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Insektenschwund: »Wenn die Bestäuber ausfallen, haben wir ein enormes Problem«

Weltweit sterben Insekten. Schnell. Und in großer Zahl. Das Ausmaß werde unterschätzt, sagt der Ökologe Thomas Fartmann im Interview. Der Schwund sei auch für Menschen bedrohlich.
Insekten schwinden in größerer Zahl, als vielen Menschen bewusst ist.

»Die Zahl der bedrohten und bereits ausgestorbenen Arten wird in einem bestürzenden Ausmaß unterschätzt«, schreiben Forscher im Magazin »Biological Conservation«. Seit Beginn der Industrialisierung seien bislang bereits 250 000 bis 500 000 Insektenarten ausgestorben. Das sind fünf bis zehn Prozent aller Insektenspezies. Und auch die in der internationalen Roten Liste enthaltene Zahl von rund 8400 bedrohten Insektenarten sei zwangsläufig viel zu niedrig, weil diese sich nur auf die bekannten Arten beziehen könne. Wahrscheinlich seien aber etwa 80 Prozent aller Insektenarten überhaupt noch nicht bekannt.

Die explizite Warnung: Der Schwund sei nicht nur eine Gefahr für die Natur, er könne auch für Menschen bedrohlich werden, wenn nicht rasch und entschieden gegengesteuert werde.

Wir sprachen mit einem der Koautoren der Studie, Thomas Fartmann. Der Ökologe und Biogeograf leitet die Abteilung für Biodiversität und Landschaftsökologie an der Universität Osnabrück.

RiffReporter: »Viele Insektenarten sterben aus, ohne dass sie zuvor überhaupt von der Wissenschaft beschrieben wurden«, heißt es in Ihrem Aufsatz. Gilt das auch für Europa oder Deutschland?

Thomas Fartmann: Wie bei vielen Tier- und Pflanzenarten wissen wir natürlich im dicht besiedelten und reichen Europa mehr über unsere Insekten als beispielsweise in den Tropen. Aber wir wissen natürlich längst nicht alles, und selbst in Europa werden regelmäßig neue Arten entdeckt und beschrieben. Und es können auch hier Arten aussterben, bevor wir überhaupt mitbekommen haben, dass es sie gab. Die großen Zahlen unbekannter Insekten finden wir aber vor allem in den Tropen.

Thomas Fartmann | Der Ökologe und Biogeograf leitet die Abteilung für Biodiversität und Landschaftsökologie an der Universität Osnabrück. Er ist Koautor des Aufrufs internationaler Wissenschaftler für mehr Insektenschutz.
»Wir haben genügend Erkenntnisse, um zu wissen, dass sich sehr rasch etwas ändern muss«
Thomas Fartmann, Ökologe

Sie stellen Ihren Appell explizit in die Tradition zweier vorangegangener »Warnungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an die Menschheit« von 1992 und 2017. Darin hatten Forscher davor gewarnt, dass Klimawandel und Artenschwund die Ökosysteme in einem Maß überlasteten, dass sie nicht mehr ausgleichen könnten. In ihrer jetzt veröffentlichten dritten Warnung verzichten Sie aber darauf, eine möglichst große Zahl von Kollegen und Kolleginnen hinter dem Aufruf zu versammeln. Warum das, und wie kam es zu dem Projekt?

Treibende Kraft dahinter waren meine Kollegen Michael Samways von der Stellenbosch University in Südafrika und Pedro Cardoso vom Finnischen Naturkundemuseum. Sie haben die Initiative ergriffen und die Kollegen und Kolleginnen kontaktiert, die sich weltweit mit Insekten beschäftigen, sozusagen einen harten Kern von Leuten zusammengetrommelt, die vor allem auch naturschutzbezogene Forschung betreiben. Es wurde auch diskutiert, ob wir wieder versuchen sollten, möglichst viele Leute unterzeichnen zu lassen. Es war dann aber so, dass wir zu dem Schluss kamen, dass wir als Forscher von allen Kontinenten, die seit Jahren und Jahrzehnten auf dem Gebiet des Insektenschutzes aktiv sind, genügend Wissen haben, um als vergleichsweise kleine und schlagkräftige Truppe die Initiative zu ergreifen. Natürlich erhöht eine große Zahl von Unterzeichnern noch einmal die Aufmerksamkeit. Aber die Dringlichkeit unseres Anliegens hat auch eine Rolle gespielt. Es war klar, dass schleunigst etwas passieren muss. Denn: Wir wissen zwar noch sehr vieles nicht über Insekten. Aber wir haben genügend Erkenntnisse, um zu wissen, dass sich sehr rasch etwas ändern muss.

»Großflächige Monokulturen, die mit Chemikalien behandelt werden, sind unüberwindbare Hindernisse für Tagfalter«
Thomas Fartmann, Ökologe

Übergreifende Aussagen zu Bestandsentwicklungen sind bei Insekten sehr schwierig, weil es sehr viele verschiedene Ordnungen und Arten gibt und weil die Tiere winzig und oft schwer nachweisbar sind. Die Schätzungen der Zahl der ausgestorbenen Arten in Ihrer Publikation etwa beruhen auf einer Untersuchung an Landschnecken, was den Vorteil hat, dass ein Teil dieser Schnecken Gehäuse hat, die man auch noch lange nach dem Verschwinden einer Art nachweisen kann. Sie selbst beschäftigen sich viel mit Tagfaltern als Indikatoren für den Zustand eines Lebensraums. Was macht Tagfalter so geeignet?

