da gibt es Geriesel, da hört man Geräusche«, sagt Schlaich. Deswegen brechen Brücken nur sehr selten während ihrer Nutzung zusammen. Selbst wenn sie marode sind, hat man normalerweise jahrelange Vorwarnzeit, um sie zu reparieren oder zu ersetzen – die Carolabrücke wurde zum Zeitpunkt des Einsturzes wegen der lange bekannten Schäden umfassend saniert.

Warum genau die Brücke einstürzte, ist deswegen besonders schwierig zu beantworten, auch wenn mehrere mögliche Faktoren bereits intensiv diskutiert werden. Neben der Ursache für das Versagen selbst muss auch geklärt werden, weshalb der kritische Zustand des Bauwerks mit der vorhandenen Messtechnik nicht auffiel. In Deutschland gibt es zahllose jahrzehntealte Brücken, so dass ein bislang unerkanntes Problem erhebliche Folgen haben könnte. Bis diese Fragen wirklich beantwortet sind, wird es aber Wochen dauern. »Man muss den Experten vor Ort die Zeit geben, um das herauszufinden«, sagt Mike Schlaich. »Nicht nur, was da passiert ist, sondern auch, wie man das in Zukunft bei Inspektionen entdecken und dann verhindern kann.«

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