Evolution der Geschlechter: Männchen zu Weibchen, Weibchen zu Männchen
Die Verwandlung begann, nur zehn Minuten nachdem ein Taucher das einzige Männchen der Gruppe von Blaukopf-Junkern (Thalassoma bifasciatum) entführt hatte. Das größte Weibchen änderte sein Verhalten dramatisch: Plötzlich schwamm es die anderen Weibchen an, als könnte es sich mit ihnen paaren. Konnte es allerdings noch nicht, denn die Maschinerie der Gennetzwerke und Hormone lief gerade erst warm. Aber schon zehn Tage später produzierte das einstige Weibchen Spermien.
Von 500 der etwa 28 000 Arten von Knochenfischen ist bekannt, dass sie das Geschlecht wechseln können. Bei vielen Lippfischen ist diese Art der Geschlechtsumwandlung Teil des Lebens. Der Blaukopf-Junker aus der Karibik hilft Forscherinnen und Forschern zu klären, wie diese Geschlechtsumwandlungen ablaufen und sich Geschlechtsmerkmale entwickeln. Nicht zuletzt sollen die Ergebnisse dazu beitragen, die Evolution von Geschlechtern und Sex zu verstehen.
Es fehlt bei den Fischen nicht an Vielfalt in der Umwandlungsstrategie: Männchen zu Weibchen, Weibchen zu Männchen – getriggert durch Verhaltensweisen, Temperatur oder Alter des Fischs. Dass Tiere ein genetisch festgelegtes Geschlecht als Embryo entwickeln und dabei bleiben, ist zwar bei den Wirbeltieren die Regel, aber Fische bilden eine Ausnahme in unserer evolutionären Verwandtschaft.
Erst Eierstöcke abbauen, dann Spermien produzieren
Diese erstaunliche Wandelbarkeit der Fischgeschlechter erforscht Neil Gemmell von der University of Otago in Dunedin, Neuseeland. Er begeisterte sich schon als Kind für die radikalen Umwandlungen, die bei Zwittern ablaufen: »Als ich erfuhr, dass einige der Tiere, die ich an unserem heimischen Steg in Wellington herausfischte, als Weibchen ihr Leben starten und dann zum Männchen werden, hat mich das sofort fasziniert. Ich wollte wissen, wie das geht.«
Auch er arbeitet mit den Blaukopf-Junkern aus Florida, die zum Vorzeigebeispiel auf seinem Feld avanciert sind. Und Gemmell steckte hinter der folgenschweren Entführung. Seine Mitarbeiterin Erika Todd und Kollege John Godwin an der North Carolina University entfernten die Männchen aus Gruppen von Junkern. Ihr Ziel: die Weibchen zur Geschlechtsumwandlung zu zwingen und die Umwandlung molekular zu beschreiben.
Das Forschungsteam analysierte die genauen Schritte vom Weibchen zum Blaukopf Männchen. Dabei fanden sie, dass innerhalb von zehn Tagen die Geschlechtsorgane, Gonaden genannt, vollständig umgewandelt werden. Die Eierstöcke werden abgebaut, und das Gewebe fängt an, Spermien zu produzieren, wie die Wissenschaftler vergangenes Jahr im Fachmagazin »Science Advances« veröffentlichten.
Gesteuert wird die Umwandlung hormonell. Ein kompliziertes Netzwerk von Steroidhormonen wie etwa Östrogene und Testosteron wirkt auf das Gewebe ein und schaltet Gene für die Entwicklung der männlichen Gonaden an. »Am Anfang stehen wahrscheinlich Stresshormone wie Kortisol«, erklärt Gemmell. Der größte weibliche Fisch bemerkt, dass ein Männchen fehlt, woraufhin hormonelle Kaskaden über den Hypothalamus und die Hypophyse im Gehirn die Umwandlung einleiten.
Der Forscher konzentriert sich mit seiner Arbeitsgruppe auf die genetischen und epigenetischen Mechanismen hinter der Geschlechtsumwandlung. Im Tier ringen weibliche und männliche Gennetzwerke und Hormonkaskaden um die Vormacht im Körper. Damit die Entwicklung von Geschlechtsmerkmalen dauerhaft ist, braucht es bei den Fischen aber kleine chemische Veränderungen an der DNA von Zellen in den Keimdrüsen, stellte Gemmell fest. Diese epigenetischen Veränderungen, die in die Biosynthese der Hormone eingreifen – unter anderem an dem Gen für das Enzym Aromatase – machen die Umwandlung langfristig.