Tagfalter haben eine ganz wichtige Bedeutung, weil sie nicht nur Indikatoren für die Qualität einer Einzelfläche sind, sondern weil wir an ihnen auch ablesen können, wie es um den ökologischen Zusammenhang eines größeren Gebietes bestellt ist. Sie verfügen nämlich über eine gewisse Mobilität und wandern in der Landschaft umher, und sie sagen uns damit etwas über die Qualität der Landschaftsstruktur und der Vernetzung einzelner Lebensräume. Tagfalter sind zwar mobil, aber nur in begrenztem Maß. Deshalb ist es entscheidend, dass die einzelnen Lebensräume nicht zu weit auseinanderliegen.

Und wie ist es um Tagfalter bestellt, sprich: Was können wir über die ökologische Qualität vieler unserer Landschaften lernen?

Der Populationstrend ist bei vielen Tagfalterarten sehr schlecht. Es gibt zwar einige Wärme liebende Arten, die vom Klimawandel profitieren. Aber vor allem Arten, die eine stärkere Spezialisierung aufweisen und eine geringere Mobilität haben, zählen eigentlich durch die Bank zu den Verlierern der aktuellen Entwicklung unserer Landschaft. Da spielt die Fragmentierung der Landschaft eine entscheidende Rolle. Wenn zwischen zwei geeigneten Lebensräumen fünf Kilometer Intensivlandwirtschaft mit hohem Pestizideinsatz liegen, dann können die Tiere diese Barriere einfach nicht überwinden.

»Die Fragmentierung der Landschaft ist ein großes Problem für Insekten, aber auch für andere Tiergruppen«
Thomas Fartmann, Ökologe

Und das Problem wird durch den Klimawandel noch verstärkt?

Ja, die als Folge des Klimawandels häufigeren klimatischen Extremereignisse, wie wir sie etwa in den vergangenen beiden Jahren hatten, haben vielerorts zu einem großflächigen Vertrocknen der Wirtspflanzen geführt. Das heißt, dass dann auf bestimmten Flächen in einem Jahr keine Reproduktion stattfinden kann. Die Art stirbt dort also aus. Und das Ganze passiert in einer stark fragmentierten Landschaft, in der die nächsten geeigneten Habitate kilometerweit entfernt sind. In so einem Fall ist die Wahrscheinlichkeit einer Wiederbesiedlung, wenn sich die Bedingungen dort wieder normalisieren, extrem gering. Die Fragmentierung der Landschaft ist ein großes Problem für Insekten, aber auch für andere Tiergruppen.

Lycaena virgaureae

Ein einzelnes klimatisches Extremereignis wie große Hitze und Trockenheit kann also Folgen lange über das betroffene Jahr hinaus haben?

Ganz fatale Folgen, weil ganze Landstriche auf diese Weise geräumt werden können. An einen gleichmäßigen Temperaturanstieg können viele Organismen sich anpassen, wenn er nicht zu extrem ist. Wir kennen das von Vogelarten, die früher in die Brutgebiete zurückkehren. Auch Insekten können in gewissen Grenzen gleichsam langsam der Verschiebung der Temperatur hinterherwandern. Wenn wir aber Extremereignisse haben, die schlagartig und immer häufiger kommen, bleibt vielen Arten keine Chance, zu reagieren und sie sterben lokal aus. Und weil wir die Fragmentierung der Landschaft haben, schaffen sie es auch Jahre danach häufig nicht, wieder zurückzukommen, weil sie dazu Landschaftsbestandteile überqueren müssten, die extrem lebensfeindlich sind.

Mit einem eindringlichen Appell für mehr Anstrengungen zum weltweiten Insektenschutz meldet sich eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu Wort. »Warnung von Wissenschaftlern an die Menschheit vor dem Aussterben der Insekten« haben die 25 auf ihrem Fachgebiet weltweit führenden Biologen und Insektenforscher aus sechs Kontinenten ihre Bestandsaufnahme zum globalen Zustand von Schmetterlingen, Ameisen, Käfern und Co. überschrieben.

Die Kernaussage ihrer im Fachjournal »Biological Conservation« veröffentlichten Analyse lautet: Das Insektensterben hat ein weitaus größeres Ausmaß als öffentlich wahrgenommen, und die dadurch verursachte Gefährdung grundlegender ökologischer Funktionen auf dem Planeten könne auch für Menschen bedrohlich werden, wenn nicht rasch und entschieden gegengesteuert werde.

Sie schreiben, dass die Insektenkrise eine Schlüsselfrage dafür sei, das Leben künftiger Generationen zu erhalten oder lebenswert zu erhalten. Warum?

