Kinderheilkunde: Was über den plötzlichen Kindstod bekannt ist
Es ist der Albtraum vieler Eltern: Abends legen sie ihr Kind ins Bett und am nächsten Morgen ist es tot. Ohne ersichtlichen Grund. Der plötzliche Kindstod, auch bekannt als Sudden Infant Death Syndrome, kurz SIDS, ereilt in Deutschland jährlich etwa 2 von 10 000 lebend geborenen Kindern. Dank intensiver Forschung und wirksamer Präventionskampagnen konnten die Fälle seit den 1990er Jahren um 90 Prozent reduziert werden. Trotzdem rätseln Forschende weltweit noch immer, warum es passiert und wie sich dieses Schreckensszenario endgültig verhindern lässt.
Am häufigsten trifft es Babys zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat. Jungen sterben etwa anderthalb mal häufiger an SIDS als Mädchen. Bei einer anschließenden Obduktion kann ein Pathologe keine Todesursache feststellen: Es gibt weder eine medizinisch auffällige Vorgeschichte, noch Vergiftungen, offensichtliche Erkrankungen oder einen Unfall. SIDS ist damit eine Ausschlussdiagnose.
Theorien und Hinweise auf mögliche Ursachen gibt es viele. Eventuell ist das Atemzentrum im Gehirn noch nicht ausgereift. Auch Gendefekte und unerkannte Infektionen stehen im Verdacht, das Risiko zu erhöhen. Klar ist einzig: Der Schutzreflex des kindlichen Körpers, auf Sauerstoffmangel und eine aussetzende Atmung zu reagieren, funktioniert im Fall von SIDS nicht so, wie er sollte. Die Säuglinge ersticken im Schlaf.
Gerade weil es so schwierig ist vorherzusagen, welche Kinder ein erhöhtes Risiko haben, an SIDS zu sterben, wird jede Fortschrittsmeldung von einem riesigen Medienecho begleitet. So auch diesmal. »Plötzlicher Kindstod: Ursache für Tod von Babys entdeckt«, vermeldete die »Geo«. »Neue Studie gibt Hinweise auf Ursache«, schrieb »Focus Online«. »Das Rätsel ist fast gelöst«, titelte »Watson«. Der Grund für den Jubel: Australische Forscherinnen wollen herausgefunden haben, dass an SIDS gestorbene Kinder eine verringerte Aktivität eines bestimmten Enzyms zeigen. Das schreiben sie in einer Studie, die im Mai 2022 im Online-Fachmagazin »eBioMedicine« veröffentlicht wurde. Es ist von einem möglichen Biomarker – also einer Art Frühwarnsystem – die Rede.
Enzymmangel als Ursache?
Konkret sprechen sie von Butyrylcholinesterase, kurz: BChE. Das ist ein Enzym, das Acetylcholin abbaut. Dieser Neurotransmitter überträgt Signale zwischen Nervenzellen sowie von Nerven- auf Muskelzellen. Damit nicht zu viel oder zu wenig Acetylcholin an die Rezeptoren bindet und die Weiterleitung der Signale optimal funktioniert, braucht der Prozess eine sorgfältige Steuerung.
Dafür sorgen Cholinesterasen wie BChE und die nah verwandte Acetylcholinesterase (AChE). Sind die Enzyme gehemmt oder fehlen sogar ganz, sammelt sich zu viel Acetylcholin zwischen den Enden der Nervenzellen. Dieser Zustand heißt cholinerge Krise. Symptome sind psychomotorische Unruhe, Muskelschwäche sowie Schluck- und Atembeschwerden.
Bereits im Jahr 2013 diskutierte ein italienisches Forscherteam – abseits von SIDS – über BChE als Biomarker. Sie erkannten, dass die Menge des Enzyms im Blutplasma abnimmt, wenn erwachsene Patienten an Leberschäden, Entzündungen, Infektionen oder Mangelernährung litten. Außerdem ist bekannt, dass ein BChE-Mangel in Kombination mit bestimmten Anästhetika zu einem verlängerten Atemstillstand in der Aufwachphase einer Narkose führen kann. Bis zu vier Prozent der Menschen europäischer Herkunft zeigen ein solches Enzymdefizit.
