Familiengründung: Wenn aus Paaren Eltern werden
Als ihr Familienglück acht Monate alt war, beschlossen Tobias und Friederike, sich zu trennen. Während Baby Justus ausnahmsweise mal friedlich schlief, saß Friederike heulend auf dem Sofa, und Tobias packte Zahnbürste und Klamotten für ein paar Tage in seine Handballtasche. »Ich war gleichzeitig wütend und verzweifelt und wollte nur noch, dass er geht und endlich Ruhe einkehrt«, erzählt Friederike. Tobias pflichtet ihr bei: »Ich konnte gar nicht schnell genug wegkommen aus dieser chaotischen Enge, vom täglichen Streit, dann Justus, der einfach immer zu schreien schien. Mir war völlig klar: Das geht so nicht, ich kann und will so nicht leben.«
Tobias verlässt die gemeinsame Zwei-Zimmer-Wohnung und zieht zu einem Freund. Dort bekommt er für ein paar Nächte ein Gästebett und gehörig den Kopf gewaschen. Der Freund, Vater zweier Kinder, macht ihm klar, dass er sich nicht einfach so aus der Verantwortung seines neuen Lebens als Vater stehlen kann. »Das hat wirklich lange gedauert bei mir, aber irgendwann hat es tatsächlich klick gemacht. Ich hab begriffen, dass ich die ganze Zeit versucht habe, mein altes Leben einfach weiterzuleben, und das war schlicht nicht möglich«, erinnert sich Tobias. Er schaut ein wenig entschuldigend zu Friederike, mit der er gemeinsam vor dem Computer sitzt.
Die beiden, die im echten Leben andere Namen tragen, sind nach wie vor zusammen. Justus ist heute dreieinhalb Jahre alt und bekommt im Sommer ein Geschwisterchen. Es wird noch enger werden in der Zwei-Zimmer-Wohnung, doch das schreckt die Eltern nicht. »Hätte uns das damals jemand prophezeit, wir hätten nur hysterisch laut gelacht«, sagt Friederike und grinst.
Der erste Fehler: Unrealistische Erwartungen
Das erste gemeinsame Kind – größer kann das Glück in einer Partnerschaft kaum werden. Das suggerieren Freunde und Familie, die begeistert gratulieren, wenn die Schwangerschaft verkündet wird. Das suggeriert ganz besonders auch die Werbung mit ihren Bildern von strahlenden frischgebackenen Eltern und einem stets gut gelaunten Säugling. Und das reden sich die Paare selbst ein – umso mehr, wenn das Kind ein Wunschkind ist. Das Deutsche Bundesamt für Statistik hingegen meldet: Bei gut der Hälfte aller Scheidungen haben die Paare minderjährige Kinder.
Auch die Wissenschaft beschäftigt sich mit der Frage, was eigentlich passiert, wenn aus Paaren Eltern werden. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass die Qualität der Partnerschaft nach der Geburt eines Kindes deutlich sinkt, vor allem im Vergleich zu kinderlosen Paaren. Der Schluss, dass einst glückliche Paare durch die Geburt eines Kindes unglücklich werden, ist jedoch falsch: Sie sind nur weniger glücklich. Eine mehrjährige Längsschnittstudie, in der bundesweit 175 Paare von der Schwangerschaft bis drei Jahre nach der Geburt ihres Kindes begleitet worden sind, kommt außerdem zu dem Schluss, dass diese Unzufriedenheit nicht alle gleichermaßen trifft. Während sich manche Partnerschaften deutlich verschlechtern, halten andere den Herausforderungen, die mit dem neuen Familienmitglied entstehen, gut stand.
Die Rollen werden neu verteilt
»Der Übergang vom Paar zur Elternschaft ist eine der größtmöglichen Veränderungen, die man in seinem Leben erfahren kann, und darin steckt natürlich neben der Freude viel Potenzial für eine Krise«, sagt Judith Rosner. Die Diplompädagogin leitet das Evangelische Zentrum für Beratung in Höchst und berät dort unter anderem Paare und Familien. Zu ihr kommen junge Eltern, wenn sie feststellen, dass sie nicht mehr richtig miteinander klarkommen, seit der Nachwuchs auf der Welt ist. Übermüdung, Überforderung, ein reduziertes Lustempfinden, Hormonschwankungen – der Anfang als Familie bringt zahlreiche Veränderungen mit sich, die zum Problem werden können.
