Neurowissenschaft: Ab wann träumen wir - und was?
Erwachsene verbringen etwa zwei Stunden pro Nacht im REM-Schlaf. Dabei tanzen die Augen unter den Lidern, der Rest des Körpers aber ist wie gelähmt, und das Gehirn ist auf eine Weise aktiv, die dem Wachzustand ähnelt. Meist träumen Menschen während dieser Zeiten rapider Augenbewegungen. Und je jünger der Schlafende ist, desto mehr Zeit scheint er im REM-Schlaf zu verbringen: Bei Kindern von einem Jahr sind es etwa vier Stunden pro Tag, bei Neugeborenen noch acht und um die 32. Schwangerschaftswoche sogar bis zu 20 Stunden. Aber träumen Neugeborene und Kinder im Mutterleib dabei auch? Und wenn ja, wovon?
Schon im Jahr 1877 berichteten die Ärzte Ludwig Witkowski und Eduard Rählmann von der Universität Straßburg im »Archiv für Anatomie und Physiologie« von langsam rollenden Bewegungen der Augäpfel im Schlaf. Doch erst ein dreiviertel Jahrhundert später, im Jahr 1953, beschrieben die beiden Forscher Eugene Aserinsky und Nathaniel Kleitmann von der University of Chicago, dass die Augen in bestimmten Schlafphasen »schnelle, ruckartige und beidseitig symmetrische Bewegungen« vollführen. Gemessen hatten sie die Bewegungen bei zehn Schlafenden mit elektrischen Ableitungen der Augenmuskeln (EOG).
Um herauszufinden, wie tief ihre Probanden während der Phasen schliefen, weckten die Forscher diese immer, wenn die Augen zuckten. Fast alle Teilnehmer berichteten dann von »detaillierten Traumerlebnissen, meist mit visuellen Inhalten«, wie Aserinsky und Kleitmann in ihrem Artikel im Journal »Science« schrieben. Aber noch etwas anderes fiel den Autoren auf: In einem primitiven EEG mit je nur einer Elektrode auf Stirn und Hinterkopf sahen die Forscher während der schnellen Augenbewegunen ohne Ausnahme eine Hirnaktivität »mit geringer Amplitude und irregulärer Frequenz«, ganz ähnlich jener im Wachzustand. »Diese physiologischen Phänomene und auch das Träumen«, schließen Aserinsky und Kleitmann, »sind sehr wahrscheinlich Ausdruck einer bestimmten für den Schlaf normalen kortikalen Aktivität.«
Noch heute gehören EEG und EOG zu den Standardmethoden der Schlafforschung, und die schnellen Augenbewegungen des REM-Schlafs gelten als eines der Hauptzeichen dafür, dass ein Schläfer gerade träumt. Über den Schlaf vor der Geburt ist vergleichsweise wenig bekannt. Das liegt vor allem daran, dass Kindern im Bauch der Mutter kein EEG angelegt werden kann. Dass Föten überhaupt so etwas wie REM-Schlaf haben, wissen wir aus Ultraschallaufnahmen. Als Erster berichtete der Radiologe Jason Birnholz von der Harvard University im Journal »Science« (1981) von »Augenbewegungen, wie sie durch direkte Beobachtung und elektrookulografische (EOG) Aufnahmen beim Neugorenen beobachtbar sind«. Zwischen der 29. und 33. Woche beobachtete Birnholz diese Augenbewegungen in mehr als 80 Prozent der Aufnahmezeit.
Einem Fötus kann man kaum Informationen abringen
Ob im Gehirn der Föten dabei das Gleiche geschieht wie bei träumenden Kindern und Erwachsenen, ist allerdings unklar. »Das können wir heute noch nicht beantworten«, sagt Professorin Janet DiPietro, Entwicklungspsychologin an der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Baltimore (USA). DiPietro untersucht seit rund 15 Jahren die Entwicklung der Fähigkeiten von ungeborenen Kindern. Aus ihrem Bericht wird deutlich, wie stark der Zugang zur Welt und die Hirnaktivität eines Fötus begrenzt sind. »Außer den Augenbewegungen können wir die Bewegungen des Körpers im Ultraschall sehen und das Muster des Herzschlags messen«, sagt sie. Das sei aber so ungefähr alles, was man dem Fötus an Informationen abringen könne.