Zahlreiche Risikofaktoren für SIDS sind bekannt
Bei Säuglingen, die vom plötzlichen Kindstod betroffen sind, versagt in aller Regel der Atemschutzmechanismus. Daher liegt der Verdacht nahe, dass ein Zusammenhang zwischen SIDS und einer verminderten BChE-Aktivität besteht. Als gesichert gilt bislang, dass nach dem Triple-Risk-Modell drei Faktoren aufeinandertreffen müssen: eine geringe Widerstandsfähigkeit des Kindes (etwa auf Grund eines genetischen Defekts), eine kritische Entwicklungsphase (beispielsweise »Reifeprozesse« an Herz und Lunge zwischen dem zweiten und vierten Lebensmonat) sowie ein äußerer Stressor.
Etliche solcher Risikofaktoren sind bekannt. Ein zu früh geborener oder bei der Geburt stark untergewichtiger Säugling hat ein um drei- bis vierfach erhöhtes Risiko für SIDS. Ist bereits ein Geschwisterkind am plötzlichen Kindstod gestorben, steigt auch für das Neugeborene die Wahrscheinlichkeit. Außerdem sollten Eltern unbedingt vermeiden, dass Kinder überhitzen, etwa durch hohe Außentemperaturen, zu dicke Kleidung oder eine Kopfbedeckung im Bett. Schläft der Säugling auf dem Bauch, steigt sein Risiko für SIDS um das Sechsfache. Und: Babys rauchender Mütter reagieren verzögert auf einen Sauerstoffmangel. Das betrifft sowohl das Rauchen während der Schwangerschaft als auch eine verrauchte Wohnung. Problematisch ist zudem, wenn das Kind gemeinsam mit Mutter oder Vater auf dem Sofa oder im Bett schläft. Besonders gefährlich ist, wenn die Betreuungspersonen Alkohol oder Drogen konsumieren, da ihre Reaktionsfähigkeit dadurch beeinträchtigt ist.
»Wenn man sich die Ergebnisse genauer anschaut, dann ist zwischen den einzelnen Gruppen nicht genug Trennschärfe zu erkennen«Ursula Felderhoff-Müser, Fachärztin für Kinderheilkunde
Auch alltägliche Situationen können riskant sein, sagt Ursula Felderhoff-Müser. »Wenn die Mutter einschläft, während sie das Kind im Elternbett stillt, kann es passieren, dass der Säugling unter Bettdecke oder Kopfkissen rutscht.« Das gelte es unbedingt zu vermeiden. Die Direktorin der Essener Klinik für Kinderheilkunde und Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) setzt sich gemeinsam mit ihren Fachkolleginnen und -kollegen dafür ein, Eltern über den plötzlichen Kindstod und mögliche Risiken aufzuklären. Dazu gehört, die aktuelle Forschung im Blick zu behalten. Interessiert verfolgte deshalb auch sie die australische Studie zu den möglichen Biomarkern.
»Es ist eine gute erste Studie«, sagt Felderhoff-Müser. Es könne sich lohnen, die Hinweise weiter zu verfolgen. Allerdings sei es eben auch nur eine Pilotstudie und SIDS obendrein ein verhältnismäßig seltenes Phänomen. Das bringe Einschränkungen mit sich, die man bei der Interpretation der Daten beachten müsse. »Wenn man sich die Ergebnisse genauer anschaut, dann ist zwischen den einzelnen Gruppen nicht genug Trennschärfe zu erkennen«, sagt sie.
Studie hat etliche Schwachpunkte
Die Forscherinnen aus Sydney und Westmead untersuchten Blutproben, die an Tag zwei bis vier nach der Geburt entnommen worden waren. Tatsächlich fanden sie signifikant niedrigere Werte der BChE-Aktivität bei an SIDS gestorbenen Säuglingen verglichen mit Babys, die an einer bekannten Ursache gestorben waren, sowie mit einer Kontrollgruppe von mehr als 500 lebenden Kindern.