Vor allem dann, wenn man sich den neuen Lebensabschnitt vorher in den rosigsten Farben ausgemalt hat, kann die Realität ein junges Elternpaar hart treffen. »Wir erleben häufig eine schwierige Rollenkonfusion, beide müssen erst einmal ihren Platz finden«, sagt Rosner. »Es entsteht die erste Triade aus Mutter, Vater und Kind.«
Väter fühlen sich oft ausgeschlossen. Ihnen fehlt bereits das Erlebnis einer Schwangerschaft und Geburt; jetzt müssen sie noch dazu verkraften, dass sie das Neugeborene nicht stillen und oft auch nicht so gut beruhigen können wie die Mutter. Die enge Verbundenheit von Mutter und Kind kann den Partner neidisch und eifersüchtig machen. »Das erlebe ich häufig, und es kann dazu führen, dass die Männer sich in ein Hobby zurückziehen«, sagt Rosner. »Die Gründe dafür können vielfältig sein, die Beziehungserfahrungen mit den eigenen Eltern werden reaktiviert, vielleicht ist der Vater als Kind etwas vernachlässigt worden. Das muss ihm selbst gar nicht klar sein. Unsere Handlungen sind ja zum großen Teil unbewusst motiviert.«
»Oft fühlt sich keiner von beiden vom jeweils anderen in seinen Bedürfnissen und seinem Tun richtig gesehen«
Diplompädagogin Judith Rosner, Leiterin des Evangelischen Zentrums für Beratung in Höchst
Um herauszufinden, warum die neue Situation belastend und kränkend sein kann, hilft gegenseitiges Verständnis. Die Mütter sollten der Rolle der Väter eine besondere Aufmerksamkeit beimessen, das gilt aber auch umgekehrt: Gerade in der ersten Zeit nach der Geburt braucht die Mutter aufmerksame, sensible Unterstützung. »Oft fühlt sich keiner von beiden vom jeweils anderen in seinen Bedürfnissen und seinem Tun richtig gesehen«, sagt Rosner.
Es helfe, wertschätzend miteinander zu sprechen. Der Satz »Ja, ich verstehe, dass das für dich anstrengend ist« kostet allerdings gerade in emotional so fordernden Zeiten manchmal mehr Energie, als man aktuell aufbringen kann. Versuchen sollte man es dennoch, denn wer in so vulnerablen Situationen als Paar unsensibel miteinander umgeht, spürt die Folgen mitunter noch Jahre später. »Ein Rückzug aus der Beziehung ist dann keine Seltenheit«, sagt Rosner.
Dass eine erfüllte Partnerschaft gesundheitliche Vorteile für beide bringt, weiß die Wissenschaft schon länger. Menschen in einer guten Beziehung haben beispielsweise ein geringeres Risiko für chronische Krankheiten, schlafen besser und führen insgesamt ein gesünderes Leben. Die psychosozialen Ressourcen helfen auch durch stressige Lebensphasen wie eine Familiengründung.
Das belegt unter anderem eine Studie in Kanada, die 2020 in »Psychology & Health« erschienen ist. Demnach erleben Mütter, die mit ihrer Partnerschaft zufrieden sind, in den sechs Monaten nach der Geburt ihres Kindes weniger Stress, sie fühlen sich gesünder und leiden außerdem seltener unter so genannten postpartalen Stimmungskrisen. Auch ein italienisches Forschungsteam hat gezeigt, dass das Risiko für eine postpartale Depression sinkt, wenn die Partnerschaft gut funktioniert.