Was man dennoch schon eindeutig sagen kann, ist, dass die Augenbewegungen, die Herzaktivität und das Bewegungsmuster ab etwa der 32. Schwangerschaftswoche denen von Kindern und Erwachsenen im REM-Schlaf sehr stark ähneln. Außerdem haben Föten in den Wochen vor der Geburt immer längere Phasen, die entweder an Tiefschlaf oder an eine Art Wachzustand erinnern. Wie ähnlich der REM-Schlaf vor und nach der Geburt ist, zeigt auch eine weitere Beobachtung: Föten haben eine REM-Erektion. Von dieser Schwellung der Geschlechtsteile bei Männern berichteten im Jahr 1965 drei New Yorker Psychiater im »Journal Archives of General Psychiatry«. Im Jahr 1983 folgte der Nachweis des Äquivalents bei Frauen. Und im Jahr 1995 zeigte eine Forschergruppe vom Kyushu University Hospital in Fukoka (Japan), dass REM-Phasen auch bei Föten von REM-Erektionen begleitet sind. Im dritten Trimester der Schwangerschaft also zeigen Kinder zumindest äußerlich alle sichtbaren Zeichen des Traumschlafs.
»Aus neurologischer Sicht passiert bei der Geburt nichts von Interesse«
Janet DiPietro
Eine große Zäsur scheint die Geburt dann nicht mehr zu sein. »Aus neurologischer Sicht passiert bei der Geburt nichts von Interesse«, sagt Janet DiPietro. Die Argumentation für das Träumen beim Fötus ist daher eher eine negative: Wenn man annimmt, dass Neugeborene träumen, gibt es keinen Grund, das nicht auch für einen Fötus in den Wochen vor der Geburt anzunehmen. Und wovon träumen Kinder dann vor und nach der Geburt? »Wir vermuten, dass sie von ihren eigenen Sinneseindrücken träumen«, sagt DiPietro. »Bei Neugeborenen zum Beispiel von einfachen Eindrücken wie hell oder dunkel, warm oder kalt.« Im Mutterleib dagegen überwiegen dumpfe Geräusche, wie die Stimme der Mutter, Berührungen der Gebärmutterwand und der Nabelschnur, Emotionen, Körperempfindungen, Geschmack. Wenn sie träumen, dann vermutlich Variationen dieser ersten Sinneseindrücke. »Indische Kinder träumen vielleicht vom Geschmack eines Currys«, sagt DiPietro. Das sei aber reine Spekulation.
Vielleicht lässt sich zumindest grob eingrenzen, wie weit das Gehirn entwickelt sein muss, damit es überhaupt die Aktivitätsmuster des Träumens erzeugen kann. Seit Mitte der 1970er Jahre wissen wir, dass die Tief- und Traumschlafphasen vom Hirnstamm kontrolliert werden. Im Jahr 1975 berichtete ein Forschertrio von der Harvard University in »Science«, dass bei Katzen eine Gruppe von Nervenzellen im Hirnstamm immer dann aktiv wurde, wenn die Tiere sich im Tiefschlaf befanden. Diese REM-OFF getauften Zellen schienen die Gegenspieler einer anderen Hirnstamm-Zellgruppe zu sein, der REM-ON-Zellen, deren Aktivität kurz vor dem REM-Schlaf zunimmt. Heute wissen wir, dass REM-ON-Zellen, vermittelt über eine Zwischenstufe im Thalamus (der zentralen Umschaltstelle für Signale aus den Sinnesorganen), die Hirnrinde im REM-Schlaf auf eine Weise aktivieren, die Träume auslöst. Gleichzeitig blockieren REM-ON-Zellen die Bewegungssignale an die Muskulatur, so dass wir Träume nicht ausagieren.
