Quantengravitation: Wird man je eine Weltformel finden?
Albert Einstein ist bekannt für seinen Haarschnitt, seine Relativitätstheorie und seine Überzeugung, dass die Begreifbarkeit der physikalischen Welt ein Wunder sei. Er meinte damit die Tatsache, dass der Mensch mit Hilfe von Wissenschaft, Mathematik und seiner eigenen Neurone physikalische Gesetze ableiten kann, denen das Universum zu gehorchen scheint.
Diese Gesetze erklären die Phänomene, die wir um uns herum sehen – dass Glühbirnen aufleuchten, dass Dinge der Schwerkraft folgen und herunterfallen sowie dass Atomkerne zusammenhaften und sich spalten lassen. Und sie helfen uns, künftige Ereignisse vorherzusagen – wie Kollisionen von Galaxien oder die Explosion von Sternen.
Aber selbst mit diesen Gesetzen und viel Wissen verstehen Fachleute das Universum noch nicht gänzlich – sie sind nicht einmal nahe dran. Was ist zum Beispiel Dunkle Materie, die unsichtbare Substanz, die Galaxien zusammenhält, oder Dunkle Energie, die rätselhafte Kraft, die die beschleunigte Expansion des Universums antreibt? Beide Begriffe tragen die Düsternis sogar im Namen, denn Physikerinnen und Physiker (und alle anderen) tappen angesichts dieser Größen im Dunkeln. Solche Rätsel zeigen deutlich, dass wir besser verstehen sollten, wie der Kosmos tickt.
Einige Fachleute glauben, dass dieses umfassendere Verständnis auf einer Weltformel basieren muss, der »Theory of everything« (englisch für: Theorie von Allem): einem einzigen theoretischen Grundgerüst, das das Universum erklärt. Andere wiederum glauben nicht, dass das Universum so verständlich ist, wie Einstein vermutet hat. Aus ihrer Sicht ist die Suche nach einer solchen Weltformel Zeitverschwendung – weil es nicht möglich sei, sie zu finden.
»Es geht darum, alle Kräfte der Natur in einer einzigen Kraft zu vereinen«Katherine Freese, Physikerin
Beide Seiten sind sich einig, dass der Mensch niemals eine Theorie von allem und jedem finden wird. Ganz gleich, wie erfolgreich eine Weltformel bei den Grundprinzipien des Universums sein mag, es ist unwahrscheinlich, dass diese jemals erklären kann, warum Sie lieber extra Essiggurken auf Ihrem Cheeseburger essen oder eine irrationale Angst vor Clowns haben. Wenn Personen poetisch von einer Weltformel schwärmen (oder sich darüber streiten), meinen sie etwas ganz Bestimmtes. »Es geht darum, alle Kräfte der Natur in einer einzigen Kraft zu vereinen«, sagt die Physikerin Katherine Freese, Professorin an der University of Texas in Austin.
Bislang haben Wissenschaftler vier solcher fundamentaler Kräfte entdeckt. »Es gibt den Elektromagnetismus«, erklärt Freese: »Also Elektrizität und Magnetismus – die kennt jeder.« Bekannt ist auch die Kraft, die dafür sorgt, dass man hinfällt: die Schwerkraft. Die beiden anderen sind eher unbekannt: die starke Wechselwirkung bindet Protonen und Neutronen in den Atomkernen zusammen, während die schwache Wechselwirkung dazu beiträgt, dass Atome und subatomare Teilchen durch eine bestimmte Form des radioaktiven Zerfalls auseinanderfallen.
»Die Vereinigung der vier Grundkräfte wird weit von einer Weltformel, der Wahrheit des Universums, entfernt sein«Demetris Nicolaides, theoretischer Physiker
Was Physiker mit »Alles« in einer Weltformel meinen, ist also ein einziger theoretischer Rahmen, der diese Kräfte als Manifestationen einer übergeordneten Kraft beschreibt. Dennoch: »Die Vereinigung der vier Grundkräfte wäre, falls sie eines Tages experimentell verifiziert wird, eine bewundernswerte Leistung – sie wird allerdings weit von der Weltformel, der Wahrheit des Universums, entfernt sein«, sagt der theoretische Physiker Demetris Nicolaides am Bloomfield College und Autor des Buchs »In Search of a Theory of Everything: The Philosophy behind Physics«. Aber hey, man kann es ja versuchen.