Es gibt ungezählte unersetzliche Aufgaben, die Insekten für die Ökosysteme und damit auch für uns Menschen übernehmen. Die sicher bekannteste dieser so genannten Ökosystemdienstleistungen ist die der Bestäubung. Wenn die Bestäuber ausfallen, haben wir ein enormes Problem. Der Weltbiodiversitätsrat beziffert den wirtschaftlichen Wert der Bestäubung weltweit auf 200 bis 600 Milliarden Euro pro Jahr. Für Deutschland wird ein volkswirtschaftlicher Gegenwert von 1,6 Milliarden Euro geschätzt. Es gibt zahlreiche weitere dieser Dienstleistungen von Insekten, beispielsweise im medizinischen Bereich.

Aber wir sollten auch nicht vergessen, dass jedes Insekt, ebenso wie jedes andere Tier oder jede andere Pflanze aus sich allein heraus einen Wert besitzt als Ergebnis langer evolutionärer Prozesse und somit Schutz verdient.

Aus Ihrem Artikel lerne ich, dass wir viele Beiträge von Insekten für das Funktionieren des Lebens auf unserem Planeten noch nicht einmal kennen.

Es gibt beispielsweise das noch junge Feld der Forschung über so genannte Ökosystemingenieure. Das sind Arten, die ihre Umwelt physisch verändern. Klassisches Beispiel ist der Biber, der Bäume fällt, damit Gewässer anstaut und neue Lebensräume schafft. Aber auch der Maulwurf ist ein Ökosystemingenieur, der einen wichtigen Beitrag für viele Insekten leistet. Wir haben in Studien zeigen können, wie wichtig Maulwurfshaufen für Insekten sind. Die aufgeworfene dunkle Erde erwärmt sich leichter als die Umgebung und schafft ein anderes Mikroklima. Deshalb sind die Haufen ein bevorzugter Platz zur Eiablage einiger Tagfalter. In unserer industrialisierten Landschaft sind solche Stellen besonders wichtig. Weiteres Beispiel ist die Gelbe Wiesenameise, die Nesthaufen anlegt, damit die Sonne beim Ausbrüten hilft. Das ist aber nicht nur für die Ameise gut. Auf den Haufen können konkurrenzschwache Pflanzen keimen, die sonst keine Chance hätten. Auch bestimmte Heuschrecken- und Falterarten bevorzugen diese von den Ameisen geschaffenen Plätze für die Eiablage. Das sind wenige Beispiele und wir sollten nicht glauben, dass wir schon alles über die Ökosystemdienstleistungen wüssten. Die Zusammenhänge sind hochkomplex und wir kennen nur einen Bruchteil davon.

»Kinder sollten mehr mit der Natur in Kontakt gebracht werden, damit sie erleben, wie faszinierend Tiere und Pflanzen sind«Thomas Fartmann, Ökologe

Wenn Sie eine Rangfolge aufstellen sollten zu den Bedrohungen für Insekten: Was rangiert wo unter den meist genannten Faktoren: invasive Arten, Klimawandel, Landwirtschaft …

An erster Stelle steht mit Abstand das Thema Landnutzung mit allem, was dazugehört: Lebensraumzerstörung, abnehmende Habitatqualität, Fragmentierung, Aufgabe der Nutzung von Flächen und zu intensive Nutzung mit viel Chemieeinsatz. All das gehört in die Kategorie Landnutzungswandel und steht eindeutig an erster Stelle. Dann hat der Klimawandel bereits jetzt ein starkes Gewicht und dieses wird zunehmen. Gerade Extremereignisse werden eine entscheidende Rolle spielen, weniger die schrittweise Erhöhung der absoluten Temperaturen. Ein sehr großes Problem ist zudem der enorme Stickstoffeintrag vor allem durch die Landwirtschaft, den wir mittlerweile nicht nur auf Äckern, sondern über Gasbildung und anschließendes Abregnen flächendeckend in der Landschaft haben, selbst im tiefsten Wald. Invasive Arten spielen hier zu Lande bislang keine bedeutende Rolle.

Insekten haben nicht das beste Image. Sie krabbeln und können oft stechen, und manche Menschen ekeln sich sogar vor ihnen. Wie wichtig wäre ein Wandel hier?

In Mitteleuropa haben wir uns sehr stark von der Natur entfernt. Früher haben mehr Menschen auf dem Land gelebt und waren ständig in Berührung mit Tieren. Die starke Entfremdung führt auch dazu, dass es nur wenig Verständnis für ökologische Zusammenhänge gibt. Wenn bestimmte Insektenarten in einem Jahr mal gehäuft auftreten, gibt es gleich Panik. Vieles ist sehr irrational. Vor allem Kinder sollten mehr mit der Natur in Kontakt gebracht werden, damit sie erleben können, wie faszinierend Tiere und Pflanzen sind. Kindheit und Jugend sind die prägende Phase. Wer ein guter Musiker werden will, fängt besser auch nicht erst mit 30 oder 40 an, ein Instrument zu spielen.

Der Text ist ursprünglich auf »riffreporter.de« unter dem Titel »Wir wissen, dass wir handeln müssen« erschienen und wurde für »Spektrum.de« angepasst.

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