Anatomisch spricht nichts gegen Fötus-Träume
Solche neuroanatomischen Verbindungen müssen vorhanden sein, damit die REM-ON-Zellen im Kortex eine Traumaktivität auslösen können. Vieles spricht dafür, dass die nötigen Nervenbahnen und Hirnareale bereits vor der Geburt aktiv sind. Die Verbindungen zwischen Thalamus und Kortex etwa wachsen ab der 24. Woche in den somatosensorischen, auditorischen, visuellen und frontalen Kortex ein. Spätestens ab der 30. Woche werden die Schmerzbahnen zum Kortex aktiv. Und bei der Geburt hat der visuelle Kortex längst genügend aktive Synapsen, um zum Beispiel auf Sehreize zu reagieren. Im EEG zeigen sich dann auch die typischen kortikalen Aktivitätsmuster des REM-Schlafs. Zumindest aus anatomischer Sicht spricht also nichts dagegen, dass Föten irgendwann nach der 32. Woche zu träumen beginnen.
»Trotzdem muss zwischen REM-Schlaf und Träumen unterschieden werden«, sagt Allan Hobson, einer der drei Entdecker der REM-OFF-Zellen. Hobson ist heute Professor emeritus für Psychiatrie an der Harvard University. »Ob Föten im REM-Schlaf in der Weise träumen, wie wir es kennen, werden wir vielleicht nie beantworten können«, sagt er. Trotzdem hält er es für wichtig, darüber klug zu spekulieren. Das zwinge dazu, wichtige Fragen zu stellen, zum Beispiel, was Bewusstsein überhaupt ist und wie man es messen kann.
Hobson selbst hat eine Theorie formuliert, nach der die REM-Aktivität auch im Fötus eine Art Bewusstsein erzeugt. Im Jahr 2009 stellte er sie in »Nature Reviews Neuroscience« vor. Aus seiner Perspektive erzeugt REM-Schlaf eine virtuelle Realität, ein Protobewusstsein, wie er es nennt, »inklusive eines imaginären Agenten (des Protoselbst), das sich durch einen vom Gehirn erzeugten Raum bewegt und dabei starke Emotionen erfährt«. So aktiviere sich das Gehirn auf eine Weise selbst, die Erlebnisse im Wachzustand vorwegnehme – im träumenden Fötus als Vorbereitung auf das Wachsein nach der Geburt, später dann zunehmend als Mittel, um das interne Modell der Realität zu optimieren.
Optimierung des REM-Schlafes vergisst Unwichtiges
Wie genau diese Optimierung des REM-Schlafs funktionieren könnte, hat Hobson zusammen mit seinem Kollegen Karl Friston vom University College London in einem Review-Artikel aus dem Jahr 2014 vorgestellt. Ihre Theorie ist stark von einem Ansatz der künstlichen Intelligenz inspiriert: dem Wake-Sleep-Algorithmus des KI-Pioniers Geoffrey Hinton. Kurz gesagt werden dabei unnötige Verbindungen in künstlichen neuronalen Netzen gelöscht. Das spart Ressourcen und erlaubt es dem Netzwerk, seine erlernten Objektkategorien zu verallgemeinern. Das Netz vergisst dabei Details, die für die Erkennung eines Objekts keine Rolle spielen, zum Beispiel das genaue Muster der Flecken im Fell eines Dalmatiners.
Im lebenden Gehirn könnte diese Art der Optimierung während des REM-Schlafs stattfinden und dabei unsere Traumerlebnisse erzeugen, so die Vorhersage von Hobson und Friston. Tatsächlich zeigte eine erste Studie in »Nature Neuroscience« im Jahr 2017, dass REM-Schlaf in Mäusen neue Synapsen selektiv zurechtstutzt. Demnach »hat der REM-Schlaf vielfältige Funktionen bei der Gehirnentwicklung, dem Lernen und der Gedächtniskonsolidierung, indem er neu gebildete Synapsen selektiv eliminiert und aufrechterhält«, wie die Autoren von der Peking und der New York University schreiben.
Dass Neugeborene und Föten so viel Zeit im REM-Schlaf verbringen, könnte also daran liegen, dass ihr Gehirn jede Menge Synapsen stärken oder entfernen muss. Ob sie dabei träumen, lässt sich noch nicht eindeutig bejahen. Bisher spricht zumindest nichts dagegen. In Zukunft könnten fMRT-Aufnahmen des Gehirns im Mutterleib die These aber untermauern. Denn die typischen Aktivitätsmuster des Gehirns beim Träumen sind schon seit Jahren bekannt. Sollten diese auch im Hirn von Föten während des REM-Schlafs auftreten, könnte das die Frage klären, wann der Mensch zum ersten Mal träumt.
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