Weibliche Sexualität: Auf der Suche nach der Klitoris
Wenn die Sexualpädagogin Karoline Heyne Jugendlichen ein Modell der Klitoris zeigt, schaut sie in überwiegend ratlose Gesichter. »Schätzungsweise bis zu 90 Prozent haben keine Ahnung, was das sein soll«, berichtet sie. »Manche raten drauflos: ›Vielleicht ein Kleiderhaken?‹« Dabei handele es sich bei der Klitoris um den zentralen Körperteil für die weibliche Lust. Und sie ist wesentlich größer, als viele annehmen.
Möglicherweise erkennen die erwähnten Jugendlichen das Modell aber auch deshalb nicht, weil ein Großteil der Klitoris von außen nicht sichtbar ist: Das weit verzweigte Sexualorgan ragt etwa neun Zentimeter lang in den Körper der Frau hinein. Von außen sichtbar ist lediglich die Klitoriseichel oberhalb der inneren Vulvalippen, auch Kitzler genannt. Sie sitzt auf dem Klitoriskörper, der sich in zwei Schenkel teilt. In diesen befinden sich die Klitorisschwellkörper. Daneben gibt es zwei Vorhofschwellkörper, Vorhofbulben genannt, die Harnröhre und Vagina hufeisenförmig umgeben.
»Die meisten Frauen und Mädchen haben noch nie den Fokus darauf gelegt, wie sich eine erregte Klitoris anfühlt«
Karoline Heyne, Sexualpädagogin
Ist eine Frau erregt, füllen sich die Schwellkörper mit Blut, wodurch ihre Größe um rund 30 Prozent zunehmen kann. Der obere Teil der Klitoris richtet sich leicht auf und die Eichel tritt hervor. »Die meisten Frauen und Mädchen haben jedoch noch nie den Fokus darauf gelegt, wie sich eine erregte Klitoris anfühlt«, sagt Karoline Heyne. Bei Jungen spielten Penis und Selbstbefriedigung häufig eine große Rolle. »In Bezug auf die Klitoris begegnen mir dagegen Halb- und Unwissen und viel Unsicherheit.«
Die Beobachtungen der Sexualpädagogin aus Leipzig decken sich mit Berichten von Frauen in Blogs oder Onlineforen und mit Erfahrungen von Ärztinnen und Ärzten, die teils mit Büchern oder Youtube-Videos versuchen, dem Informationsmangel entgegenzuwirken. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte: Der Aufbau und die Funktion der Klitoris für die weibliche Lust wurden schon vor Jahrhunderten erforscht. Warum ging das Wissen verloren?
Diese Frage beschäftigt auch Daniel Haag-Wackernagel, emeritierter Professor für Biologie in der Medizin am Anatomischen Institut der Universität Basel. Seit fünf Jahren sucht er nach Darstellungen der Klitoris in alten und neuen Schriften und trägt die Erkenntnisse zusammen. Mit zunehmender Faszination: »Was im Lauf der Zeit alles passiert ist, ähnelt einem Krimi«, sagt er.
Wieso ging das Wissen um die Klitoris verloren?
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Klitoris begann im 16. Jahrhundert. Als sich das Sezieren von Leichen verbreitete, interessierten sich gleich mehrere Anatomen für das Sexualorgan. Es entstanden erste, meist noch ungenaue Abbildungen. Spätestens durch die Darstellungen des niederländischen Arztes Reinier De Graaf (1641–1673) war die Anatomie der Klitoris gut bekannt. Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlichte der deutsche Anatom Georg Ludwig Kobelt (1804–1857) schließlich eine derart präzise Darstellung des Organs, dass Fachleute bis heute davon schwärmen. »Diese anatomischen Zeichnungen können weiterhin uneingeschränkt verwendet werden«, sagt Daniel Haag-Wackernagel. Schon Kobelt erkannte, dass die Klitoris eine hohe Nervendichte aufweist und daher wichtig für die Entstehung sexueller Erregung sein muss – im Gegensatz zur Vagina, in der er vergleichsweise wenige Nerven fand.
