News: Wenn die Nacht zum Tag wird
Um mehr über diese Krankheit herauszufinden, verfolgten Helene De Leersnyder und ihre Kollegen vom Necker Hôpital in Paris die täglichen Aktivitäten von zwanzig Kindern im Alter von vier bis 17 Jahren mit Smith-Magenis-Syndrom. Jedes Kind trug einen kleinen Monitor am Handgelenk, der Bewegungen aufzeichnete. Außerdem wurden die Eltern gebeten, genau zu protokollieren, wann die Kinder ein Nickerchen machten, ins Bett gingen und aufwachten.
Die dabei aufgedeckten Muster erinnern an einen permanenten Jet-lag. Obwohl die Kinder jeden Tag mehrmals kleine Schläfchen machten, waren sie alle um neun Uhr abends bettreif und wachten dafür morgens noch vor der Dämmerung wieder auf. Viele konnten bereits am frühen Abend kaum noch die Augen offenhalten, erzählt De Leersnyder. "Manchmal schliefen sie während des Abendessens mit vollem Mund ein."
Die Wissenschaftler beobachteten acht der Kinder über 24 Stunden hinweg genauer. Dabei zeichneten sie deren Melatoninwerte auf, da diese Verbindung als das wichtigste müdigkeitsauslösende Hormon gilt. Normalerweise steigen die Melatoningehalte ab neun Uhr abends an, bis sie um Mitternacht den höchsten Wert erreichen. Danach sinken sie kontinuierlich bis zum Morgengrauen ab. Bei den Kindern stieg der Melatoninspiegel jedoch im Laufe des Vormittags an und erreichte mittags sein Maximum. "Das Kind kämpft den ganzen Tag gegen den Schlaf", erklärt De Leersnyder. "Ich denke, daß dieser Kampf auch die Hyperaktivität verursacht."
Die Forscher vermuteten, daß durch den genetischen Defekt den Kindern womöglich das per1-Gen der inneren Uhr fehlt, da dieses sich irgendwo auf dem Chromosom 17 befindet. Die Aktivität dieses Gens unterliegt einem Tagesrhythmus innerhalb der übergeordneten Uhr des Gehirns, des suprachiasmatischen Kerns (SCN). Der wiederum reagiert auf Lichtsignale aus der Umwelt, die auf die Retina gelangen, und unterstützt die Kontrolle des Pinealorgans, in dem das Melatonin hergestellt wird.
Wie die Wissenschaftler herausfanden, liegt per1 allerdings neben dem abgebrochenen Stück des Chromosoms und ist damit eigentlich vorhanden. Mike Young von der Rockefeller University in New York meint aber, daß es trotzdem davon betroffen sein könnte. Seiner Ansicht nach könnte eine direkt benachbarte Deletion zu Veränderungen in der Expression von per1 führen, was auch den Aktivitätszyklus stören könnte. "Eine Fehlexpression kann die Dinge wirklich völlig in Unordnung bringen", erklärt er.
De Leersnyder fügt noch hinzu, daß die anderen Symptome des Smith-Magenis-Syndroms, wie zum Beispiel die Lernschwierigkeiten, wahrscheinlich nicht damit zusammenhängen. Sie werden vielleicht durch den Verlust anderer Gene hervorgerufen, die nicht mit der inneren Uhr in Verbindung stehen.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 27.7.1999
"Ein weiteres Zahnrädchen im inneren Uhrwerk" - Spektrum der Wissenschaft 7/97, Seite 58
"Das Pinealorgan und sein Hormon Melatonin"
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