Migräne mit Aura: »Als würde einem eine Ameisenarmee über den Arm laufen«
Blendende Kreise, Zickzacklinien, Blitzlichter – die Migräne mit Aura gibt noch immer Rätsel auf. Mehr als 90 Prozent der berichteten neurologischen Störungen betreffen das Sehvermögen. Doch die Symptome können diverse andere Formen annehmen. Körperteile kribbeln oder werden taub. Die Sprachfähigkeit ist beeinträchtigt. Wie individuell Auren sind, wie häufig und was sich dagegen tun lässt, erklärt der Migräneforscher Markus Dahlem im Interview.
»Spektrum.de«: Unter Migräne stellen sich viele ziemlich starke Kopfschmerzen vor. Warum ist das eine Untertreibung?
Markus Dahlem: Weil Kopfschmerz nur ein Symptom ist, die Migräne jedoch eine schwere neurologische Störung. Entsprechend umfassender und gravierender ist die Krankheit. Es geht um weit mehr als Kopfschmerzen. Diese können, müssen aber nicht auftreten. Dafür kann eine Migräne mit einer Aura einhergehen.
Aura – das klingt esoterisch.
Ja, aber es ist alles andere als das. Wir reden hier von Reiz- und Ausfallerscheinungen des Nervensystems. Bei 20 bis 30 Prozent der Migränepatienten kommt das nach jetziger Kenntnis vor. Ich gehe allerdings von einer extrem hohen Dunkelziffer aus, weil es oft schwierig ist, solch eine Aura überhaupt zu bemerken.
Weil die Ausfälle verschiedene Teile des Körpers betreffen können?
Zum einen ja. Jeder Sinn kann betroffen sein: Fühlen, Riechen, Sehen und so weiter. Beispielsweise fühlt es sich für manche in einem Moment an, als würde ihnen eine Ameisenarmee über den Arm laufen, dann wird langsam der Arm taub. Und im nächsten Moment springt das Kribbeln direkt in die Lippen. Oder Betroffene riechen zwischenzeitlich nichts mehr oder nehmen einen Geruch wahr, der nicht in der Luft liegt. Oder sie sehen Muster, die eigentlich nicht da sind, etwa Zickzacklinien. Solch visuelle Auren sind besonders häufig und werden beschrieben, während andere Sinneserscheinungen vielleicht zwar bemerkt, aber nicht in einen Zusammenhang mit der Migräneattacke gebracht werden.
»Eine visuelle Aura startet zumeist im Zentrum des Gesichtsfelds, breitet sich aus und wandert immer mehr zur Peripherie des Gesichtsfelds«
Markus Dahlem, Migräneforscher
Und zum anderen …
… bleiben manche Auren gänzlich unbemerkt. Wenn beispielsweise vor dem Migräneanfall Sprachstörungen auftreten würden, ich aber nicht rede, sondern ruhig ein Buch lese, hat diese Aura gar keine Gelegenheit, sich zu manifestieren. Vielleicht begleitet sogar jede Migräneattacke eine Aura, und jene, die Ärzte und Mediziner bisher als »Migräne ohne Aura« bezeichnen, verlaufen mit klinisch stillen Auren. Das hieße, im Gehirn laufen bei der Migräne mit und ohne Aura womöglich ähnliche Vorgänge ab.
Wie darf man sich solch eine visuelle Aura also vorstellen: bunt, kreisend, die Form wandelnd …?
Kurz gesagt: Man sieht etwas, was nicht ins Gesichtsfeld gehört, oder es fehlt ein Teil. Weil die Betroffenen sich dessen bewusst sind, gelten Auren übrigens als Pseudohalluzinationen. Jedenfalls kann die Erscheinung ein Zickzackmuster haben, sichelförmig oder rund sein. Und sie bewegt sich. Eine visuelle Aura startet zumeist im Zentrum des Gesichtsfelds, breitet sich aus und wandert immer mehr zur Peripherie des Gesichtsfelds. Der Spuk ist für die meisten innerhalb einer halben Stunde vorbei.