»Ich fand es selbstverständlich, dass sich nun, da ich so sehr von meinem Baby gebraucht wurde, Tobias mehr einbringen und um den Haushalt kümmern würde«
Friederike, Mutter
Miteinander reden war für Tobias und Friederike nach Justus' Geburt kaum möglich. Justus war ein Baby, das viel schrie und permanent nach Aufmerksamkeit verlangte. Das zehrte an den Nerven von Mutter und Vater. Wenn er dann endlich schlief und Zeit für Geschirrmaschine, den Wäschetrockner oder den längst fälligen Anruf bei den Großeltern gewesen wäre, fehlte beiden die Kraft dazu. »Für mich ist ein ordentliches Zuhause wichtig, ich bin auch früher diejenige bei uns gewesen, die sich mehr darum bemüht hat«, erzählt Friederike, »und ich fand es selbstverständlich, dass sich nun, da ich so sehr von meinem Baby gebraucht wurde, Tobias mehr einbringen und um den Haushalt kümmern würde.«
Das habe er auch getan, sagt Tobias, aber eben nach seinen Maßstäben. Die für Friederike nicht reichten. Dass Tobias nach zwei Monaten Elternzeit wieder voll arbeiten ging und seine Lehrveranstaltungen an der Uni auch mal abends daheim in Ruhe vorbereiten wollte, war ein Dauerstreitthema. Oder sein Handballtraining, das immer wichtiger war als die Frage, ob sie vielleicht Ablösung brauchte nach einem anstrengenden Tag mit Justus. Oder ihr »Gluckentum«, wie sie selbst es nennt: Nur sie konnte Justus ohne viel Gebrüll so wickeln, dass später nichts auslief. Oder dass Tobias sich nicht rasierte, obwohl Justus von seinem Bart beim Kuscheln rote Flecken bekam. Streit, Streit, Streit. Bevorzugt in den wenigen ruhigen Stunden am Tag.
Ein Pausenknopf für Konflikte
Um ein Stück weit gewappnet zu sein für derlei Situationen, empfiehlt Judith Rosner, sich in der Technik des Mentalisierens zu üben. Dabei hält man kurz inne und macht sich den eigenen Zustand bewusst: Was denke ich gerade? Was fühle ich? Wie kommt es dazu? Was tue ich? »Wer das gut für sich selber kann, dem gelingt es auch besser, sich in den anderen hineinzuversetzen und zum Beispiel zu verstehen, wieso der eben so wütend war«, sagt Rosner. »Das ist eine Art Pausenknopf, der helfen kann, Konflikte zu entschärfen.« Übrigens nicht nur bei frischgebackenen Eltern.
Der größte Irrtum von werdenden Eltern ist die Annahme: Das läuft mit Kind im Prinzip ganz ähnlich weiter wie vorher ohne
Eine wichtige Erkenntnis in der Familienforschung ist, dass es sehr auf die Schwangerschaft ankommt. Fühlt sich die Frau in dieser Phase der Familienbildung geborgen und gelingt es dem werdenden Vater, ihr Halt zu geben und ein sicheres, angstfreies Umfeld zu schaffen, profitieren davon beide nach der Geburt. »Entscheidend ist auch, dass sich beide schon im Vorfeld Gedanken machen über die Zeit als Familie, ihre Vorstellungen, aber auch eigene Erlebnisse, wie man selbst als Kind war, wie man die eigenen Eltern erlebt hat«, sagt Rosner. Wer sich so schon einmal auf seine neue Rolle und die neue Familienkonstellation vorbereitet, läuft weniger Gefahr, sich nach der Geburt davon mehr überfordern als begeistern zu lassen.
Der größte Irrtum von werdenden Eltern ist die Annahme: Das läuft mit Kind im Prinzip ganz ähnlich weiter wie vorher ohne. Plus möglichst noch eine ambitionierte Berufsplanung für beide Elternteile. »Das funktioniert nicht gut«, sagt Rosner. »Ein Kind im ersten Lebensjahr braucht feinfühlige Eltern, die emotional verfügbar sind und prompt auf seine Bedürfnisse eingehen, damit es eine sichere Bindung entwickeln kann. Und das braucht Energie und Raum.«
Zumal es viel zu tun gibt in einem jungen Haushalt: Laut den Autoren der deutschen Längsschnittstudie steigt mit der Geburt des ersten Kindes die wöchentliche Belastung durch Hausarbeit für Männer um knapp sechs Stunden, für Frauen um mehr als 21 Stunden. Viele Elternpaare, hat Rosner festgestellt, profitieren davon, dass die Väter Elternzeit nehmen. Aber auch danach könne ein gutes familiäres Miteinander entstehen, wenn die Eltern sich mehr aufteilen, als das bei der klassischen Rollenverteilung der Fall ist. »Das erfordert allerdings, dass beide Eltern die Möglichkeit zur Teilzeit haben und Väter nicht in dem Umfang arbeiten, in dem sie es meist tun«, sagt Rosner. Überhaupt rät sie dazu, die sich entwickelnden Modelle in einer Familie immer wieder zu reflektieren: Fühlt sich jeder wohl in seiner Rolle? Haben sich vielleicht Umstände so geändert, dass es nötig ist, die Aufgaben neu zu verteilen?