Die Wissenschaftler haben guten Grund zu glauben, dass sie eine Theorie finden können, die zumindest ihr begrenztes »Alles« beschreibt. Immerhin hat es bereits gewisse Vereinheitlichungen gegeben: Der Physiker James Clerk Maxwell brachte vor mehr als 100 Jahren Licht, Elektrizität und Magnetismus zusammen, indem er sie als einzelne Merkmale der größeren Kraft des Elektromagnetismus definierte.
Die schwache Wechselwirkung war das Nächste, das sich der Kraftfamilie anschloss, nachdem Wissenschaftler Hochenergie-Teilchenbeschleuniger entwickelt hatten. In diesen Geräten können Teilchen fast mit Lichtgeschwindigkeit zusammenstoßen. »Damit lässt sich das Universum bei höheren Energien erforschen, was einem früheren Zeitpunkt im Kosmos entspricht«, sagt Freese. Je höher die Energie einer Kollision ist, desto eher kann sie die extrem heißen und dichten Bedingungen nachbilden, die in den ersten Momenten nach dem Urknall geherrscht haben. Wenn Physikerinnen und Physiker mit Teilchenbeschleunigern solche Zustände des »jungen Kosmos« erzeugen, sehen sie, dass der Elektromagnetismus und die schwache Wechselwirkung als eine einzige Kraft wirken - die elektroschwache Wechselwirkung –, was darauf hindeutet, dass diese beiden Kräfte im frühen Universum eins waren.
Es wird vermutet, dass sich die starke Wechselwirkung zu ihnen gesellen würde, wenn Teilchenbeschleuniger genügend hohe Energien erreichen könnten, um das noch heißere, noch jüngere Universum zu simulieren. Zu unseren Lebzeiten werde sich die Technologie aber höchstwahrscheinlich nicht schnell genug weiterentwickeln, um das zu erreichen, sagt Freese.
Unerklärliche Schwerkraft
Die letzte (und schwächste) Kraft, die Schwerkraft, mit den drei übrigen zu verbinden, ist eine viel schwierigere Aufgabe: Forschende konnten zeigen, dass der Elektromagnetismus sowie die starke und die schwache Wechselwirkung im Wesentlichen den seltsamen, jedoch berechenbaren Regeln der Quantenphysik folgen. Die Schwerkraft beschreibt hingegen Einsteins allgemeine Relativitätstheorie, die das Universum auf größeren Maßstäben betrifft. Die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie widersprechen sich an manchen Stellen. Erstere stellt fest, dass auf kleinen Skalen fast alles in kleinen Häppchen (Quanten) vorkommt, während die allgemeine Relativitätstheorie davon ausgeht, dass der Kosmos selbst in kleinsten Maßstäben kontinuierlich ist.
»Die größte Herausforderung bei der Suche nach einer Weltformel besteht darin, eine Quantenversion der Gravitation zu finden. Das heißt, die Regeln der Quantentheorie mit den Regeln von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie zu kombinieren – oder völlig neue Regeln zu finden«, sagt Nicolaides. Ohne eine Theorie der Quantengravitation wird sich die Gravitation wohl nicht mit den anderen drei Kräften verbinden lassen.
Aber theoretische Physiker haben inzwischen einige spekulative Ideen entwickelt. Eine davon nennt sich Schleifenquantengravitation. Sie geht davon aus, dass der Raum aus winzigen, unteilbaren Teilen besteht. Nach dieser Theorie ließe sich die Raumzeit selbst quantisieren, was es ermöglichen würde, das Verhalten unseres Kosmos durch eine quantenmechanische Betrachtung zu verstehen.
Eine oder doch besser viele Theorien?