Plötzlicher Kindstod im Kreißsaal
Beim plötzlichen Kindstod stirbt ein Säugling vor Vollendung des ersten Lebensjahres an ungeklärter Ursache. »Die ursprüngliche Definition von SIDS schließt die Perinatalzeit eigentlich aus«, sagt Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie der Charité Berlin. Das betrifft die Zeit bis zum siebten Lebenstag des Neugeborenen; meist werden SIDS-Fälle sogar erst ab dem 21. Lebenstag als solche gezählt. Das jedoch vernachlässige die Zeit in den ersten Stunden nach der Geburt, sagt der Mediziner. Im Jahr 2020 starben in Deutschland 2373 Kinder im ersten Lebensjahr, mehr als die Hälfte davon innerhalb der ersten sieben Tage nach der Geburt.
Christian Poets, Leiter der Abteilung für Neonatologie des Universitätsklinikums Tübingen, stimmt zu: »Seit einigen Jahren gibt es die Erkenntnis, dass ein plötzlicher Kindstod auch direkt nach der Geburt geschehen kann.« Studien bestätigen dies. Es kämen mehrere, für SIDS klassische Risikofaktoren zusammen: Das Kind liegt auf dem Bauch, in der Regel auf der Mutter. Die wiederum ist erschöpft von der Geburt und bekommt mitunter nicht mit, wenn die Atemwege des Neugeborenen nicht frei liegen. »Diese Fälle sind lange unter dem Radar geblieben und kamen deswegen auch in den Präventionsempfehlungen nicht vor«, sagt Poets. Dabei müsse man hier nur die Eltern anweisen, beim Kuscheln darauf zu achten, dass die Nase stets frei ist.
Eine bessere Beobachtung der Neugeborenen, besonders bei Erstgebärenden, könnte einige der frühen, möglichen SIDS-Fälle verhindern.
Allerdings zeigten die Werte aller Gruppen eine große Streuung. Da die Blutproben zudem so kurz nach der Geburt entnommen wurden, lassen sich daraus nur sehr bedingt Aussagen über die BChE-Aktivität zum Todeszeitpunkt ableiten. Auch fehlen weiterführende Informationen über Kind und Eltern, denn es gab nur den Blutstropfen sowie die Diagnose eines Gerichtsmediziners.
Außerdem fehlte die Aktivität der »Schwester«-Cholinesterase AChE in den Daten, eine Analyse war wegen methodischer Schwierigkeiten nicht möglich. Vorangegangene Studien hatten in den Herzen von SIDS-Kindern eine erhöhte Menge AChE sowie eines Acetylcholinrezeptors gefunden. Das kann dazu führen, dass der Blutdruck abfällt und Betroffene in Ohnmacht fallen.
Die größte Einschränkung der aktuellen Studie ist jedoch das Studiendesign: Die Forscherinnen verglichen 26 Kinder, die im Alter von maximal 35 Wochen am plötzlichen Kindstod gestorben waren, mit 30 Kindern, die aus anderen Gründen früh gestorben sind. Das sind nicht nur sehr kleine Stichproben, auch das Alter weicht stark voneinander ab. Die Nicht-SIDS-Kinder waren bei ihrem Tod teilweise fast zwei Jahre alt. Hinzu kommt, dass aus dieser Gruppe nach Abschluss der Messungen sechs Werte entfernt wurden, weil sie laut Studienautorinnen wiederholt unterhalb der Standardkurve lagen. Zusammengenommen schwächen diese Einschränkungen die Aussagekraft der Studienergebnisse massiv.
»Als Biomarker mit Vorhersagekraft ist das Enzym deshalb ungeeignet«Christoph Bührer, Neonatologe
Entsprechend überrascht zeigen sich SIDS-Expertinnen und -Experten über die euphorischen Schlagzeilen der Medien. »Die Überlappung von Fall- und Kontrollwerten ist so groß, dass ich nicht weiß, wo da der Unterschied liegen soll«, sagt etwa Christoph Bührer, Direktor der Klinik für Neonatologie der Charité Berlin, und wird damit sogar noch um einiges deutlicher als seine Kollegin von der Essener Kinderklinik. Die Mediane der Messwerte mögen zwar durchaus signifikant unterschiedlich sein, die Streuung der Werte sei aber zu groß. »Anhand eines individuellen Messwerts lässt sich ein Kind nicht der SIDS- oder der Kontrollgruppe zuordnen«, erklärt der Präsident der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin (GNPI). »Als Biomarker mit Vorhersagekraft ist das Enzym deshalb ungeeignet.«
Welche Konsequenz diese Einschätzung für die Studie hat, fasst Christian Poets zusammen: »Einem Elternpaar, das wissen möchte, ob das eigene Kind gefährdet ist, gibt die Aktivität der Butyrylesterase keine Antwort.« Poets ist Leiter der Abteilung für Neonatologie und des pädiatrischen Schlaflabors des Universitätsklinikums Tübingen. Einer seiner wissenschaftlichen Schwerpunkte ist der plötzliche Kindstod.