Eltern werden heißt: Auf Perfektion verzichten
Zu Panik allerdings besteht zu keiner Zeit ein Grund. »Manche Paare, die mit kleinen Babys zu mir kommen, sind sehr angestrengt, sie wissen nicht, wie das alles mal werden soll«, sagt Rosner. Die kann sie beruhigen. Denn alles hat seine Zeit. Dinge, die man jetzt vielleicht vermisst, werden wiederkommen, diese überfordernde Phase wird vorbeigehen. Bis es so weit ist, können kleine Zeitfenster helfen, in denen man sich gegenseitig entlastet, dem anderen Raum gibt, auch mal für sich zu sein. Und vor allem die eigenen Ansprüche herunterschraubt: Auf Perfektion im Haushalt oder die eine Überstunde am Freitagabend für das Projekt-Finetuning lässt sich nie so sinnvoll verzichten wie in dieser Lebensphase. »Manchmal muss ich die Eltern ein wenig wachrütteln, damit sie erkennen, worauf es gerade wirklich ankommt«, sagt Rosner.
»Irgendwie bin ich wohl davon ausgegangen, dass da im Hintergrund meines Lebens mein Nachwuchs aufgezogen wird, bis er alt genug ist für die coolen Dinge«
Tobias, Vater
Dieses Wachrütteln hat bei Tobias der Freund mit dem Gästezimmer übernommen. »Das war kein langsames Erkennen, sondern das sprichwörtliche Licht, das einem aufgeht«, sagt Tobias heute. »Ich habe Justus einfach zu meinem Leben hinzugefügt, statt es neu anzugehen.« Gedanklich, sagt er, war er mit seinem Sohn schon auf dem Spielplatz und hat ihm die ersten Handballwürfe beigebracht. Er hat die Säuglingsphase einfach übersprungen. »Irgendwie bin ich wohl davon ausgegangen, dass da im Hintergrund meines Lebens mein Nachwuchs aufgezogen wird, bis er alt genug ist für die coolen Dinge.« Richtig erklären kann Tobias sein Denken von damals nicht. Aber er hat sich fest vorgenommen, dass es bei Kind Nummer zwei anders wird.
In einer Welt voller Möglichkeiten, in der dank der modernen Medizin auch Frauen schwanger werden, bei denen es auf natürlichem Weg nicht klappt, steigt die Zahl derer, die Familie idealisieren. »Das lange Herbeisehnen eines Kindes befeuert natürlich das Risiko, dass ein Traumbild an der Realität zerplatzt«, sagt Jennifer Sühr von der Schwangerschafts- und Familienberatung beim Diakonischen Werk Breisgau-Hochschwarzwald. Hinzu komme, dass wir unser Leben durchplanen: Ausbildung oder Studium, eigenes Heim, ein Kind, Familienidylle. »Für manche ist es tatsächlich das erste Mal im Leben, dass ein Plan nicht aufgeht, wenn sie feststellen, dass der Alltag mit Kind besonders am Anfang weniger romantisch ist als gedacht und sie vor allem eines sind: allein«, sagt Sühr.
Obwohl es keine Faustregel gibt, bei welchem Paar das erste Kind zu welchen Problemen führt, können die Beratungsstellen bestimmte Tendenzen ausmachen. »Wir wissen, dass es einen gewissen Risikofaktor darstellt, wenn das Paar bei der Geburt sehr jung ist«, sagt Sühr. »Das bedeutet für Städte unter 26 Jahre, auf dem Land etwas jünger.«
Aber auch Paare, die schon lange zusammen sind, stehen vor einer großen Herausforderung. Manchen fällt es schwer, ihr gewohntes Leben als Paar zurückzustellen. Helfen kann es, wenn sie schon viel gemeinsam erlebt und gemeistert haben, gerade schwere und besonders stressige Situationen. »Wir wissen aus der Soziologie, dass die Geburt des ersten Kindes nach dem Tod eines geliebten Menschen der zweithöchste Stressfaktor ist«, sagt Sühr. Demnach geben mehr als 90 Prozent der Eltern an, dass die Geburt des ersten Kindes für sie Stress war. Bei der Geburt des zweiten Kindes sind es nur noch 26 Prozent. Dann können die Paare nämlich auf das zurückgreifen, was sie beim ersten Kind gelernt haben.