Doch die Erkenntnisse stießen auf gesellschaftlichen Widerstand. Masturbation galt im 19. Jahrhundert zunehmend als unnatürlich und stand im Verdacht, Krankheiten wie Pocken und psychische Leiden auszulösen. Der britische Gynäkologe Isaac Baker Brown (1811–1873) propagierte die Entfernung der Klitoriseichel unter anderem bei Hysterie und Epilepsie. Nachrichten vom angeblichen Erfolg seiner Behandlungsmethode verbreiteten sich bis in die USA, wo Brown Nachahmer fand.
»Die Gynäkologie war zu dieser Zeit ganz auf die Fortpflanzung ausgerichtet. Und für eine erfolgreiche Befruchtung war die weibliche Lust nicht unbedingt nötig«
Daniel Haag-Wackernagel, Professor für Biologie in der Medizin
Anfang des 20. Jahrhunderts trug der Psychoanalytiker Sigmund Freud zur Abwertung der Klitoris bei: Er meinte, dass ihre Stimulation lediglich zu einem Orgasmus des unreifen Kindes führe. Die reife Frau dagegen erlebe einen vaginalen Orgasmus beim Geschlechtsverkehr. »Auch die Gynäkologie war zu dieser Zeit ganz auf die Fortpflanzung ausgerichtet. Und für eine erfolgreiche Befruchtung, so stellte man fest, war die weibliche Lust nicht unbedingt nötig«, erklärt Daniel Haag-Wackernagel. So galt die Klitoris zunehmend als überflüssig.
Das wirkte sich auch auf die anatomischen Lehrbücher aus. Während im medizinischen Standardwerk »Gray’s Anatomy« im 19. Jahrhundert noch eine genaue Darstellung der Klitoris erschien, wurde das Sexualorgan in der Ausgabe von 1901 nur als kleine Wölbung gezeigt. 1913 war es gar nicht mehr zu finden. »Nach dem Ersten Weltkrieg verschwanden die präzisen Zeichnungen der deutschen Anatomen wie Georg Ludwig Kobelt ebenfalls aus den französischen Werken«, sagt Daniel Haag-Wackernagel. »Und mit den Darstellungen auch das Wissen.«
Feministinnen entlarven vaginalen Orgasmus als Mythos
Erst Mitte des 20. Jahrhunderts stieg das Interesse an der weiblichen Sexualität wieder an. »Ab den 1950er Jahren kamen Feministinnen durch Selbstuntersuchungen zu dem Schluss, dass die Klitoris größer sein musste als allgemein angenommen«, sagt der Biologe. Zudem entlarvten sie den freudschen vaginalen Orgasmus als Mythos. Von der Wissenschaft blieb die Klitoris dagegen weiterhin unbeachtet – bis der australischen Urologin Helen O'Connell von der University of Melbourne auffiel, dass sich die Abbildungen der weiblichen Genitalien in ihren Anatomiebüchern deutlich von dem Organ unterschieden, das sie beim Sezieren von Frauenleichen vorfand.
Die Klitoris werde viel zu klein dargestellt, ihre Schwellkörper und ihre Position im Verhältnis zur Harnröhre würden falsch oder gar nicht gezeigt, schrieb O'Connell 1998 und wurde daraufhin von Feministinnen weltweit als Entdeckerin der wahren Größe des Sexualorgans gefeiert. Im Jahr 2005 veröffentlichte Helen O'Connell die ersten Aufnahmen der Klitoris mit Magnetresonanztomografie (MRT). »Die Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert waren zwar viel genauer als die MRT-Aufnahmen«, stellt Haag-Wackernagel klar. »Aber als Helen O'Connell vor 20 Jahren aktiv wurde, herrschte in der Wissenschaft blankes Unwissen über die Klitoris, da die alten Werke nicht mehr bekannt waren.«
Heute interessieren sich weltweit weiterhin nur wenige Forschende für das Organ. Dabei gäbe es viel zu entdecken: »Es fehlen insbesondere Untersuchungen und Abbildungen der Gefäßversorgung und Innervierung«, sagt Daniel Haag-Wackernagel. Für das Gefühl der sexuellen Erregung und den Orgasmus ist vor allem die Klitoriseichel verantwortlich. Schätzungsweise rund 8000 freie Nervenendigungen machen sie hochempfindlich. Dazu kommen spezielle Rezeptoren: Die Genitalkörperchen registrieren Berührung und gleitenden Druck, die Vater-Pacini-Körperchen nehmen vor allem Vibrationsreize wahr. »Wir wissen jedoch nicht genau, wie die Genitalkörperchen funktionieren, auf welche Frequenzen und Stimuli sie reagieren. Und es gibt keine diagnostischen Methoden, mit denen sich testen ließe, ob die Genitalkörperchen einer Frau funktionieren«, sagt der Biologe.
