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Kognitionsforschung: Wenn das Stammhirn die Lösung erblickt

Evolutionär alte Hirnstrukturen steuern bei allen Wirbeltieren die Kopf- und Augenbewegungen. Überraschenderweise wirken sie auch an »höheren« Denkvorgängen mit.
Ein Schulkind schaut nachdenklich nach oben
Warum schauen wir beim Nachdenken oft nach oben? Vielleicht, weil eine für die Blicksteuerung wichtige Hirnregion auch bei Entscheidungsprozessen mitmischt.

Stammesgeschichtlich alte Strukturen im Hirnstamm beteiligen sich offenbar an Entscheidungs- und Denkvorgängen, wie ein Team um den Neurobiologen David J. Freedman von der University of Chicago herausgefunden hat. Das ist verblüffend, weil üblicherweise die Großhirnrinde als »Sitz des Denkens« gilt.

Die Colliculi superiores (die »oberen Hügelchen«) im Hirnstamm ermöglichen es Wirbeltieren, sich im Raum zu orientieren, indem sie die Augen- und Kopfbewegungen steuern. Freedman und sein Team haben jetzt festgestellt, dass die Hirnbereiche noch weitere Funktionen ausüben. Die Fachleute überwachten bei Makaken die neuronale Aktivität in den Colliculi superiores sowie in einem Teil der Großhirnrinde, dem posterioren parietalen Kortex, während die Tiere entscheiden mussten, ob ein wanderndes Punktmuster zu einem Set an definierten Bewegungsrichtungen gehört.

In der monatelangen Trainingsphase hatten die Forscher die Affen immer wieder mit Fruchtsaft belohnt, sobald sie ein Muster per Tastendruck der richtigen Bewegungskategorie zuordneten. Den Kopf zu wenden, war den Tieren während der Messungen nicht möglich, und die Reize wurden so präsentiert, dass die Äffchen sie starr fixieren mussten. Kleinste Augenbewegungen standen laut den Autoren nicht mit der kognitiven Aufgabenlösung im Zusammenhang. Auf Grund ihres Versuchsdesigns konnten die Experten vielmehr jene Aktivität in den Colliculi superiores herausfiltern, die offenbar allein mit dem Kategorisieren zusammenhing. Als sie die Hirnregion chemisch lahmlegten, ließ auch das Vermögen der Makaken, die Bilder richtig einzuordnen, dramatisch nach und erholte sich erst wieder, als die betäubende Wirkung nachließ. »Selbst bei Aufgaben, bei denen die Tiere ihre Augen nicht bewegen und ihre Aufmerksamkeit nicht auf verschiedene Orte richten müssen, ist der Colliculus superior an diesen komplexeren kognitiven Verhaltensweisen beteiligt«, sagt Freedman.

Früher hatte man die Colliculi superiores nur mit einfacher visueller Orientierung und reflexhaften motorischen Funktionen in Verbindung gebracht. Wenn es darum geht, visuelle Information richtig einzuordnen, hatte sich dagegen der hintere Teil des Scheitellappens hervorgetan. Die neuen Erkenntnisse sprechen dafür, dass das Stammhirn hier gewissermaßen mitdenkt. Ob Fische, Reptilien oder Säuger – sie alle müssen, um zu überleben, Objekte in ihrem Sichtfeld schnell einschätzen können: Ist das da vorn ein Hindernis, ein Raubtier oder eine leckere Beute? Die Colliculi superiores ermöglichen nicht nur, Kopf und Augen und damit die Aufmerksamkeit entsprechend auszurichten, sondern mischen anscheinend auch bei anspruchsvolleren visuellen Entscheidungsprozessen mit. Möglicherweise spielen sie bei Vögeln während visuell getriebener Denkvorgängen eine noch bedeutendere Rolle. Bei ihnen ist dieser Teil des Hirnstamms nämlich besonders gut ausgebildet.

Vielleicht verleihe die Aktivierung uns beim Problemlösen erst richtig »Schwung«, so die Spekulation. Tatsächlich nutzen Menschen oft unwillkürlich Augenbewegungen und Handgesten, wenn sie versuchen, sich an etwas zu erinnern oder wenn sie sich zwischen Alternativen entscheiden wollen. Wird man etwa gefragt, was es gestern zum Abendessen gab, schweift der Blick oft unwillkürlich nach oben, als ob die Antwort an der Decke stehen würde. Das könnte daran liegen, dass beim Überlegen die Colliculi superiores rekrutiert werden, vermutet auch die Erstautorin Barbara Peysakhovich von der Harvard University.

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  • Quellen
Nature Neuroscience, 10.1038/s41593–024–01744-x, 2024

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