Migräne? Hier finden Sie Hilfe
Auf den Internetseiten der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft finden Sie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Kopfschmerz und Migräne. Es gibt Informationen über medikamentöse Behandlungsformen, ebenso ein Verzeichnis mit Kopfschmerzexperten, die sich regelmäßig fortbilden, und Kopfschmerzkalender zum Runterladen.
Die MigräneLiga e. V. Deutschland unterstützt betroffene Migränepatienten mit Aktionen und Informationen rund um die Migräne. Auf der Website lässt sich nach Selbsthilfegruppen in der Nähe suchen.
Die App »M-sense« hat die Zulassung vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte bekommen und ist damit als App auf Rezept zu verschreiben. Die Anwendung erlaubt eine personalisierte und mobile Migränetherapie. Sie bietet ihren Nutzerinnen und Nutzern verschiedene Funktionen: ein Tagebuch, um Schmerzattacken, potenzielle Einflussfaktoren und Medikamenteneinnahmen festzuhalten, sowie beispielsweise Wetterdaten.
Was Sie beschreiben, erinnert an einen Schlaganfall, der lebensbedrohlich sein kann. Wie lässt sich eine Migräneaura davon trennen?
Die Geschwindigkeit ist mitentscheidend. Die Aura verläuft graduell, ein Schlaganfall – wie der Name schon sagt – eher schlagartig. Nun bekommen manche Betroffenen auch in diesen Fällen gar nicht recht mit, wie ihnen geschieht. Plötzliche Sprach- oder Sprachverständnisstörungen, eine Lähmung oder ein Taubheitsgefühl oder Schwindel mit Gangunsicherheit können auf einen Schlaganfall hindeuten.
Wie leicht die Veränderung auch erscheinen mag – wer so etwas von jetzt auf gleich bemerkt, sollte also zum Arzt?
Ja. Ebenso, wer häufig unter Kopfschmerzen leidet und sogar eine Migränediagnose hat, aber erstmals eine Aura bemerkt. Und wer Auren hat, die jedoch in immer kürzeren Abständen auftreten, als er es gewohnt ist, sollte das ebenfalls abklären lassen.
»Bei einer Attacke werden die Nervenzellen der Hirnrinde wellenartig vom Hinterkopf bis hin zur Stirn angeregt. Ein bisschen wie bei La Ola im Stadion«
Markus Dahlem
Unterscheiden Auren sich nur von Betroffenem zu Betroffenem, oder sind sie jedes Mal anders?
Sie variieren bei Einzelnen, doch es gibt ein Repertoire. Es kann sein, dass die zehnte Attacke eine komplette Wiederholung der ersten ist. Deshalb gehen Migräneforscher davon aus, dass Auren bestimmten Pfaden auf der gewölbten Großhirnrinde folgen. Wenn eine Attacke an einer bestimmten Stelle des Wegs startet, nimmt sie denselben Verlauf wie eine vorherige.
Es handelt sich um eine neurologische Störung, sagten Sie. Was passiert genau?
Der Ablauf, die Pathophysiologie, ist bei allen Sinnen gleich. Der Unterschied liegt im Areal der Großhirnrinde. Grundsätzlich werden bei einer Attacke die Nervenzellen der Hirnrinde wellenartig vom Hinterkopf bis hin zur Stirn angeregt. Es ist ein bisschen wie bei La Ola im Stadion: Die Welle fließt durch die Menge; so wie ein Fan aufspringt und sich wieder setzt, wird eine Zelle nach der nächsten aktiv, um sich nach der spontanen Aktion erst einmal auszuruhen.
Die Welle der Erregung läuft dabei mit majestätisch langsamer Geschwindigkeit durch das Gehirn. Zumeist erfasst sie auf Grund der Lage zunächst den visuellen Bereich. Auf die Erregung der Nervenzellen folgt eine Hemmung für 10 bis 20 Minuten – das ist der Moment, wenn die Zickzacklinien plötzlich verschwinden und nichts da ist oder wenn die Welle den Homunkulus erreicht und durchlaufen hat, ein Taubheitsgefühl das Kribbeln ablöst.
Frauen sollen von Migräne öfter betroffen sein als Männer, stimmt das?