Operationen im Genitalbereich können Klitorisfunktion stören
Ein besseres Verständnis für die Blut- und Nervenbahnen ist für die Medizin in mehrfacher Hinsicht wichtig. Bei Operationen im Genitalbereich kann das Gefühl in der Klitoris empfindlich gestört werden. Solche Eingriffe finden zum Beispiel bei Tumoren und Inkontinenz statt. Zunehmend lassen Frauen das Aussehen ihrer Vulva operativ verändern oder das Fett des Venushügels absaugen. Auch bei der Wiederherstellung der Klitoris nach einer Genitalverstümmelung kommt es auf genaue Fachkenntnisse an. Zudem haben bis zu 43 Prozent der Frauen sexuelle Beschwerden, zum Beispiel Schmerzen, deren Ursachen oft nicht vollkommen verstanden sind. Die Nerven und Berührungsrezeptoren der Klitoris könnten hierbei eine entscheidende Rolle spielen.
»Die Sexualorgane des Mannes werden in den Lehrbüchern meist sehr ausführlich behandelt, während die Klitoris meist nur nebenbei erwähnt wird«
Daniel Haag-Wackernagel, Professor für Biologie in der Medizin
Viele Darstellungen der Klitoris in Anatomie- und Schulbüchern seien jedoch weiterhin falsch oder zu wenig detailliert – wenn das Organ überhaupt gezeigt werde, bemängelt Daniel Haag-Wackernagel. Ebenso die medizinische Ausbildung müsse sich ändern: »Die Sexualorgane des Mannes werden meist sehr ausführlich behandelt, während die Klitoris meist nur nebenbei erwähnt wird, was sich auch in den Lehrbüchern widerspiegelt«, sagt er.
Sexualpädagogin Karoline Heyne fordert eine bessere Aufklärung zukünftiger Biologielehrkräfte im Studium: »Viele gehen mit Falschinformationen aus Schulbüchern in den Unterricht, in denen die Klitoris höchstens als Wurmfortsatz oder Hautfalte dargestellt wird.« Dadurch lernten Mädchen zu wenig über ihren Körper. Das behindere sie auch darin, über das Erleben ihrer Lust oder Masturbation zu sprechen. »Ein unhaltbarer Zustand. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Informationen«, so Heyne.
Um dem Informationsmangel entgegenzuwirken, bietet Karoline Heyne Wochenendworkshops in Sexualkunde für Studierende des Biologielehramts an und hat eigene Unterrichtsmaterialien veröffentlicht. Daniel Haag-Wackernagel entwickelt seit 2017 Modelle der Klitoris und der Vulva als Aufklärungsmaterial für Ärztinnen und Ärzte und die Sexualpädagogik. Er fordert, nur noch Schulbücher zuzulassen, die die Klitoris korrekt darstellen, um in künftigen Generationen Unwissen zu verhindern.
Die Bedeutung der Klitoris für die Erregung zu erkennen, könne Frauen helfen, selbstverständlicher mit ihrer Lust umzugehen und sie nicht von der männlichen Sexualität abhängig zu machen, meint Sexualpädagogin Heyne. Eigene Erfahrungen könnten anders eingeordnet werden. In der Sexualberatung für Erwachsene beobachtet sie emotionale Reaktionen: »Viele werden traurig und fragen: ›Warum weiß ich das erst jetzt? Das hätte ich gerne früher gewusst.‹«
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