Literaturwissenschaft: Was Mathematik über literarische Werke erzählt
Ein gutes Buch ruft beim Lesen eine Vielzahl von Emotionen hervor. Tatsächlich vermitteln fast alle Romane und Dramen nur eines von sechs »emotionalen Erlebnissen«: etwa das ansteigende Glücksgefühl, das bei William Shakespeares »Wintermärchen« aufkommt, oder die anfängliche Euphorie und anschließende Katastrophe bei »Romeo und Julia«. Forscher von der University of Vermont haben die Wörter, die Freude oder Trauer vermitteln, in mehr als 1300 Büchern grafisch dargestellt, um den Verlauf der vermittelten Emotionen in den Werken aufzuzeigen. Überraschenderweise fanden sie dabei recht wenig Variation.
Eine polnische Studie hat sich hingegen den Satzlängen in verschiedenen Werken gewidmet und häufig fraktale Muster ausgemacht. Dabei handelt es sich um Strukturen, die sich in kleinem und großem Maßstab wiederholen: Wenn man ein ganzes Buch betrachtet, ähnelt die Variation der Satzlängen jener innerhalb eines einzelnen Kapitels.
Der Hauptautor der erstgenannten Studie, Andrew J. Reagan, hält es für wichtig, literarische Werke mit mathematischen Methoden zu untersuchen. Durch die Unmengen von Daten, die das Humangenomprojekt generiert hat, hätten wir viel über Gene gelernt, erläutert er. »Vielleicht können uns die literaturwissenschaftlichen Daten auch mehr über die Geschichten beibringen.«
Emotionaler Spannungsbogen
Etwa 85 Prozent der 1327 fiktiven Geschichten aus dem »Project Gutenberg« (einer freien digitalen Bibliothek) folgen einem von sechs verschiedenen emotionalen Verläufen (fette Kurven). Die Kurven ergeben sich durch Wörter des Textes, die entweder Freude oder Trauer transportieren (hellblau). Alle untersuchten Bücher waren englischsprachig und enthielten weniger als 100 000 Wörter. Hier sind einige Beispiele:
Fraktaler Satzbau
Der Satzaufbau und die Satzlänge in 113 berühmten literarischen Werken verschiedener Sprachen weisen fast immer fraktale Muster auf. Bücher mit der Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, wie »Finnegans Wake« von James Joyce, enthalten extrem viele sich wiederholende Satzelemente, im Gegensatz zu Werken wie »Die Wellen« von Virginia Woolf. Trotz dieser Unterschiede haben beide Bücher fraktale Satzstrukturen.
Querverbindung
Die Forscherinnen und Forscher haben sich ebenfalls die emotionalen Verläufe zu »Finnegans Wake« und »Die Wellen« angesehen. Auch diese beiden Werke folgen je einem der sechs zuvor gezeigten emotionalen Spannungsbögen (fette Kurven). Ob Bücher derselben Kategorie ähnliche fraktale Satzstrukturen aufweisen, ist bisher nicht geklärt.
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