Insgesamt in der Tat. Zu Beginn der Pubertät ist das nicht so, doch die Verteilung ändert sich mit der Hormonumstellung. Der Peak der Migränepatienten liegt bei 35 bis 45 Jahren. Frauen in diesem Alter sind drei- bis viermal häufiger betroffen als Männer, jede vierte Frau in dieser Altersgruppe. Zudem treten die Attacken häufig kurz vor, während oder nach der Menstruation auf.
»Wer bis zum Alter von 50 Jahren noch keine Attacke hatte, wird eher keine mehr bekommen«
Markus Dahlem
Sind starke körperliche Belastung oder Stress also die Ursache?
Tatsächlich ist die genaue Ursache noch unklar. Mediziner sind sich jedoch einig, dass es bestimmte Auslöser gibt. Zu wenig trinken etwa, weil Flüssigkeitsmangel ein Stressor ist. Was nicht heißt, dass ein Glas Wasser das Problem löst. Andere Trigger sind Wetterumschwünge und spezielle Gerüche. Die Gründe für Attacken sind jedoch individuell sehr verschieden. Eine massive Reizüberflutung kann verantwortlich sein, muss es aber nicht. In einigen Fällen treten Anfälle frühmorgens auf, manche wachen damit auf. Das unterscheidet sie beispielsweise vom Spannungskopfschmerz. Und von der optischen Aura kann man sogar träumen. Gleichzeitig sind Attacken nachmittags gehäuft möglich. Man sollte ein gutes Tagebuch führen, damit man das individuelle Migränemuster erkennt und sein Verhalten darauf einstellen kann.
Nehmen wir an, jemand ist Mitte 30 und hatte noch nie Migräne. Ist die Person damit sicher, oder kann es jederzeit losgehen?
Die Wahrscheinlichkeit, Migränepatient zu werden, sinkt mit höherem Alter. Wer bis zum Alter von 50 Jahren noch keine Attacke hatte, wird eher keine mehr bekommen. Zudem wird es mit höherem Alter häufig erträglicher. Die Schmerzen schwächen sich ab, in manchen Fällen verschwindet die Krankheit sogar ganz. Grundsätzlich aber gilt Migräne als unheilbar. Es gibt wenig gute Behandlungsansätze und viel Frust.
Was funktioniert bestenfalls denn gut?
Auraspezifische Medikamente gibt es nicht. Doch Migräneattacken lassen sich allgemein abstumpfen. Wichtig ist, sich mit dem Arzt oder der Ärztin abzustimmen und nicht einfach selbst etwas einzuwerfen. Oft hilft es, eine Schmerztablette früh zu nehmen und richtig zu dosieren. Also nicht erst abwarten, bis es richtig schlimm wird, und dann nur die halbe Pille schlucken, weil man am liebsten gar nichts nehmen möchte. Diverse Akutschmerzmittel mit Ibuprofen oder Triptanen können Linderung verschaffen. Vorbeugend lassen sich auch Betablocker, Antidepressiva und Antiepileptika verschreiben. Doch einem kleinen Teil der Betroffenen hilft gar nichts. Was hoffen lässt: Es kommen bald neun neue Migränemedikamente auf den Markt und sogar eine digitale Therapie. Die müssen sich allerdings erst noch beweisen.
Was sollte jemand tun, der eine Migräneaura erlebt?
Keine Maschinen bedienen, also auch nicht Fahrrad oder Auto fahren. Die meisten, die davon betroffen sind, kämen auch gar nicht auf die Idee, weil es im Kopf so sehr dröhnt oder die Sicht verschwommen ist und jede Empfindung schmerzt. Sie wollen Ruhe, ziehen daheim die Vorhänge zu und legen sich hin. Für die wenigen Fälle, die nur eine Aura haben und weder Kopfschmerzen noch Übelkeit verspüren, gilt allerdings ebenfalls: nichts machen. Denn wie gesagt, es kann sein, dass Sie etwas Wichtiges nicht sehen, hören oder fühlen. Das macht Sie nicht nur zu einem Risiko für sich selbst, sondern auch für andere.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.