Zwittrigkeit ist vielfältig
Erst weiblich, dann männlich – das nennt sich unter Forschern »protogyner sequenzieller Hermaphrodit«. Dies allerdings ist nur eine der vielen Spielarten der Geschlechtsumwandlung bei Fischen. Tatsächlich ist eine ganze Nomenklatur nötig, um die vielfältigen Varianten von Zwittrigkeit und Geschlechtswechsel zu beschreiben.
Eine andere geschlechtswandelnde Gattung genoss mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit in der Filmbranche wie in der Verhaltensforschung: die Anemonenfische. Auch der geliebte Clownsfisch und Vorbild für den Filmstar Nemo wechselt nämlich das Geschlecht: aber vom Männchen zum Weibchen – so genannte protandrische Zwitter. In einer realistischen Version des Disney-Films wäre Nemos Vater nach dem Verlust seiner Partnerin selbst zum dominanten Weibchen herangereift und der kleine Halbwaise Nemo eher in einer Art Männerharem mit Matriarchin aufgewachsen. Nemo schlüpfte seinerseits als unreifes Weibchen, würde später zum geschlechtsreifen Männchen und könnte schließlich vielleicht selbst zur Matriarchin aufsteigen.
Wie es überhaupt dazu kommen konnte, dass diese komplizierten Umwandlungen in den Fischarten entstanden, die bei den anderen Wirbeltieren selten sind, wollen Evolutionsbiologen ergründen. Jennifer Hodge ist wie Neil Gemmell begeisterte Fischforscherin. Sie studiert Fischfarben, die Evolution der Fischmorphologie und die Geschlechtswandlungsfähigkeiten. Dafür katalogisierte sie die Variation der Geschlechtsorgane und Entwicklungsstufen innerhalb der Fischfamilie Labridae, der Lippfische und Papageienfische.
Zwitter, die nacheinander beide Geschlechter annehmen, wie etwa die Blaukopf-Junker, kommen in dieser Gruppe häufig vor. Neben solchen Geschlechtswechslern gibt es unter den Lippfischen so genannte gonochoristische Arten, die eher genetisch festgelegt getrennte Geschlechter ausbilden. Die meisten Wirbeltiere wie wir Menschen sind strikt gonochoristisch: Geschlechtsgene und die Hormonkaskade, die diese steuern, legen fest, welches Geschlecht sich im Embryo entwickelt und lebenslang bestehen bleibt.
Je größer die Clownfisch-Dame, desto mehr Nachwuchs
Welche dieser beiden Varianten bei einer bestimmten Art evolvierte, hängt mit den Paarungsstrategien der Arten zusammen, wies Jennifer Hodge nun nach. In einer Studie, die im März 2020 in der Zeitschrift »The American Naturalist« erschien, konnten sie und weitere Kollegen eine Hypothese aus den 1960er Jahren bestätigen: Geschlechtsumwandlungen entstehen in der Evolution, wenn bei einem Geschlecht größere Tiere mehr Nachkommen produzieren, bei dem anderen Geschlecht aber nicht.
Große Junker-Männchen zeugen erheblich mehr Nachkommen im Harem als kleine; große Junker-Weibchen jedoch nicht – auch wenn größere Weibchen mehr Eier produzieren, werden diese nur durch das dominante Männchen befruchtet. Bei den Clownfischen ist das Verhältnis umgekehrt. Dort stehen die Männchen vor den Weibchen Schlange, und größere Weibchen haben mehr Nachkommen. Unter diesen Arten mit Matriarchin kommt es zudem häufiger vor, dass die Tiere ihr Geschlechtsleben als Männchen beginnen.
»Wir hatten Daten zu Geschlechtsumwandlungen in 89 Arten der Familie Labridae«
Jennifer Hodge, Fischforscherin
»Wir hatten das Glück, auf vielen Studien aufbauen zu können – wir hatten Daten zu Geschlechtsumwandlungen in 89 Arten der Familie Labridae«, erklärt Hodge. Dank genetischer Datenbanken erfassten sie und ihr Team neben Geschlechtstyp und Paarungsverhalten außerdem die Verwandtschaftsbeziehungen der Arten. »Dieser Zusammenhang wurde bisher in einzelnen Arten untersucht oder in Bezug auf den Größenvorteil der Männchen in der Paarung, aber nicht hinsichtlich der Paarungsformen«, setzt sie hinzu.
