»Inner-crowd-Effekt«: Sich selbst zu widersprechen, macht klüger
Bei vielen Entscheidungen geht es um unbekannte Größen. Wie weit ist es von A nach B? Ist der Preis gut? Wie viel Zeit brauche ich für diese Aufgabe? Eine Versuchsreihe mit mehr als 6400 Teilnehmenden zeigt: Bei solchen Fragen kann man sich mit einem Trick behelfen und in Gedanken Rat bei einer Person einholen, die in der Regel eine andere Meinung vertritt.
Die Probandinnen und Probanden, angeworben über Online-Forschungsplattformen in den USA und Großbritannien, sollten zum Beispiel schätzen, wie viel eine Waschmaschine, ein Klavier oder ein Elefantenbaby wiegt. Dann wurden sie gebeten, noch einmal zu überlegen, aber auf unterschiedliche Weise: Die einen sollten einfach ein zweites Mal raten, die anderen dabei die Perspektive eines Freundes einnehmen, der in Sachen Politik ähnlich denkt wie sie. Und eine dritte Gruppe sollte sich einen Freund vorstellen, der häufig andere politische Ansichten vertritt: Was würde er sagen?
In der dritten Gruppe unterschied sich der zweite Tipp deutlicher vom ersten als in den beiden anderen Gruppen. Und genau das entpuppte sich als Vorteil: Die Mitte zwischen den beiden Tipps der dritten Gruppe kam dem richtigen Ergebnis am nächsten. Den Durchschnitt zwischen den beiden Tipps zu bilden, war nicht nur besser als der erste Tipp, sondern auch besser als die Mitte zwischen den ersten und den zweiten Tipps der anderen beiden Gruppen. Der wahre Wert lag bei ihnen nur in rund jedem fünften Fall zwischen den beiden Schätzungen – hingegen in jedem dritten Fall, wenn die fiktive Meinung eines anders denkenden Freundes einbezogen wurde.
Die Weisheit der vorgestellten Vielen
Die beiden Forscher Philippe van de Calseyde von der TU Eindhoven und Emir Efendic von der Universität Maastricht sprechen von einem »inner crowd effect«, angelehnt an »wisdom of the crowd«, die Weisheit der vielen. Bei Letzterer handelt es sich um das oft bestätigte Phänomen, dass der Mittelwert aus vielen unabhängigen Schätzungen einem wahren Wert in der Regel näher kommt als Einzelmeinungen. Doch offenbar braucht es keine reale Umfrage unter vielen: Es hilft schon, sich eine andere Meinung vorzustellen und das eigene Urteil entsprechend anzupassen – weil sich dann der zweite Tipp stärker vom ersten unterscheide, wie die Autoren erklären.
In bestimmten Fällen könne das allerdings auch von Nachteil sein: wenn es um Zahlen an den Rändern einer Skala geht. Beispielsweise bei der Frage, welcher Anteil der Bevölkerung in China dem Christentum anhängt (rund fünf Prozent): Bei niedrigen oder hohen Prozentzahlen führt ein zweiter Tipp, der deutlich vom ersten abweicht, eher vom richtigen Ergebnis weg.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.