Druck kommt von innen und außen
Die anstrengenden ersten Monate mit dem neuen Familienmitglied übersteht man Jennifer Sühr zufolge am besten damit, den Druck rauszunehmen und sich locker zu machen. Das gilt auch für Druck von außen, zum Beispiel aus der Politik: Nach einem Jahr soll der Prozess »Kindkriegen« abgeschlossen sein, das Elterngeld ist ausbezahlt, der Kitaplatz gesucht, und die Frau fängt wieder in Teilzeit an zu arbeiten. »Davon muss man sich befreien und schauen, wie es für einen selber und das Kind am besten passt«, sagt Sühr. Das kann auch bedeuten, der Oma, die helfen will, abzusagen, wenn diese Hilfsangebote oder gut gemeinte Ratschläge die Eltern weiter unter Stress setzen.
Auch von festen Terminen rät Sühr ab. »Das bekommt man ja doch nie hin, weil das Kind genau dann gewickelt oder gefüttert werden muss, wenn man gerade losgehen will. Ich empfehle, stattdessen einen groben Termin auszumachen und den genauen Zeitpunkt dann mitzuteilen, wenn man wirklich auf dem Weg ist.« Nur wer den Einfluss äußerer Faktoren so gering wie möglich hält, könne sich im eigenen Eltern-Kind-Rhythmus eingrooven.
Stellvertreterkonflikte – und die wahren Fragen
Ein typisches Phänomen für frischgebackene Eltern sind so genannte Stellvertreterkonflikte. Gestritten wird in diesen Fällen nicht über die Themen, die Mutter und Vater wirklich beschäftigen und an ihrem Innersten rütteln. Ein solch sensibler Punkt ist das Sexualleben und die Liebe zueinander. Jennifer Sühr arbeitet hier gern mit dem Bild zweier Pole: Bindung und Autonomie.
»Lernt sich ein Paar kennen, stehen beide Partner gerade etwa in der Mitte dieser Pole«, sagt Sühr. »Wenn ein Kind auf die Welt kommt, verschiebt sich das. Der Vater wandert Richtung Autonomiepol, er arbeitet, hat ein berufliches Netzwerk, trifft Freunde privat, führt ein recht unabhängiges Leben. Die Mutter hingegen ist dann am Bindungspol, sie ist hauptsächlich daheim und geht allenfalls noch mit einer Freundin spazieren.« In dieser Phase entstehen Ängste: Hat er vielleicht eine andere? Und er schürt die Zweifel, indem er sich über zu wenig Sex beschwert. Über die wichtigen Fragen wird nicht geredet: Liebst du mich? Begehrst du mich? Brauchst du mich? Sondern darüber, wer öfter das Bad putzt.
Zeit für Gespräche ist rar, gerade bei jungen Eltern. Auch hier, sagt Jennifer Sühr, solle man sich entspannen und die Ansprüche runterschrauben. Wenn es eine Oma oder eine Freundin gibt, die den Säugling gut beruhigen und mal eine Stunde nehmen kann – ein Glücksfall. Den braucht man aber nicht unbedingt. Beim gemeinsamen Spaziergang mit dem schlafenden Kind lässt sich ebenso gut Beziehungspflege betreiben. »Es ist wichtig, dass beide Partner hier ins Sprechen miteinander kommen und darauf achten, dass es nicht um Vorwürfe und die Aufteilung der Haushaltsaufgaben geht«, sagt Sühr, »sondern sich für den anderen zu interessieren, zu fragen: Wie ist dein Alltag? Was machst du, wenn ich nicht da bin? Wie geht es dir?«
Tobias und Friederike haben inzwischen die Donnerstagspizza eingeführt. An dem Abend ist kein Handballtraining und Justus schläft recht früh, weil er lange in der Kita ist. Es gilt ein Smartphone- und Netflixverbot, sobald der Pizzabote an der Tür klingelt. Und: ein Justusverbot. »Mal ein, zwei Stunden miteinander zu reden, ohne dass das eigene Kind das Hauptthema ist – das war für uns am Anfang eine riesige Herausforderung«, erzählt Friederike. »Gleichzeitig hat uns das gezeigt, wie sehr wir uns als Paar aus den Augen verloren hatten.« Noch mal, da sind sich beide sicher, wird ihnen das nicht passieren.
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