Auch Ursula Felderhoff-Müser gibt zu bedenken: »Es müssen nun weitere Studien mit größeren Fallzahlen folgen.« Noch sei die Forschung nicht so weit, einen einzelnen Biomarker oder gar ein Screening-Programm zu etablieren. »Wie häufig ist denn dieser Mangel an Enzymaktivität bei gesunden Babys? Gibt es dazu Daten?«, benennt die Medizinerin offene Fragen. Hier müsse die Wissenschaft liefern.
Kommunikation zwischen Forschung und Staatsanwaltschaft verbessern
Das aber ist nicht so einfach. »Nur die Hälfte der Kindstodfälle in Deutschland wird obduziert«, sagt Christian Poets. Aber: Ohne Obduktion keine eindeutige Todesursache. Der Mediziner erklärt, es gehe nicht darum, den Tod des Kindes zu kriminalisieren oder die Eltern anzuklagen. Informationen zu den Todesumständen könnten nicht nur den Eltern die Gewissheit geben, dass sie nichts falsch gemacht haben. Auch für die weitere Erforschung des Syndroms seien die Daten wichtig.
Ein Dilemma ist die mangelnde Kommunikation zwischen Staatsanwaltschaft und Forschung. »Wenn ein Kind aus ungeklärter Ursache stirbt, schalten sich die Ermittler ein«, erklärt Bührer. Daten zur Situation, in der das tote Kind gefunden wurde, oder Ergebnisse der Gerichtsmedizin würden dann aber nicht mit den Kliniken geteilt. »Das führt zu einem massiven Informationsverlust und verhindert eine wissenschaftliche Aufarbeitung.« Bührer fordert deshalb ein verpflichtendes zentrales Register, in dem alle SIDS-Fälle systematisch erfasst und wissenschaftlich aufgearbeitet werden.
Wie wichtig solche Informationen sind, zeigt die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre. Allein auf der Grundlage von Beobachtungen stellten Mediziner fest, dass ein Großteil der Kinder, die an SIDS starben, währenddessen auf dem Bauch schliefen. In den 1990er Jahren folgte eine Präventionskampagne, die empfahl, Säuglinge ausschließlich in Rückenlage schlafen zu lassen. Während im Jahr 1991 in Deutschland noch mehr als 1200 Kinder am plötzlichen Kindstod starben, waren es 2020 nur noch 84. Ein gravierender Fortschritt, doch noch lange keine zufrieden stellende Antwort für die betroffenen Eltern.
Empfehlungen für Eltern, wie sie ihr Neugeborenes vor SIDS schützen können:
Schlafen in Rückenlage gilt als die wichtigste Empfehlung. Seitenlage ist keine Alternative, da Säuglinge zu schnell in die Bauchlage rollen und sich dann nicht mehr selbst zurückdrehen können.
Säuglinge sollten zwar mindestens ein halbes, besser sogar ein Jahr im Elternschlafzimmer schlafen, aber nicht im gleichen Bett. Alternativen sind Beistellbettchen.
Optimalerweise schläft das Baby in einem altersentsprechend großen Schlafsack auf einer festen Matratze und trägt darunter nur Windeln und Schlafanzug.
Nicht ins Babybett gehören Gegenstände, die Kopf und Atemwege des Säuglings bedecken könnten, also Mützen, Kissen, Decken, weiche Bettwäsche, Felle, »Nestchen« oder Kuscheltiere.
Die ideale Temperatur im Schlafraum liegt bei 18 °C.
Wichtig ist eine rauchfreie Umgebung.
Außerdem:
Möglichst langes und ausschließliches Stillen schützt vor SIDS.
Impfen gegen die gängigen Infektionskrankheiten halbiert das Risiko für den plötzlichen Kindstod.
Babys, die mit einem Schnuller einschlafen, sterben seltener an SIDS.
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