Und dann gibt es noch die Stringtheorie, der zufolge das Universum aus unvorstellbar kleinen, vibrierenden Fäden besteht. In den aktuellen Versionen sind dafür allerdings mindestens zehn Raumdimensionen nötig, von denen sieben so klein aufgerollt wären, dass wir nur drei wahrnehmen. In dieser Theorie würden die vibrierenden Fäden Gravitonen erzeugen, winzige quantenmechanische Teilchen, welche die Gravitationskraft übertragen. »Die Stringtheorie hat in den 1980er Jahren große Hoffnungen geweckt«, sagt Carlo Rovelli, ein prominenter Verfechter der Schleifenquantengravitation von der Université d'Aix-Marseille. Seiner Meinung nach ist die Stringtheorie kein geeigneter Kandidat für die Weltformel, da sie nicht die beste Erfolgsbilanz aufweist. »Sie hat nach einem halben Jahrhundert noch nichts geliefert«, stellt Rovelli fest. (Fairerweise muss man sagen, dass die Schleifenquantengravitation auch nicht gerade viele Ergebnisse hervorgebracht hat.)
»›Alles‹ ist viel zu viel. Die Welt ist komplex, und es ist besser, sich ihr mit mehreren theoretischen Instrumenten zu nähern«Carlo Rovelli, Verfechter der Schleifenquantengravitation
Obwohl Rovelli an der Quantengravitation arbeitet, hält er die Suche nach einer Weltformel für aussichtslos. »Es gibt viele offene Fragen, die wir nicht beantworten können. Ich denke, es ist realistischer zu versuchen, sie nach und nach zu lösen, als eine einzige Theorie für Alles zu entwickeln«, sagt er. »Außerdem ist ›alles‹ viel zu viel. Die Welt ist komplex, und es ist besser, sich ihr mit einer Vielzahl von theoretischen Instrumenten zu nähern.«
Nicolaides und andere vertreten auch die eher pessimistische Ansicht, dass es zwar irgendwo da draußen eine Weltformel geben könnte – eine noch umfassendere als nach der physikalischen Definition –, der Mensch sie aber vielleicht nie finden wird. Und selbst wenn wir sie fänden, wäre »alles« immer noch nicht wirklich alles. »Wir könnten, zumindest im Prinzip, die Ursache aller Phänomene kennen, bis auf eines«, sagt er. »Die interessantesten Phänomene könnten wir weder kennen noch erklären: Warum gibt es etwas und nicht nichts, warum gibt es überhaupt eine Natur oder warum gibt es diese Natur mit diesen Gesetzen? Die Wissenschaft kann diese Fragen nicht beantworten.«
Würde eine Weltformel überhaupt etwas verändern?
Forscher und Forscherinnen werden zweifellos weiterhin versuchen, sich einer Vereinheitlichung zu nähern. »Der Ansatz, den Physiker für das Universum gewählt haben, lautet: vereinfachen, vereinfachen, vereinfachen«, sagt Freese. »Wenn man sich da draußen umschaut und sieht, dass ›der Wind dies tut‹ und ›der Stuhl das macht‹, und man das alles mit einer einzigen Gleichung beschreiben kann, dann hat man schon etwas erreicht. Damit lassen sich Vorhersagen treffen, was alles andere tun wird.« Das hat zu vielen großen Fortschritten in der Geschichte geführt.
Sollten Physiker jemals eine Weltformel finden, könnten die daraus resultierenden Fortschritte vielleicht den Lauf der Menschheitsgeschichte tief greifend verändern. Vielleicht aber auch nicht: Vielleicht würde eine Weltformel nur bahnbrechende Erkenntnisse für die Bereiche bieten, die so weit von der menschlichen Erfahrung entfernt sind, dass sie für das tägliche Leben keine Rolle spielen. Freese jedenfalls bleibt optimistisch: »Eine Weltformel würde die Dinge so verändern, wie es große grundlegende Fortschritte immer tun«, sagt sie. »Man weiß nicht, wie die Veränderungen aussehen könnten, bis man am Ziel ist« – und das ist natürlich etwas, was die Physik nicht vorhersagen kann.
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