Paarungsformen gibt es bei den Labriden sehr viele: Harems oder die als Leks bezeichneten Balzplätze, die eine Art Partnerbörse mit männlichen Showauftritten sind; man findet Gruppenlaichplätze oder einfach freie Fischliebe ohne jegliche Territorialität der Männchen oder Weibchen. Die Stammbaumanalyse gab nun Hinweise darauf, wie es der gemeinsame Vorfahr aller Labriden trieb. Er war – wie die Blaukopf-Junker – protogyner sequenzieller Hermaphrodit, also ein Fisch, der erst Weibchen ist und dann zum Männchen wird.
Laut den Berechnungen von Hodge paarten sich die Männchen in Leks mit mehreren Weibchen. Es war demnach keineswegs die Zwittrigkeit, die sich in dieser Artengruppe neu bildete – im Laufe der Evolution entwickelten sich getrennte, genetisch festgelegte Geschlechter mehrfach unabhängig voneinander. Indem man die Verwandtschaftsverhältnisse in den Labriden rekonstruierte, konnte Hodge auch berechnen, woran das mutmaßlich lag.
Neue Geschlechterrolle im 20-Minuten-Takt
In der Evolution der Lippfische folgte laut Hodge eine neue Art der Geschlechtsentwicklung auf eine veränderte Art der Partnerwahl. Demnach entstand Gonochorismus immer dort, wo besonders viel Promiskuität herrschte. Gruppensex förderte also die Evolution von getrennten Geschlechtern – jedenfalls bei den Knochenfischen.
»Fische sind die einzigen Wirbeltiere, die von selbst das Geschlecht wechseln«, sagt Hodge. Der Grund ist nicht bekannt, doch es gebe hierzu eine Reihe von Ideen. Nach Ansicht der Forscherin ist am wahrscheinlichsten, dass bei Fischen allgemein beide Arten von Keimdrüsen aus einem Urgewebe entstehen und nicht aus zwei Gewebevorläufern wie bei anderen Wirbeltieren. Einige Zackenbarsche haben sogar Organe, die sowohl Eier als auch Spermien herstellen können – sie wechseln ihre Geschlechterrolle im 20-Minuten-Takt.
Neil Gemmell dagegen vermutet, die Erklärung liegt eher in der Genetik. Nur wenige Fische haben echte Geschlechtschromosomen wie unser menschliches X und Y. Stattdessen spielen viele verschiedene Gene eine Rolle in der Stabilisierung des Geschlechts. »Knochenfische haben die genetische Flexibilität, um eine solche Vielfalt an Geschlechtern zu entwickeln«, sagt er. »Vor etwa 350 Millionen Jahren verdoppelte sich ihr gesamtes genetisches Material.« In vielen Fischen, die ihr Geschlecht wechseln können, gebe es eine Menge verdoppelter Gene. »Sie übernehmen komplett gegensätzliche Aufgaben in der Geschlechtsregulierung wie in den restlichen Wirbeltieren.«
Auch Hodge sieht in solchen genetischen Bedingungen einen wichtigen Grund für die sexuelle Vielfalt der Fische. Einzigartig sei, dass in diesem Fall ein Verhalten die Schlüsselrolle in der Evolution von Geschlechtsformen gespielt hat, führt Hodge weiter aus: »Verhalten verändert sich zwischen Generationen sehr schnell und braucht deswegen viel Zeit, um eine Auswirkung auf die eher trägen physiologischen Eigenschaften von Organen zu haben.« In anderen Wirbeltieren sei dies eher unwahrscheinlich.
»Nur wenn die Geschlechtsorgane wie bei den Fischen entwicklungsgenetisch flexibel sind, kann Verhalten sich auf die Geschlechtsdeterminierung auswirken«, fügt Hodge hinzu. Wegen solcher genetischer Parallelen und Unterschiede lassen sich nach Ansicht von Gemmell aus der Forschung ebenso Schlussfolgerungen auf Menschen ableiten. Etwa 30 Gene, die an der Differenzierung der Eierstöcke und Hoden beteiligt sind, haben wir immerhin mit allen Wirbeltieren gemein. Und damit auch mit den flexiblen Lippfischen.
Vorher allerdings wollen Gemmell und seine Kollegen klären: Was genau brachte das plötzlich seines Männchens beraubte Blaukopf-Junker-Weibchen dazu, das Geschlecht zu wechseln? Dieser Punkt sei trotz umfangreicher Forschung immer noch unklar. Der Forscher vermutet als Signal einfach, dass plötzlich kein Männchen mehr zu sehen ist.
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